Ein antiamerikanisches Jahrhundert?
Buchkritik
Die Ära Bush hat das Vertrauen der Europäer in Amerika nachhaltig beschädigt. Doch wie tief sitzt die Abneigung? Was ist platte Amerika-Schelte und was ernst zu nehmende Kritik an der politischen Führung des Landes? Und wird ein möglicher Regierungswechsel hin zu Barack Obama die transatlantische Beziehungskrise wieder beenden?
Antiamerikanismus ist schwer zu messen. Seit Jahrzehnten kämpfen Sozialwissenschaftler mit dem Problem, zwischen einer auf Stereotypen basierenden Abneigung gegen das Land und seine Bevölkerung und der legitimen, kritischen Auseinandersetzung mit der US-Politik zu unterscheiden. Eine vereinfachende Abgrenzung zwischen Amerika-Bashing und rationaler Kritik leistet die Frage, ob abgelehnt wird, was Amerika ist oder was Amerika tut.
Die Wissenschaftler sind sich einig: Die negativen Gefühle der Europäer den USA sowie ihrer Politik gegenüber haben sich seit 2002 verstärkt. Offensichtlich brachte der 11. September – mit seinen verschiedenen Bewertungen und Reaktionen – brodelnde transatlantische Verstimmungen zum Überkochen. Eine Meinungsumfrage nach der anderen zeigte, wie das Vertrauen der Europäer in Amerika und ihre Unterstützung für die US-Außenpolitik schwand. Nur noch 36 Prozent der Europäer halten es für wünschenswert, dass die USA eine Führungsrolle in der Welt haben – ein Tiefpunkt seit dem Ende des Kalten Krieges. Noch niedriger ist die Zustimmung zur außenpolitischen Performance der Bush-Regierung: Dürftige 17 Prozent sprechen sich für sie aus.
Wie aussagekräftig sind diese Zahlen für den europäischen Antiamerikanismus? Sie zeigen, dass sowohl Bevölkerung als auch Eliten Washingtons Unilateralismus, gewaltsame Konfliktlösungen und die amerikanische Geringschätzung internationaler Abkommen scharf kritisieren. Europäer empfinden die amerikanischen Bestrebungen als destabilisierend und gefährlich. Der amerikanische Politologe Andrei S. Markovits kommt als einziger der hier besprochenen Autoren zu der klaren Überzeugung, dass eine unvergleichliche, wenn auch historisch nicht einzigartige Antiamerikanismus-Welle Europa überrollt. In seinem Buch „Uncouth Nation“ bezeichnet Markovits die europäische Feindseligkeit gegenüber „allem amerikanischen“ als ein „europaweites Ressentiment gegen Amerika, das weit über Politik, Institutionen und Regierung der USA hinausgeht“. Anstatt wie früher hinter vorgehaltener Hand geäußert zu werden, sei krasser Antiamerikanismus heute in Europa salonfähig. Dabei ist Markovits ein fortschrittlicher, respektierter Intellektueller, links von der Mitte stehend, der an der Universität von Michigan lehrt. Er unterstützte nicht den Irak-Krieg, im Gegensatz zu vielen, die die europäische Kritik an der US-Intervention als Antiamerikanismus auffassen.
Markovits erklärt die Veränderungen in den Meinungsumfragen damit, dass die umstrittene Außenpolitik der Bush-Regierung einen Amerika-Hass, der seit langem in Europa schwelte, lediglich zum Vorschein gebracht habe. Bevor „Amerika überhaupt eine Weltmacht, ja ein unabhängiger Staat war, kursierten bereits die gängigen Vorurteile über eine vulgäre, mittelmäßige und gekünstelte Kultur“.
Die europäische Abneigung gegenüber allem Amerikanischen habe die Sympathien stets überwogen, meint Markovits. An Beispielen aus dem 18. und 19. Jahrhundert zeigt er, wie Amerika immer wieder gescholten wurde, es sei ahistorisch, entwurzelt und unfähig, europäische Kultur und politische Strukturen zu übernehmen. Keine Geringeren als Hegel und Goethe zieht er dazu heran.
