Buchkritik

01. Jan. 2010

Bukarester Bewältigungsblockaden

Buchkritik

In keinem der ehemals kommunistischen Staaten Ost-Mitteleuropas wurde weniger unternommen, um die Vergangenheit aufzuarbeiten als in Rumänien. Und das, obwohl nirgendwo der Geheimdienst derart zentral für den Machterhalt des Regimes war wie hier. Mit den Folgen für die Gegenwart beschäftigen sich ein Historiker und ein Politologe.

Dass eine tiefgehende Aufarbeitung des Ceausescu-Regimes bis zum heutigen Tage ausgeblieben ist, hat enorme Auswirkungen auf das postkommunistische Rumänien. Ehemalige Securitate-Mitarbeiter und Parteifunktionäre durchsetzen Staat und Gesellschaft bis in die höchsten Ebenen. Der Geheimdienst umfasst inzwischen eine jüngere Generation, die durch familiäre Bande und andere Formen des Nepotismus vernetzt ist. In Rumänien geschieht auch 20 Jahre nach der Revolution von 1989 sehr wenig ohne Beteiligung dieser Seilschaften.

Nach 10-jähriger Sperre wurden die Akten der Securitate nun endlich der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Doch ehemalige Securitate-Mitarbeiter behindern den Aufarbeitungsprozess, der die mit Exkommunisten durchsetzte Regierung, den öffentlichen Dienst und die Justiz bis in die höchsten Ränge erschüttern könnte. Dass die Veröffentlichung der Akten zu spät und zu halbherzig erfolgte, zeigt das Beispiel der in Rumänien geborenen deutschen Nobelpreisträgerin Herta Müller: In der Akte, die man ihr schließlich aushändigte, klafften Lücken von bis zu drei Jahren. Bis heute ist Müller überzeugt, beschattet und abgehört zu werden, wenn sie in Rumänien ist. Der Fall zeigt, dass die Mentalität des kommunistischen Regimes tief in der Gesellschaft verankert ist, obwohl Rumänien seit 2007 Mitglied der EU ist.

Dass das Revolutionsgeschehen hinter einem Schleier der Desinformation verschwindet, ist ebenfalls auf das Treiben altkommunistischer Seilschaften zurückzuführen. Um die Straßenschlachten, die rund 1000 Menschenleben kosteten, um Ceausescus Exekution und die anschließende Machtergreifung von Parteifunktionären der zweiten und dritten Reihe ranken sich wilde Verschwörungstheorien. Viele Rumänen sind skeptisch, ob sich 1989 wirklich eine Revolution oder lediglich ein Palast-Coup ereignet hat. Hatten Ceausescus Anhänger die Bevölkerung getäuscht, indem sie sich nach außen als radikale Reformer gerierten?

Peter Siani-Davies Buch „The Romanian Revolution of December 1989“ ist ein begrüßenswerter Versuch, Licht ins Dunkel der Ereignisse zu bringen. Der britische Historiker ist der Auffassung, dass die Geschehnisse von 1989 tatsächlich die Saat der Revolution in sich trugen; eine Saat freilich, in der die heutigen politischen Schwierigkeiten Rumäniens bereits angelegt waren. Zweifellos handelte es sich um eine gewaltsame Revolution, in deren Verlauf Tausende mobilisiert, Regierungsgebäude gestürmt und Fabriken besetzt wurden. Die Kommunistische Partei wurde von der Macht verdrängt, Spitzenfunktionäre wurden abgesetzt, manche exekutiert. Jedoch waren es Parteiangehörige der zweiten und dritten Reihe, welche die Regierungsposten übernahmen. Immerhin, der Aufstieg dieser jungen Generation bedeutete eine erhebliche Machtverschiebung.

Nun war die Macht Ceausescus’ derart erdrückend, dass Rumänien keine einflussreichen Dissidenten wie Václav Havel und Lech Walesa hervorgebracht hat. Immerhin aber waren jene Persönlichkeiten, die in den Medien zu Revolutionsführern hochstilisiert wurden, keine ergebenen Gefolgsleute des Diktators. Zwar gehörten Männer wie der spätere Staatspräsident Ion Iliescu zum Kreis der Parteifunktionäre, doch war er wie viele andere längst aus dem inneren Machtzirkel verdrängt worden. Aus Siani-Davies Sicht gelang es dieser Führungsriege, einerseits genügend Distanz zum alten Regime herzustellen, um von den meisten Rumänen akzeptiert zu werden. Andererseits nutzten sie ihre Verwurzelung in der Partei, um die Überreste des kommunistischen Regimes unter ihre Kontrolle zu bringen.

