IP

01. Sep 2003

Durch Wandel zu Stabilität

Anmerkungen zur Zukunft der transatlantischen Beziehungen

Die transatlantische Irak-Krise ist zwar abgeflaut, aber dennoch ist im europäisch-amerikanischen Verhältnis jetzt nichts mehr so wie es vorher war. Den Weg zurück gibt es nicht. Ischinger empfiehlt beiden Seiten, die strategische Diskussion wiederzubeleben und weitere „road maps“ zu entwerfen. Aber dazu müssten die Amerikaner wieder bereit sein, die Interessen ihrer Partner zu berücksichtigen, und die Europäer, endlich eine kohärente, durchsetzungsfähige Außenpolitik zu entwickeln.

Die transatlantische Irak-Krise liegt hinter uns. Trotzdem lohnt der Versuch, aus dem Verlauf dieser Krise Schlussfolgerungen zu ziehen. Denn diese Krise war eben nicht nur eine weitere der zahlreichen und immer wiederkehrenden transatlantischen Krisen, über die seit den sechziger Jahren viel geschrieben worden ist. Die Ursachen dieser Krise lagen und liegen tiefer, und wir werden künftige Krisen nur verhindern können, wenn wir den Fakten ins Auge sehen.

Internationale Institutionen und Regeln sind im Verlauf der Irak-Krise nicht gestärkt, sondern geschwächt worden. Dies ist eine Entwicklung, die in direktem Widerspruch zur erklärten deutschen und europäischen Zielsetzung steht, das Geflecht internationaler Organisationen zu stärken:

–Die Vereinten Nationen sind angeschlagen aus der Irak-Debatte hervorgegangen. Washington wird sich gegen Versuche Dritter, den UN-Sicherheitsrat als Instrument zur Einhegung amerikanischer Macht zu nutzen, auch in Zukunft zu wehren suchen, indem es diesem  – jedenfalls bis auf weiteres – nur noch eine Nebenrolle zubilligt. Die bisherigen Entwicklungen in der Irak-Politik bieten hierfür gutes Anschauungsmaterial: keine Lage, über die europäische Multilateralisten erfreut sein können, ganz im Gegenteil.

–Die NATO ist als transatlantisches Entscheidungsgremium unterbeschäftigt. Im Krieg in Afghanistan fand sich für das Bündnis zunächst keine Rolle, trotz der umgehenden und zu Recht als historisch bewerteten NATO-Entscheidung, den Beistandsfall gemäß Artikel 5 des Nordatlantikvertrags zu erklären.  Jetzt wird gewarnt, die USA nutzten die NATO nur noch als eine Art „toolbox“, aus der sie sich je nach Bedarf geeignete Partner herauspicken. Dass die NATO inzwischen doch eine Unterstützungsrolle in Afghanistan, in geringerem Maß auch in Irak erhielt, bietet dabei wenig Trost: Das Bündnis wird so zwar als Erfüllungsgehilfe bei der Umsetzung von in Washington getroffenen strategischen Entscheidungen, nicht aber als Gremium zur strategischen Diskussion und zur gemeinsamen transatlantischen Beschlussfassung benutzt. Das Fehlen einer echten strategischen Debatte zwischen den transatlantischen Bündnispartnern ist ein aktuelles und schwerwiegendes Defizit.

–Und natürlich hat auch die Europäische Union gelitten. Ihrer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik Geschlossenheit und damit Glaubwürdigkeit zu verschaffen, wird gegenüber den USA keine leichte Aufgabe sein. Das Amt eines europäischen Außenministers zu schaffen und mit den notwendigen Kompetenzen auszustatten, scheint in diesem Zusammenhang ein zwingend notwendiger, aber allein kaum hinreichender Schritt zu sein, wenn Europa als politisch handelnder Akteur in Washington ernst genommen werden möchte.

