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01. Nov. 2013

Ein Koffer voller Werkzeuge

Ein Blick in die Zukunft der europäischen Migrationsdebatte

Unser Autor träumt davon, dass die Diskussionen über Einwanderung in Europa 2014 eine unerwartete Wendung nehmen werden. Gegen einen wachsenden Populismus setzt sich die Einsicht durch, dass die EU ein neues, attraktives Einwanderungsregime braucht, will sie in der Welt bestehen. Skizze einer zukünftigen politischen Debatte.

Diskussionen über die Einwanderungspolitik der EU sind seit jeher sehr technische Angelegenheiten. Da geht es um „Ersatzmigration“, die schrumpfende Gesellschaften auffüllen könnte, um einen europäischen Arbeitsmarkt, der die hellsten Köpfe aus dem Ausland anziehen müsste und um gesteigerte Mobilität, die zu einer „Optimierung des Währungsbereichs“ – also der Euro-Zone – führen sollte. Früher oder später wird die Diskussion zwangsläufig darin enden, dass politische Entscheidungsträger die Frage aufwerfen, welches Migrationssystem Europa angesichts einer sich neu formierenden globalen Weltordnung wohl am besten zu Gesicht stehe.

Die folgenden Zeilen malen eine Zukunft aus, in der traditionelle Ideen aus dem Feld der internationalen Beziehungen auf das Thema Migration angewandt werden. Eine Zeit, in der durch die Konzepte des Neomerkantilismus, Neoterritorialismus und Neoregionalismus endlich ein verstärkter Mobilitätsgedanke Einzug in die Sphäre der höheren ­Politik hält.

Es begann 2014 in Brüssel

Es ist lehrreich, einen Blick zurück in die Zukunft zu wagen, um herauszufinden, wie alles begann. Der Anfang? Wahrscheinlich jene Debatte, die 2014 in Brüssel aufkam: Es ging um die Frage, welches Migrationssystem die EU brauche, um sich für die Zukunft zu rüsten. Natürlich ist diese Diskussion nicht wirklich neu – die Zukunft genießt unter Brüssels Technokraten ja ohnehin einen sehr hohen Stellenwert. Mit nach vorne gerichteten Gedanken kann man den kurzsichtigen Kollegen aus der Politik seine Überlegenheit demonstrieren.

Aber zurück zu der angesprochenen Debatte. Diese entpuppte sich eben nicht als die übliche technokratische Diskussion über abgegriffene Themen wie den desolaten Zustand der europäischen Demografie oder die Notwendigkeit von Ersatzmigration. Besser gesagt: Sie entpuppte sich als eben so eine Diskussion, griff diesmal aber viel weiter. Aus einer provinziellen Debatte über das Verhältnis zwischen einem nachhaltigen Sozialsystem und dem Prinzip der Freizügigkeit entwickelten sich strategische Fragestellungen. Regierungen machten sich plötzlich wirklich Gedanken darüber, welches Migrationssystem am besten zu Europa passen würde.

Es ist schwer zu sagen, was letztendlich zur Öffnung dieser eher selbstbezogenen Debatte geführt hat; womöglich war es eine Überschneidung mehrerer Faktoren. Globalen Umfragen zufolge ist Europa aus der Liste der beliebtesten Migrationsziele herausgefallen. Rivalisierende regionale Grenzsysteme reagieren mit Protektionismus, als die Mitglieder der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit eine Kooperation mit Staaten des neo-osmanischen und russisch-eurasischen Raumes beginnen. Die BRICS-Staaten führen eine 90-tägige Befreiung von der Visapflicht und ein kulturelles Austauschprogramm ein. Die syrische Regierung droht den Staaten mit einer Flüchtlingswelle, die sich auf die innenpolitische Lage auswirken würde. Moskau erklärt, dass es seine Exilbevölkerung einsetzen wird, um die Annäherung der EU an Osteuropa zu untergraben. Das schrittweise Herunterkühlen der transatlantischen Beziehungen wird auf den demografischen Wandel in den USA geschoben.