Die Rechten beschimpften laut Markovits die Neue Welt als einen modernen, materialistischen, hedonistischen und zu allem Überfluss von Juden regierten Staat. Für linke Antiamerikaner seien die USA eine imperialistische Macht – verbündet mit dem globalen Judentum, verkörpert durch das zionistische Israel.
Ganz falsch liegt Markovits mit seiner Analyse insofern nicht, als Antiamerikanismus in Europa durchaus lebendig ist. Als Amerikaner, der seit zwei Jahrzehnten in Europa lebt, sind mir immer wieder stereotype Amerika-Bilder begegnet, an denen Europäer gerne festhalten – auch die Gebildeten und Weltläufigen. Besonders weit verbreitet sind sie unter den Radikalen des rechten wie linken Randes, sowohl aus Ost- wie Westeuropa. Ich denke aber, dass Markovits sich hinsichtlich der Tragweite des Phänomens irrt. Verschiedene Studien belegen, dass der Europa inhärente „strukturelle Antiamerikanismus“ in Wirklichkeit recht unbedeutend ist: In Großbritannien, Italien, Deutschland und Frankreich bewegt er sich um die zehn Prozent, die nur in Zeiten transatlantischer Krisen deutlich überschritten werden.
Dennoch entdeckt Markovits Antiamerikanismus überall in Europa, nicht nur bei deutschen Sozialdemokraten, österreichischen Rechtsradikalen, englischen Literaten und Franzosen (tatsächlich sind laut Umfragen die Griechen am amerikafeindlichsten). Markovits weist auf die Doppeldeutigkeiten dieser Haltung hin: Die Reaktion des damaligen deutschen Kanzlers Gerhard Schröder auf den Irak-Krieg nimmt er als Beispiel, wie Europas Eliten in amerikafeindliche Haltungen verfielen, wenn sie ihnen nützten. Während des Wahlkampfs 2002 hatte Schröder sich tatsächlich zu platten populistischen Parolen hinreißen lassen.
Die ablehnende Haltung der deutschen Bevölkerung sowie der Eliten gegenüber dem Irak-Krieg gründete sich jedoch ursprünglich nicht auf eine antiamerikanische Haltung. Schließlich hatte Deutschland sich 1999 am NATO-geführten Krieg gegen Serbien beteiligt und nach dem 11. September den Angriff auf die Taliban und den Krieg gegen den Terrorismus unterstützt – mit breiter Zustimmung der Bevölkerung. Umfragen kurz nach dem 11. September zeigen eine große Solidarität mit den USA. Diese nahm allerdings in dem Maße ab, in dem die Uneinigkeit zwischen der Bush-Regierung und den Europäern über die Bekämpfung des Terrorismus sich verstärkte. Viele Deutsche sehen im militärischen Weg nur eine von vielen Handlungsmöglichkeiten im Kampf gegen den Terrorismus neben Diplomatie, Dialog mit der islamischen Welt, Demokratie- und Hilfsprogrammen sowie einem Friedensabkommen zwischen Israel und Palästina.
Letztlich ist Markovits‘ Ansatz, die europäische Kritik am Irak-Krieg mit Antiamerikanismus zu erklären, unpolitisch. Er vermischt platte Amerika-Schelte mit begründeter Kritik an der Bush-Regierung und beraubt somit letztere ihres politischen Inhalts. Damit spielt er den Neokonservativen in die Hände – nutzen doch die Befürworter des Irak-Kriegs und Verfechter der Bush-Politik eben diese Argumente. So diskreditieren sie jede Kritik an der US-Politik, egal ob es sich um Klimawandel, den Umgang mit den UN oder Menschenrechte in Guantánamo oder Abu Ghraib handelt. Markovits wird seinem eigenen Anspruch, Antiamerikanismus von sachlich divergierenden Meinungen zu unterscheiden, nicht gerecht.