–Gelitten hat schließlich auch die internationale Glaubwürdigkeit der Weltmacht USA, und zwar nicht nur wegen weiterhin ausbleibender Funde von Massenvernichtungswaffen in Irak. Jüngste Umfragen des renommierten Pew Research Center zeigen ein teilweise dramatisches Absinken des Ansehens der USA, und zwar keineswegs nur in Europa: keine guten Voraussetzungen für starke transatlantische Beziehungen.

Es geht aber im transatlantischen Verhältnis nicht nur um das Verhältnis zwischen Staaten und um das internationaler Organisationen. In Wirklichkeit geht es heute um grundlegende Ordnungsprinzipien der internationalen Beziehungen und die Frage ihrer Weiterentwicklung. Im Kern haben wir es mit der Infragestellung der jahrhundertealten Fiktion von der Gleichheit bzw. der Gleichberechtigung der Staaten und ihres Schutzes durch das Völkerrecht zu tun. Konsequent zu Ende gedacht bedeutet der Irak-Krieg aus diesem – amerikanischen – Blickwinkel: Wenn das Völkerrecht den Staat als solchen auch dann schützt, wenn es sich um eine barbarische Diktatur handelt, dann muss das Völkerrecht geändert, muss der Bestandsschutz für Diktaturen aufgehoben oder zumindest relativiert werden.

Auch die Legitimität des UN-Sicherheitsrats einschließlich des in Europa gern postulierten Gewaltmonopols wird in den USA unter Hinweis auf die Praxis und die Zusammensetzung des Sicherheitsrats infrage gestellt: Es könne doch wohl nicht richtig sein, so wird argumentiert, dass eine Mehrheit von zweifelhaften Diktaturen im Sicherheitsrat über den Lauf der Welt entscheide. Und wie oft, so wird weiter gefragt, seien denn militärische Auseinandersetzungen in den letzten 50 Jahren tatsächlich vom Sicherheitsrat mandatiert worden? Doch wohl die allerwenigsten, auch nicht die von der NATO, also von den Europäern mitgetragene Intervention in Kosovo 1999. In letzter Konsequenz bedeutet dieser Denkansatz, dem Europa nicht wird folgen können: Macht legitimiert, nicht der UN-Sicherheitsrat.

Mit der hier skizzierten Relativierung des Staates als zentralem Subjekt der geltenden internationalen Ordnung wird übrigens eine Entwicklung bestätigt und beschleunigt, die bisher – auch in Europa – vor allem als Folge der Globalisierung begriffen worden ist. Die Folgen für das internationale System können ganz erheblich sein.

Die Hegemonie der USA

Die gegenwärtige amerikanische Regierung macht weniger als die Regierung von Bill Clinton ein Hehl aus dem sich aus ihrer weltweiten Rolle ergebenden Hegemonieanspruch. Zwar hatte bereits Madeleine Albright von Amerika als der „indispensable nation“ gesprochen. Aber erst die Nationale Sicherheitsstrategie der Regierung von George W. Bush hat die USA mit einer entsprechend umfassenden Strategie ausgestattet. Die Hegemonie der USA, gestützt auf überlegene amerikanische Militärmacht, ist heute ein Faktum. Natürlich gilt das nicht oder nicht in gleicher Weise für die Wirtschaftsbeziehungen, wo sich Europa und Amerika auf gleicher Augenhöhe bewegen. Aber dennoch: Wer die Tatsache oder die Folgen der amerikanischen Prädominanz ignorieren will, schadet vermutlich den transatlantischen Beziehungen mehr, als dass er ihnen nützt.