Grabenkämpfe vor der Europawahl

Das erste Zeichen des Wandels ist eine Neuformulierung progressiver Politik. Es geschieht unerwartet, denn populistische Parteien mit vormodernen Gesellschaftsvisionen sind auf dem Vormarsch: Ein ungesunder Mix aus der Erwerbsbeteiligung von Frauen, gesundheitspolitischen Durchbrüchen, sozialen Auffangnetzen und offenen Grenzen hätten Europa in eine bankrotte, überalterte und auf Migration angewiesene Gesellschaft verwandelt, murren sie und behaupten, dass es an der Zeit sei, die Uhren zurückzudrehen.

Und doch stellt sich in der Retro­spektive heraus, dass dies nur eine von vielen Runden in dem jahrzehntealten Tauziehen zwischen Politik und Gesellschaft ist. Die Populisten spielen sich als Erben der Physiokraten, der Malthusianer und der Sozialdarwinisten auf. Nationale Ressourcen seien begrenzt, sagen sie, und dass der Staat im Begriff sei zu scheitern. Es sei wohl am besten, die Bevölkerung ruhig zu stellen und die Verwässerung der Gesellschaft durch die Unterschichten und Zuwanderer zu verhindern.

Die Volksparteien hingegen entpuppen sich als Erben der Merkantilisten, der Utopisten und der Marxisten. Ihre Vertreter gehen damit hausieren, dass eine große, offene Gesellschaft für den internationalen Einfluss eines Landes und Europas wichtig sei. Und sie vertrauen darauf, dass der Staat die Mittel hat, solch eine Gesellschaft zu verwalten.

So entwickelt sich im Vorfeld der Europawahl 2014 ein neuer politischer Grabenkampf. Die verlogene Auseinandersetzung zwischen Links und Rechts, zwischen Wachstum und Sparpolitik, weicht einem fundamentaleren Streit. Anstatt sich mit oberflächlichen Debatten über den Wohlfahrtsstaat aufzuhalten, entbrennt eine kompromisslose Diskussion über die Wiederbelebung des Fortschrittsgedankens der Aufklärung. Veraltete progressive Ideen zu Migration werden auf den neuesten Stand gebracht.

So distanziert sich die Linke von ihrer früheren Politik des auf Migra­tion fußenden Wirtschaftswachstums. Schlecht bezahlte Zuwanderer fördern prekäre Arbeitsverhältnisse, die im Endeffekt wenig zur Wirtschaft beitragen; letztlich können diese Arbeitsplätze nur durch neue Einwanderungswellen besetzt werden, sagen sie. Die neue Migrationspolitik der Linken ist in vielerlei Hinsicht gar keine. Vielmehr geht es um die Stärkung des Wirtschaftswachstums, des sozialen Zusammenhalts und eine Reform der Sozialsysteme im Sinne der heimischen Bevölkerung.

Diese Reformen werden die Migration schon steuern.

Die Rechte konzentriert sich in der Zwischenzeit darauf, europäische Migranten zur Rückkehr zu bewegen. Man wird sich langsam bewusst, dass Europa an akutem Braindrain leidet. Infolgedessen verspricht Brüssel, ­Mobilitätspartnerschaften (wie es sie auch mit Moldau und Georgien gibt) mit den USA, Australien und Kanada zu schließen. Dies würde EU-Bürgern helfen, Zeit im hochentwickelten Ausland zu verbringen, bevor sie den Nachhauseweg antreten.

Für einige Mitgliedstaaten wie Großbritannien bedeutet das eine willkommene Schwächung der innereuropäischen Zuwanderung, da sie nicht länger als Sprungbrett für beliebtere Migrationsziele genutzt werden. Auch ein neuerliches Engagement für die europäische Politik des freien Personenverkehrs steht auf der Agenda der Rechten. Das liegt vornehmlich an ihrer Bereitschaft, wirtschaftliche Ungleichheiten in der EU zu akzeptieren. Im Einklang mit neuen technokratischen Taktiken, die Ungleichheiten in Dänemark, Großbritannien und den Niederlanden fördern, soll die Arbeitskräftemobilität soziale Kosten senken.