Die hochinteressante Studie der amerikanischen Politologen Robert Keohane und Peter J. Katzenstein „Anti-Americanisms in World Politics“ belegt, dass negative Haltungen gegenüber den USA selbst zu ihren Hochzeiten keinerlei Einfluss auf die europäische Politik hatten und ebenso wenig auf Handel, Tourismus oder das Kaufverhalten. In verschiedenen Umfragen geben Europäer an, dass sie erstens wegen des Krieges im Irak und zweitens wegen George W. Bush das Vertrauen in die USA verloren hätten. Die Tatsache, dass Barack Obama große Sympathien genießt, unterstreicht, dass es sich um spezifische Kritik handelt und nicht um allgemeine Abneigung.
Historisch betrachtet war Europas Haltung Amerika gegenüber keineswegs immer einseitig negativ. In Aus Politik und Zeitgeschichte erörtert die Historikerin Jessica Gienow-Hecht, wie eine starke proamerikanische Haltung immer neben den bestehenden Vorurteilen existierte und letztlich mit diesen zusammenhängt. In den ersten Jahrzehnten nach der Amerikanischen Revolution waren die Europäer voller Enthusiasmus über den neuen Staat, den einzigen, der nach der Französischen Revolution die Ideale der Aufklärung bewahrte.
Amerikas Jugend, Modernismus und sein lebendiges Konzept von Freiheit – alles Qualitäten, die romantische Nationalisten schlecht machten – beflügelten die Fantasie liberaler Europäer, unter ihnen Goethe und Hegel, und brachten Millionen dazu, auszuwandern. Gienow-Hecht argumentiert überzeugend, dass Antiamerikanismus häufig entstand, wenn diese Idealvorstellungen enttäuscht wurden.
Wie viele der deutschen 68-er geben zu, dass Amerika die deutsche Campusrevolte und die daran anschließende „Kulturrevolution“ entscheidend beeinflusst hat? Während sie gegen den Vietnam-Krieg und den Imperialismus der USA demonstrierten, waren sie sich durchaus bewusst, dass die Formen ihres Protests aus Amerika kamen: Sit-ins, Teach-ins und andere Varianten zivilen Ungehorsams, übernommen von der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Ohne Dylans Songtexte, die Bücher von Kerouac und Ginsberg sowie Martin Luther King und das Free-Speech-Movement in Berkeley als Vorbilder wären ihre politischen Visionen unvorstellbar.
Wichtigste Bastion der deutschen Studentenbewegung war ausgerechnet die von den USA gestiftete Freie Universität in Berlin, gedacht als Gegenmaßnahme zur „nichtfreien“ Hochschule im Ostteil der Stadt. Die FU sollte eine neue, kritische, partizipatorische und demokratische Ethik im Nachkriegsdeutschland verankern. Dass die Studierenden diesen Anspruch so ernst nehmen würden, hatten die Amerikaner jedoch nicht gedacht. Folgt man Gienow-Hecht, so lässt sich urteilen, dass die protestierenden Studenten zum Teil schlicht und ergreifend wütend auf Amerika waren, weil es in Indochina und an anderen Orten in der Dritten Welt seine eigenen Prinzipien über Bord geworfen hatte.
Federico Romeros Essay „The Twilight of American Cultural Hegemony“ in David Farbers Band „What They Think of Us“ hebt die Debatte auf ein anderes Niveau. Die transatlantische Entfremdung ist nach Meinung des italienischen Historikers das Ergebnis eines grundlegenden kulturellen und sozialen Bruchs, der mit dem Ende des Kalten Krieges entstanden war. Während des Ost-West-Konflikts herrschte Einigkeit darüber, was „westlich“ und „der Westen“ bedeutete. Das Nachkriegseuropa war schwach, die amerikanische Führungsrolle unumstritten.