Ob die Revolutionäre einer kohärenten Vision folgten, ist umstritten. Ihr übergeordnetes Ziel war der Sturz Ceausescus. Über diese Gemeinsamkeit hinaus war die Koalition gespalten zwischen Anhängern der rumänischen Zwischenkriegsparteien – im Grunde nationalistische Revisionisten – und kommunistischen Reformern, denen eine Art demokratischer Sozialismus vorschwebte. Seit der Revolution bestimmt diese Dichotomie die instabile demokratische Kultur in Rumänien. Doch obwohl die revolutionäre Bewegung keiner gemeinsamen Ideologie folgte, teilte sie laut Siani-Davies den Wunsch nach moralischer Erneuerung und Demokratisierung. Auch in Sachen Machtverteilung und wirtschaftliche Ressourcen gab es keinen Konsens. Die ersten gewählten Regierungen sahen sich zu Reformen gedrängt, die sie eigentlich nicht wollten. Privatisierung und Landreformen verliefen schleppend, und ehemals loyale Regimeanhänger bauten ihre Machtstellungen aus und bereicherten sich im Zuge der Umverteilung.

Seit langem vertritt der Politikwissenschaftler Tom Gallagher von der Bradford University die Auffassung, die Fehlentwicklungen im rumänischen Transformationsprozess zeigten, dass Rumänien noch nicht reif sei für den EU-Beitritt. Seine Warnungen blieben jedoch ungehört; 2007 trat Rumänien der Europäischen Union bei. Nun zahle die EU, so Gallagher in „Romania and the European Union. How the Weak Vanquished the Strong“, einen hohen Preis für diese Fehlentscheidung. In Rumänien träfe europäische Soft Power auf harte postkommunistische Realität: Rumänien habe die EU verändert – zum Schlechteren. Gallagher wirft der europäischen Politik vor, in Rumänien jene klientelistischen Netzwerke zu legitimieren, die Demokratie lediglich als Kulisse für ihr undemokratisches Handeln missbrauchen. Ausgerechnet Europa droht langfristig dem Wiedererstarken autoritärer Tendenzen Vorschub zu leisten.

Unter EU-Politikern stoßen Gallaghers Thesen teilweise auf Zustimmung: Rumänien habe die Kopenhagener Kriterien nicht erfüllt. Brüssels Strategie bestand darin, Rumänien gemeinsam mit Bulgarien aufzunehmen und den Reformprozess beider Staaten zu begleiten. Es war bekannt und akzeptiert, dass Rumänien in der Korruptionsbekämpfung, der Justizreform und im Kampf gegen das organisierte Verbrechen noch einen weiten Weg zurückzulegen hatte. Womöglich glaubte man, Rumänien sei in Punkto Transformation keine größere Herausforderung als etwa die Slowakei.

Ergebnis dieser groben Fehleinschätzung waren aus Gallaghers Sicht oberflächliche Reformen und ein Europäisierungsprozess, der rückgängig gemacht wurde, nachdem der Beitritt erfolgt war. Auch gelang es nicht, Unterentwicklung und Misswirtschaft in den Griff zu bekommen. Dass Brüssel die rein kosmetische Reform des Justizsystems akzeptierte, war laut Gallagher der schwerwiegendste Fehler. Er kostete Rumänien die Unabhängigkeit der Justiz. Mit ihrem Bestehen auf rapider Privatisierung trieb die EU die Arbeitslosen- und Abwanderungsquote in die Höhe und ermöglichte es privaten, quasifeudalen Imperien, sich zu bereichern und mächtiger zu werden als jene Institutionen, die man zu ihrer Kontrolle geschaffen hatte. Dieser Vetternwirtschaftskapitalismus habe russischen Oligarchen die Einfallstür geöffnet und ihnen ermöglicht, rumänische Kartelle unter ihre Kontrolle zu bringen.

Es ist schwer, Gallaghers Thesen zu widerlegen, zumal er eine Fülle von Beweisen anführt. Trotzdem ist fraglich, ob die Alternative, nämlich den Rumänen den EU-Beitritt zu verwehren und sie in ihrem Spagat zwischen Russland und dem Westen im Stich zu lassen, wirklich besser gewesen wäre. Für Moldawien, die Ukraine und Georgien war diese Zerreißprobe fatal. Und Brüssel verliert auch nicht alle Druckmittel, wenn aus Kandidaten Mitglieder werden. Es kann den Geldhahn zudrehen und andere Sanktionen verhängen, um ausscherende Staaten wieder auf Linie zu bringen. Nicht zuletzt ist der Beitritt Rumäniens, Bulgariens und in naher Zukunft Kroatiens ein Quell der Inspiration für die westlichen Balkan-Staaten, denn er zeigt, dass es für sie einen Platz in Europa gibt.

Am Beispiel Rumäniens zeigt sich, welche Auswirkungen das Verschleiern und Verdrängen der Geschichte hat. Aufarbeitungsprozesse sind nicht im Acquis communautaire festgeschrieben. Doch wenn eine demokratische Kultur und eine starke Zivilgesellschaft den Autoritarismus der Vergangenheit ablösen sollen, kann man ihre Bedeutung nicht ignorieren.

Peter Siani-Davies: The Romanian Revolution of December 1989. Ithaca, NY: Cornell University Press 2007, 328 Seiten, 24,95 $

Tom Gallagher: Romania and the European Union. How the Weak Vanquished the Strong. Manchester: Manchester University Press 2009, 
304 Seiten, 60 £

PAUL HOCKENOS ist Global Editor der IP und Autor von „Joschka Fischer and the Berlin Republic: An Alternative History of Postwar Germany“ (2008).

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2011, S. 132 - 134

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