Doch die politische Rechte ist verunsichert – von der eigenen Agenda. Obwohl sich die Konservativen darüber im Klaren sind, dass Migranten eine unerschlossene Wählerschaft sein könnten, fühlen sie sich nicht ganz wohl mit ihrer Neuentdeckung der transnationalen Bevölkerung. Stimmen aus den USA, nach denen das europäische Grundprinzip die Aufhebung der Verbindung zwischen Regierung und Territorium und ihr Ziel die Transformation ihrer Mitgliedstaaten in Migrationsstaaten sei, verärgern die Rechten.1 Sie entgegnen, dass auch die Postterritorialität eine Art der Territorialität sei und sich das Kernproblem wie folgt definiere: Die Herausforderung für eine auf globaler Ebene selbstbewusst agierende EU ist es, Mobilität und Territorialität wieder in Einklang zu bringen. Erstaunlicherweise gelingt jedoch ausgerechnet einer sozialistischen Regierung in dieser Frage der Durchbruch: Anfang 2014 betreibt man in Paris Effekthascherei bei der Zuwanderung aus Mitteleuropa. Dann kommt die Überraschung: Einwanderer regen an, dass man Lehren aus ihren eigenen geschichtlichen Erfahrungen, der Diskrepanz zwischen nationaler und staatlicher Identität, ziehen könne.2 Noch überraschender ist es, dass jemand in Paris auf sie hört.

Eine Politik des „terroir“

Also bringen die Franzosen die Deutschen dazu, eine neue europäische Raumwahrnehmung, ein neues Gefühl der Vertrautheit zu sponsern – eine Politik des „terroir“ für ein neues Migrationszeitalter. Autobahnen, Zug­gleise und Flugrouten verschmelzen im geopolitischen Raum mit Öl-Pipelines, als Regierungen ihre Bevölkerung mit einer neuen europäischen Geografie innerhalb eines neuen europäischen Raummanagements vertraut machen. Ein bis zu diesem Zeitpunkt unbekannter niederländischer Designer macht sich einen Namen mit der „Ästhetik des europäischen Reisens“, die See- und Flughäfen zusammenbringt, um das neue europäische „System intelligenter Grenzen“ zu einer angenehmen Erfahrung für alle Beteiligten zu machen.

Vor dem Hintergrund dieses Wirbels um eine neue raumbezogene und ästhetische Art der Kommunikation ist niemand überrascht, als der polnische EU-Kommissar vorschlägt, eine gemeinsame visuelle Sprache innerhalb Europas einzuführen. Zu diesem Zweck wird ein Forschungszentrum in Bialystok gegründet. Die erstaunlich anwendungsorientierten Ergebnisse kurbeln den von Sprachbarrieren geplagten europäischen Arbeitsmarkt umgehend an und etablieren eine visuelle Umgangssprache der politischen Macht und des Symbolismus.
Als diesen hervorragenden Ideen allerdings ein Aufschrei aus der Bevölkerung entgegenschlägt, richten konservative Politiker ihre ganze Aufmerksamkeit auf einen vernachlässigten Teil der Gesellschaft – diejenigen, die sie abfällig die „abgeschnittene Bevölkerung“ nennen: die Immobilen. Unter Politikern, die Immigranten bis dahin entweder für arbeitslose Sozialstaatsschmarotzer oder hilflose Flüchtlinge hielten, reift langsam die Erkenntnis, dass es in Wirklichkeit die weniger mobilen Menschen sind, die sozioökonomischen Veränderungen zum Opfer fallen, und nicht ihre mobilen Gegenüber, die sich an eben diese Situationen angepasst haben.