Jüngere Generationen, die im Zeitalter der Massenmedien aufwuchsen, konnten mit den Alleinstellungsmerkmalen Europas wenig anfangen. Im Gegensatz zu Markovits – aber in der Argumentation Keohane und Katzenstein sehr ähnlich – kommt Romero zum Schluss, dass überzeugte Amerika-Hasser zunehmend von den Anhängern amerikanischer Modernisierungstendenzen verdrängt wurden: „In den achtziger Jahren konnte der traditionelle Antiamerikanismus mit Recht als ein Relikt der Vergangenheit abgetan werden, und die Öffentlichkeit feierte immer öfter das Entstehen einer homogenen transatlantischen Gesellschaft.“
Gegen Ende des Kalten Krieges veränderte sich nicht nur Europas strategische Abhängigkeit von Washington, es löste sich auch von den USA als ökonomischem Modell, kulturellem Mekka und politischem Vorbild. Europa war deutlich selbstbewusster, die kulturelle Präsenz Amerikas schwand. Soziale Veränderungen auf beiden Seiten, Unterschiede in Religion, Demografie, der Verteilung des Wohlstands und Migrationsmustern verstärkten diesen Trend. Zudem orientiert sich eine in einer globalisierten Welt aufgewachsene Generation nicht mehr an einem kulturellen Hegemon. Junge Menschen in Westeuropa brauchen die USA -wesentlich weniger als ihre 68-er--Eltern.
Diese Veränderungen hängen laut Romero mit dem europäischen Selbstverständnis zusammen, das auf den Prinzipien eines „sozialen Modells“ der kollektiven Solidarität, der Säkularität, des Wohlfahrtsstaats, der postnationalistisch Teile seiner Souveränität abgibt, sowie der bürgerlichen Freiheiten und des Umweltbewusstseins basiert. Selbst Europäer, welche die strategische Vorherrschaft der USA befürworten, sind immer überzeugter, dass das europäische Modell humaner und effektiver ist als das amerikanische. Die europäische Zukunftsvision hat die amerikanische abgelöst, wie Jeremy Rifkin es in seinem 2004 erschienenen Buch „The European Dream“ darstellt.
Aus diesen Unterschieden wurde ein Bruch, als George W. Bush 2002 seinen Kampf gegen den Terror startete und Amerika auf der internationalen Bühne zunehmend seine militärischen Muskeln spielen ließ. Die Entfremdung beruht nicht nur auf anderen Prioritäten, sondern auch auf verschiedenen Vorstellungen davon, wie die Beziehungen zum Rest der Welt zu gestalten sind. Während des Kalten Krieges hatte es stets Differenzen gegeben, aber niemand hätte jemals von einem vollständigen „europäischen Alternativmodell“ gesprochen. Das änderte sich erst mit dem Ende der bipolaren Ära, der Erweiterung und politischen Integration Europas und dem Beginn einer europäischen Außenpolitik. Die EU setzt auf Soft Power, Multilateralismus, Konfliktprävention und internationale Justiz und entwickelt auf dieser Grundlage unabhängigere Sicherheits- und Verhandlungsstrategien.
Die beschriebenen politischen, sozialen und kulturellen Unterschiede beziehen sich natürlich auf das, was Amerika ist, und nicht nur darauf, was Amerika tut. Solange man die Differenzen auf der Basis rationaler Analysen statt als Folge von reflexartigen Antipathien unternimmt, werden zwei verschiedene Optionen legitim gegenübergestellt. Es kann passieren, dass eine längere transatlantische Krise den Kreis der irrationalen Antiamerikanisten in Europa vergrößert. Noch ist es nicht so weit. Doch ich befürchte, dass die Bush-Jahre die Anziehungskraft der USA als Vorbild nachhaltig beschädigt haben.
Andrei S. Markovits: Uncouth Nation: Why Europe Dislikes America. Princeton University Press 2007, 302 Seiten, 24,95 $
Jessica Gienow-Hecht: „Europäischer Antiamerikanismus im 20. Jahrhundert“. Aus Politik und Zeitgeschichte 5-6/2008, S. 33-38
Peter J. Katzenstein und Robert O. Keohane: Anti-Americanisms in World Politics. Ithaca, NY: Cornell University Press 2006, 351 Seiten, 24,95 $
PAUL HOCKENOS ist Global Editor der IP und Autor von „Joschka Fischer and the Berlin Republic: An Alternative History of Postwar Germany“ (2008).
Internationale Politik 9, September 2008, S. 102 - 106