Mit dem Hegemonieanspruch einher geht das Bewusstsein, die Welt verändern zu wollen. Nun ist der amerikanische außenpolitische Idealismus nicht erst seit Woodrow Wilson bekannt. Sendungsbewusstsein ist integraler Bestandteil der amerikanischen Nationalgeschichte. Das ist für sich genommen nichts Neues. Neu aber ist, dass sich zu der amerikanischen Bereitschaft, die Welt verändern zu wollen, jetzt das Bewusstsein hinzugesellt, dies auch – und zwar global gedacht – tatsächlich erreichen zu können. Zwar sind schon jetzt Zweifel erlaubt, ob dieses Bewusstsein auch wirklich von entsprechenden Fähigkeiten gedeckt ist; der weitere Verlauf der Irak-Krise wird hier Aufschlüsse bieten. Schon jetzt wird deutlich, dass die Fähigkeit, einen Gegner besiegen zu können – wie im Irak-Krieg eindrucksvoll vorgeführt –, nicht unbedingt auch die Fähigkeit mit sich bringt, den besiegten Gegner langfristig zu „beherrschen“ bzw. im Sinne des „nation building“ allmählich zu transformieren. Aus der Kombination von überlegener Militärmacht und Hegemonieanspruch folgt jedenfalls heute die Entschlossenheit der USA, die Welt auch tatsächlich zu verändern. Hegemonie und Transformationswille werden zu einem neuen und entscheidenden Begriffspaar im transatlantischen Beziehungsgeflecht des Jahres 2003.

Aus dem Hegemonieanspruch folgen kritische europäische Fragen an die USA, aber auch kritische amerikanische Fragen an die Europäische Union. Führe Amerika, so wird in Washington gefragt, nicht besser mit einigen wirklich verlässlichen europäischen Partnern als mit einer EU, deren gemeinsame Außenpolitik doch bestenfalls den kleinsten gemeinsamen Nenner verkörpert? Ist der immerwährende politische Kompromiss, von uns Europäern als Grundbaustein europäischer Integrationspolitik verstanden, vielleicht in Wirklichkeit ein Bremsklotz auf dem Weg zu entschlossenem transatlantischen Handeln? Läge eine auf diesem Prinzip des Kompromisses aufgebaute, künftig gemeinsam handelnde Europäische Union tatsächlich im amerikanischen Interesse? Wie steht es mit der Bereitschaft der EU, sich an einer Politik der Transformation, so wie in Washington entworfen, aktiv zu beteiligen? Ist die Europäische Union im Laufe des letzten Jahrzehnts zu einer Status-quo-Macht geworden, außenpolitisch bewahrend und risikoscheu, statt auf Veränderungen setzend?

Dies sind Fragen, die die jahrzehntealte Tradition amerikanischer Unterstützung für den europäischen Einigungsprozess infrage stellen könnten. Deshalb erscheint es so wichtig, diesen Fragen nicht auszuweichen. Denn nichts wäre so verhängnisvoll für das transatlantische Verhältnis wie der Entzug der amerikanischen Unterstützung für die Politik der europäischen Integration.

Wie konnte es zu diesem doch insgesamt sehr ernüchternden Bild kommen? Der Versuch einer Antwort muss die unterschiedlichen Perzeptionen und Perspektiven auf beiden Seiten des Atlantiks untersuchen.

Der amerikanische Politologe Dan Hamilton hat ein überzeugendes Begriffspaar gefunden. In Washington wurden die Terroranschläge des 11. September 2001 grausame Wirklichkeit. In Deutschland, und ganz besonders in Berlin, steht dagegen immer noch der 9.11. im Vordergrund, also die Zeitenwende des 9. November 1989, des Falls der Mauer: Der amerikanische 11.9. steht so gegen den europäischen 9.11.

Für Deutsche und für viele andere Europäer bedeutete der Fall der Berliner Mauer die Erfüllung eines Traumes: Der „ewige Friede“ im Kantschen Sinne schien für Europa in greifbare Nähe gerückt zu sein. Die raue Welt von Thomas Hobbes schien in einer realen Utopie von Frieden, von Demokratie und Freiheit zu verblassen. So wurde der 9. November zum Inbegriff der friedlichen Vollendung ersehnter Veränderungen und dadurch auch zum Symbol europäischen Status-quo-Denkens: von jetzt an ging es nicht mehr, so wurde gedacht, um existenzielle Bedrohungen, um die Verteidigung gegen Angriffe, von jetzt an würde es um die Vollendung des europäischen Integrationsprozesses nach innen und um dessen allmählichen Export nach außen gehen – eine optimistische und idealistische Vision, die bis heute wirkt, die Vision von der sich allmählich vollziehenden Europäisierung der Welt.