Als populistische Parteien versuchen, sich bei den „Territorialverwurzelten“ anzubiedern, müssen die ­Konservativen handeln. Ein teures „virtuelles Mobilitätsprogramm“, basierend auf der neuesten Konferenztechnologie, wird aufgesetzt, ist jedoch nur bedingt erfolgreich. Arbeitgeber ziehen es vor, dass ihre Angestellten im Büro präsent sind, egal wie ausgereift die Technologie auch sein mag. Diese einfache Lösung erweist sich als Hindernis der europäischen Freizügigkeitsstrategie, deren bürokratischer Rattenschwanz die Schulabgänger und Geringqualifizierten offensichtlich abschreckt.

Der Nationalstaat ist nicht effektiv

Die plötzliche politische Präsenz der Themen Bevölkerung und Territorialität verunsichert wiederum die Liberalen – für sie gehört dieses Gerede ins 19. Jahrhundert. Warum überhaupt dieser ganze Aufwand einer Nationenbildung auf europäischer Ebene, fragen sie. Wenn eines klar ist, dann dass der Nationalstaat, unabhängig von seiner Größe, seine Effektivität auf der internationalen Bühne längst eingebüßt hat.

Der Schlüssel zur internationalen Politik ist der Interregionalismus, den die EU, das exemplarische und ursprünglichste regionale Gebilde, ja schon vorlebt – nicht zuletzt beim Thema Migration. Immerhin wurde das regionale EU-Migrationsregime entworfen, um die Bedürfnisse des Arbeitsmarkts zur Zeit des Kalten Krieges zu bedienen. Mit der europäischen Erweiterung expandierte es nach Mitteleuropa. Mittlerweile wirkt das Regime als Puffer gegenüber Osteuropa, während die EU sich mit den zweifelhaften Vorteilen der westlich geführten Globalisierung auseinandersetzt. Wie kann das Migrationsregime, das den EU-Mitgliedstaaten in der Vergangenheit half, mit globaler Bipolarität, Tripolarität und danach Unipolarität umzugehen, also an eine multipolare Weltordnung angepasst werden?

Die Liberalen befürworten – vergleichbar mit den neuen Handelsabkommen der EU – eine Reihe von bilateralen Migrationsabkommen mit anderen Großmächten und Regionen. Die eigentliche Lösung geht aber über die „TTIP-ifizierung der Migration“ hinaus. Als Antwort auf die neue zwischen- und innerstaatliche Machtverteilung entwirft die EU subregionale Migrationssysteme, die urbane und ländliche Gegenden verbinden. Die entstehende Kette aus städtisch-ländlichen Ballungsgebieten bewältigt einerseits die Unstimmigkeiten zwischen Stadt- und Landgebieten beim Thema Migration und ist andererseits ein attraktives Angebot für nichteuropäische Migranten. Eine südländische, eine nordische und eine Visegrád-Gruppe haben ihre eigenen, relativ charakteristischen Arbeitsmarktbedürfnisse und nutzen ihre wirtschaftlichen, historischen, kulturellen und sprachlichen Hintergründe, um die besten nichteuropäischen Arbeiter für sich zu gewinnen.

Im Nachgang der Euro-Krise besitzen Europas Politiker nun einen ganzen Koffer voller Werkzeuge, um die „Ersatzmigration“ anzukurbeln, die EU in einen „optimierten Währungsbereich“ zu verwandeln und einen Binnenarbeitsmarkt zu schaffen.

Roderick Parkes leitet das EU-Programm des Polnischen Instituts für Internationale -Beziehungen (PISM) in Warschau.

  • 1Siehe zum Beispiel James F. Hollifield: Ten years on: has the European migration state finally emerged?, International Migration Review, 3/2014, S. 885–912.
  • 2George Schopflin: Nationhood and state legitimation in the European Union, Nations and Nationalism, 1/2014, S. 81–91.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2013, S. 62-66

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