Ganz anders die Wahrnehmung des 11. September 2001 in Washington; „9/11“ war der erste Angriff auf amerikanisches Festland seit 1812. Er bedeutete für Amerika das schreckliche Gegenteil unserer friedlichen Vision, nämlich das Ende der bisher als unverrückbar geltenden Gewissheit eines Lebens ohne Bedrohung von Leib und Leben für die Amerikaner. Dieses traumatische Ereignis hat tiefste Verunsicherung und Zukunftsangst ausgelöst. Noch nie war Amerika so pessimistisch, so unamerikanisch pessimistisch wie seit dem 11.9.2001.

Die ungeheure Wirkung der Katastrophe des 11.9. auf die Weltsicht Amerikas wird in Europa immer noch unterschätzt. Unangefochtene militärische Vorherrschaft verbindet sich mit einem nie gekannten Gefühl der Verwundbarkeit. Aus dem anhaltenden Gefühl der Bedrohung leitet sich ein weiteres ab: das Bewusstsein, dass Sicherheit auf Dauer nur zu erreichen sei, wenn Amerika grundlegende Veränderungen in der Welt herbeiführe. Die Schlussfolgerung von Präsident Bush ist eindeutig. Sie lautet: „We must take the battle to the enemy, disrupt his plans, and confront the worst threats before they emerge. In the world we have entered, the only path to safety is the path of action. And this nation will act.“ Die viel kritisierte Strategie der Prävention ist eine Konsequenz aus dieser Erkenntnis, handeln zu müssen.

Angesichts der Ereignisse des 11.  September 2001 wird so aus Transformationswille Transformationszwang: „We are at war“ – dramatischer lässt sich die amerikanische Entschlossenheit zum Handeln kaum ausdrücken. Die Vereinigten Staaten werden so, vielleicht etwas überspitzt ausge-drückt, zu einer „revolutionären“ Macht und kehren damit zu ihren ursprünglichen politischen Wurzeln aus der Zeit des Unabhängigkeitskriegs zurück.

Ja, Amerikaner und Europäer nehmen wegen des 11.9. bzw. des 9.11. die internationale Lage und den Zwang und die strategischen Mittel zu deren Veränderung sehr unterschiedlich wahr. Um ein Beispiel zu nennen: Manche Europäer sehen den Zwang zum präventiven Handeln stärker beim Klimaschutz als bei militärischen Aktionen im Mittleren Osten. Auf einen knappen Nenner gebracht ist dies das gegenwärtige transatlantische Problem: die Kluft zwischen amerikanischem „Transformationswillen“ einerseits und europäischem „Stabilitätsdenken“ andererseits.

Heißt dies, dass wir endgültig zu einem transatlantischen „drifting apart“ verurteilt sind? Niemand kann hieran ein Interesse haben. Die globalen Herausforderungen, vor denen der Westen steht, sind nicht kleiner, sondern größer geworden – in Irak und weit darüber hinaus. Massenvernichtungswaffen, Terrorismus, zusammenbrechende Staatswesen, die Nahost-Krise: das sind alles gemeinsame amerikanisch-europäische Herausforderungen.

Wie weiter?

Wie also soll es jetzt weitergehen? Hierzu einige Schlussfolgerungen und Anregungen.

Zum ersten: Den Weg zurück in die gute alte Zeit transatlantischer Partnerschaft, so wie sie noch vom Vater des gegenwärtigen Präsidenten und vielen europäischen Führern beschworen wurde, diesen Weg zurück wird es nicht geben. Nur wenn wir uns mit den hier beschriebenen Gegebenheiten offen auseinandersetzen, kann sich eine neue und zugleich andere transatlantische Beziehung definieren und entfalten. „No problem can be solved from the same consciousness that created it“: so hat Albert Einstein das ausgedrückt.

Eine entscheidende Frage lautet zweitens: Kann Europa eigenständige Beiträge zu der von den USA betriebenen umfassenden Transformationsstrategie gegenüber der Region des Nahen und Mittleren Ostens entwickeln und anbieten? In amerikanischen Augen werden solche Beiträge nur dann ernst genommen werden, wenn wir Europäer nicht nur politische Ziele definieren, sondern dafür auch angemessene Mittel bereitstellen und den Willen zur Durchsetzung dieser Ziele unter Beweis stellen. Eine ausschließlich „deklaratorische“ Außenpolitik kann und darf sich die Europäische Union nicht leisten. Aber, so fragt man in Washington, zu wie viel operativer Außenpolitik mit wie viel Durchsetzungswillen ist Europa imstande? Um es anhand eines aktuellen Beispiels konkret zu formulieren: Wird Europa tatsächlich gegenüber Iran auf Transparenz des iranischen Nuklearprogramms bestehen und für dieses Ziel  gegebenenfalls auch einen Preis zu bezahlen bereit sein? Wenn ja, welchen? In Washington wird man mit größtem Interesse verfolgen, inwieweit die Europäische Union hier eine klare Linie zu definieren und durchzuhalten in der Lage ist. Die EU hat bei dem Gipfeltreffen in Griechenland im Juni 2003 hierzu eindrucksvolle und weitreichende Erklärungen formuliert.

Es gibt übrigens gute Gründe für Europa, in der Transformationsfrage mit Selbstbewusstsein aufzutreten. Wer wie der amerikanische Autor Ralph Peters meint, die Europäer redeten viel, täten wenig und machten die Vereinigten Staaten für ihre eigenen Missstände verantwortlich, liegt falsch. Wer sagt, Europa sei unbeweglich und zur Veränderung unfähig, der irrt. Das Gegenteil ist doch der Fall: Dieses Europa, dem in den USA oft der Ruf der introvertierten Status-quo-Macht anhaftet, verfügt über mehr eigene Erfahrung mit Transformation als jeder andere Kontinent, über viel mehr Erfahrung auch als die USA. Nirgendwo auf der Welt wurden in den vergangenen zehn Jahren mehr Planwirtschaften in Marktwirtschaften, mehr sozialistische Staaten in freie Demokratien verwandelt als in Zentraleuropa.

Wir Europäer sind die Vorreiter der Transformation, und Berlin ist ein Symbol für das, was Ostdeutsche, Polen, Tschechen, Ungarn, Balten, Rumänen usw. an Veränderungen bewirkt, erlitten und bewältigt haben. Mit diesem Pfund sollte die EU transatlantisch wuchern und den USA dabei helfen, vermeidbare Fehler – z.B. in Irak – auch tatsächlich zu vermeiden. Unsere amerikanischen Freunde sollten diese europäische Stärke wahrnehmen und sie nutzen. Überspitzt formuliert könnte man Robert Kagan entgegenrufen, dass  Amerika nicht in seiner militärischen Übermacht schwelgen, sondern eigentlich auch selbst an der „Europäisierung der Welt“ interessiert sein sollte.

Wiederbelebung

Wir brauchen drittens nicht nur eine wiederbelebte transatlantische strategische Diskussion, wir brauchen vor allem auch eine amerikanische Bereitschaft, strategische Fragen mit Europa gemeinsam zu beraten, zu beschließen und umzusetzen. Den Europäern, so wie in der jüngeren Vergangenheit immer häufiger geschehen, nicht mehr Beteiligung an Beratung und Beschlussfassung, sondern nur noch an der Implementierung von in Washington bereits getroffenen strategischen Entscheidungen anzubieten, reicht nicht. Eine auf eine „Toolbox“-Rolle beschränkte NATO wird nicht lange gesund bleiben.

Erfreulicherweise gibt es aus jüngster Zeit Beispiele dafür, dass es mit gutem Willen auf allen Seiten durchaus möglich ist, gemeinsame Strategien gemeinsam zu entwickeln und auch gemeinsam umzusetzen: das beste Beispiel ist die so genannte „road map“ für den Nahost-Friedensprozess. Wesentliche Elemente dieses Konzepts beruhen auf europäischen, ja zum Teil auf deutschen Überlegungen; das Dokument wurde gemeinsam erarbeitet und gemeinsam verabschiedet. Darin liegt seine Stärke, denn zum ersten Mal sind nicht nur die Vereinigten Staaten, die Europäische Union und die Vereinten Nationen, sondern auch Russland auf ein nahostpolitisches Konzept gemeinsam festgelegt. Damit sind die Zeiten vorbei, in denen die Nahost-Initiativen des einen regelmäßig von Aktivitäten des anderen konterkariert wurden. Die „road map“ ist also das Modell.

Wieso, darf gefragt werden, haben wir bisher eigentlich keine „road map“ für eine gemeinsame Iran-Strategie? Oder zur Erarbeitung eines gemeinsamen westlichen Konzepts zur Verhinderung der Proliferation von Massenvernichtungswaffen? Und warum gab es eigentlich im Vorfeld der Irak-Krise keine Kontaktgruppe, die sich doch auf dem Balkan gut bewährt hatte? Erfreulicherweise wird in jüngster Zeit hierüber transatlantisch wieder verstärkt nachgedacht; in gewisser Weise beginnt Washington, Europa wieder zu „entdecken“.

Bezogen auf die aktuellen Krisenszenarien Irak und Iran bedeutet dies – viertens – für Europa folgendes: In Irak sollten die Europäer den lauter werdenden amerikanischen Hilferufen nach aktiver militärischer und nichtmilitärischer NATO- bzw.  EU-Beteiligung in dem Maße – und nur in dem Maße – Folge leisten, wie die USA bereit sind, Irak betreffende Entscheidungen zu multilateralisieren, d.h. gemeinsam mit Europa zu treffen. Mit anderen Worten: Beteiligung ja, aber nur bei Sitz und Stimme. Die Bundesregierung hat zu Recht frühzeitig eine zentrale Rolle der Vereinten Nationen gefordert. Es erscheint richtig, an dieser Forderung festzuhalten.

Gegenüber Iran sollte – siehe oben  – Europa Standhaftigkeit bei der Forderung nach Transparenz des iranischen Nuklearprogramms zeigen. Aber Europa hat seinerseits Anlass, die USA darauf hinzuweisen, dass eine Vermischung der Forderung nach nuklearer Transparenz mit der gleichzeitigen Forderung nach einem Regierungswechsel in Teheran wenig Sinn macht. Welchen Anreiz soll denn Teheran haben, Forderungen der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEO) zu akzeptieren, wenn Washington gleichzeitig die iranische Gegenrevolution unterstützt? Hier sind klares Denken und eindeutige Prioritätensetzung notwendig: das sollte Gegenstand des geforderten strategischen Dialogs mit dem Ziel einer gemeinsamen westlichen Iran-Strategie sein. Im Ergebnis könnte ein konditioniertes westliches Angebot an Teheran unter Umständen weitreichende politische Folgen im Sinne der von uns erhofften politischen Transformationsprozesse auslösen.

Wir brauchen fünftens eine erneuerte, tragfähige Geschäftsgrundlage für das transatlantische Verhältnis – einen „new transatlantic bargain“. Javier Solana erinnerte kürzlich an die von Präsident John F. Kennedy geforderte „Declaration of Interdependence“ zwischen der europäischen und der amerikanischen Union, in der ein starkes und geeintes Europa kein Rivale, sondern ein gleichberechtigter Partner Amerikas sein solle. Ein solcher „bargain“ wird dann leichter erreichbar sein, wenn beide Seiten einige schlichte Weisheiten beherzigen.

Multilateralismus

Die USA sollten sich an den Rat von Henry Kissinger und anderen erinnern lassen, dass der Hegemon dann nicht mit dem Aufbau von gegen ihn gerichteten Koalitionen rechnen muss, wenn er die Interessen seiner Partner berücksichtigt und diesen den Eindruck vermittelt, als „benevolent hegemon“ nicht durch imperialen Zwang oder Diktat, sondern durch Überzeugung und Konsensbildung agieren zu wollen. Für einen solchen Hegemon ist Multilateralismus nicht lästiges Beiwerk, sondern elementares Gestaltungselement des auf Legitimität und Konsens ausgerichteten außenpolitischen Handelns. Ein auf Regeln beruhendes internationales System ist doch nicht zwangsläufig ein Trick zur Einhegung amerikanischer Macht! Vielmehr ist es gefährlich, Macht und Recht dauerhaft zu trennen. Daran gelegentlich zu erinnern, ist Europa, ist Deutschland aus seiner leidvollen Geschichte heraus durchaus berechtigt.

In Europa vergisst man gelegentlich, dass Recht und Normen nur dann wirklich gelten, wenn der Wille zu ihrer Durchsetzung vorhanden ist, notfalls auch mit militärischen Mitteln; und in Amerika vergisst man gelegentlich, dass die Anwendung militärischer Macht meist nur dann zu guten politischen Ergebnissen führt, wenn sie hinreichend breit legitimiert und in eine politische Strategie eingebettet ist. Für sich allein genommen lösen militärische Mittel in aller Regel nur militärische Probleme, wie der Verlauf der Irak-Krise erneut zu zeigen scheint.

Vielleicht, so wäre mit François Heisbourg zu hoffen, würde ein erneuertes amerikanisches Bekenntnis zum Begriff des Multilateralismus es ermöglichen, diesen Begriff zum neuen und alten gemeinsamen transatlantischen Nenner zu machen. Denn der in Europa präferierte Begriff der Multipolarität wird leider von Washington weiterhin kategorisch abgelehnt.

Wir Europäer unsererseits sollten uns nach den Erfahrungen der vergangenen Monate die Einsicht bewahren, dass die EU zu dem von uns erhofften kohärenten außenpolitischen Akteur nur dann heranwachsen wird, wenn sie ihre Identität nicht gegen, sondern in Komplementarität zu den USA definiert. Das bedeutet übrigens keineswegs Identitätsverzicht, wie manche zu glauben scheinen. Vor der Vorstellung, Europa könne sich erst in der emanzipatorischen Auseinandersetzung mit den USA selbst vollenden, kann man nur warnen. Nicht wachsende europäische Macht wäre vermutlich die Folge, sondern die Teilung Europas. Seien wir uns bewusst: es war nicht zuletzt der militärische Schirm der USA, der es der Europäischen Union über die Jahrzehnte erlaubt hat zu wachsen und zu gedeihen.

Wenn es Europa sechstens gelingen sollte, selbstbewusst die beiden Ziele der Vollendung des Europäischen Einigungsprozesses und der Fortsetzung enger transatlantischer Bindungen in einer Balance zueinander zu halten, so wie dies der deutschen Außenpolitik über die vergangenen Jahrzehnte eigentlich durchweg gut gelungen ist, dann sollte es unseren amerikanischen Partnern auch möglich sein, die traditionelle amerikanische Unterstützung des europäischen Einigungsprozesses aufrechtzuerhalten und aufs Neue zu bekräftigen. Denn nichts wäre so sehr gegen die gemeinsamen globalen Interessen gerichtet  wie ein sich von Europa abwendendes und nur noch von Fall zu Fall mit einzelnen europäischen Partnern kooperierendes Amerika einerseits und ein sich in der Emanzipation von und in Gegnerschaft zu Amerika definierendes Europa andererseits.

Der Beitrag ist die aktualisierte und gekürzte Fassung eines Vortrags vor der Alfred Herrhausen-Gesellschaft und der Atlantik-Brücke am 13. Juni 2003 in Berlin. Er gibt die persönliche Meinung des Verfassers wieder.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9, September 2003, S. 57 - 66

Teilen

Mehr von den Autoren