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28. Aug. 2013

Die syrische Hölle

Warum wir die Lehren aus Bosnien nicht vergessen dürfen

Gegner einer Intervention in Syrien verweisen gern auf die ernüchternden Erfahrungen in Afghanistan und im Irak. Dabei ließen sich aus dem Bosnien-Krieg die besseren Lehren ziehen: Nicht einzugreifen ist auch keine gute Option. Je länger ein ethnisch-konfessioneller Konflikt dauert, desto schwieriger wird die Herstellung einer Nachkriegsordnung.

Zehntausende Tote in unserer südöstlichen Nachbarschaft. Ein hochkomplizierter militärischer Konflikt, in dem verschiedenste Interessenlinien zusammenlaufen. Ein US-Präsident, der nach einem innenpolitisch geprägten Wahlkampf und einem gescheiterten Einsatz in der arabischen Welt besonders zurückhaltend ist, was neue militärische Engagements angeht.

Ein Despot, der keine Notwendigkeit erkennt, umgehend und ernsthaft zu verhandeln. Europäische Diplomatie und Krisenmanagement bleiben enttäuschend weit hinter dem selbstgestellten Anspruch zurück. Politische Initiativen scheitern, bevor sie überhaupt auf den Weg gebracht wurden. Lange Debatten um Sinn und Unsinn eines Waffenembargos. Der US-­Außenminister spricht von einem „Problem aus der Hölle“ – der Hass sei fast unglaublich, aber die USA täten im Angesicht einer sehr schwierigen Situation „alles, was wir können, um mit dem Problem fertig zu werden“.

Was wie eine Beschreibung des Syrien-Konflikts im Sommer 2013 klingt, trifft ziemlich genau auf den Bosnien-Krieg bis zum Sommer 1995 zu. Die meisten Beobachter sehen den gegenwärtigen Konflikt in Syrien aber durch eine Brille, die vor allem durch die Interventionen in Afghanistan und im Irak geprägt ist. Diese Konflikte stehen für eine Selbstüberschätzung des Westens, für die Unlösbarkeit mancher religiöser und ethnischer Konflikte (zumal in der muslimischen Welt), für die Gefahr einer „slippery slope“, in der selbst ein minimales, auf kurze Zeit angelegtes militärisches Engagement jahrelang kein Ende findet. 

Mit anderen Worten: Das große Erbe der vergangenen Dekade ist, dass Afghanistan und Irak jedem eine Lehre sein mögen, der sich für Interventionen einsetzen möchte. Der ehemalige US-Verteidigungsminister Robert Gates ging sogar so weit, jedem, der über ein weiteres amerikanisches Engagement in der islamischen Welt nachdenke, zu empfehlen, sich auf seinen Geisteszustand untersuchen zu lassen.

Aber ist das wirklich die richtige Lehre aus den vergangenen Jahren: militärisches Handeln so grundsätzlich und in allen Fällen auszuschließen? Oder ist es eher so, dass wir angesichts der ausgebliebenen politischen Erfolge im Irak und in Afghanistan die Lehren vergessen, die wir aus den neunziger Jahren, vor allem den Balkan-Kriegen, gezogen hatten – nämlich, dass es unter gewissen Umständen geboten sein kann, den begrenzten Gebrauch militärischer Mittel zu erwägen, um eine diplomatische Lösung – und damit Frieden – zu erzwingen? 

Offenbar gilt hier der alte Satz, dass Politiker und Militärs mit Vorliebe den „letzten Krieg“ noch einmal kämpfen. Die Eindrücke aus den jüngsten Erfahrungen sind schließlich die frischesten. Dies kann aber auch dazu führen, dass man die aktuelle Krise durch einen falschen Filter betrachtet. Die Situation und die Entwicklung des Konflikts in Syrien jedenfalls erinnern in vielerlei Hinsicht viel eher an Bosnien als an den Irak oder Afghanistan. Und Bosnien hält weiterhin Lehren bereit, die heute aktueller sind denn je. 

Allen Beteiligten ist sicher bewusst, dass der gegenwärtige Kurs des Westens und der internationalen Gemeinschaft in der Syrien-Krise völlig unzureichend und inakzeptabel ist. Aufrufe, Sanktionen, Embargos, bestimmte Formen der Unterstützung für die Opposition, diplomatische Offensiven und Vermittlungsversuche – letztlich ist in Syrien wie in Bosnien vor 1995 alles gescheitert, was externe Akteure eher halbherzig unternahmen.

Eine zentrale erste Gemeinsamkeit der beiden Konflikte findet man im (anfänglichen) Unvermögen, die Konfliktpartner an einen Tisch zu bekommen, um eine tragfähige diplomatische Lösung zu erzielen. So wie Slobodan Miloševic´ in den neunziger Jahren sieht heute Syriens Präsident Baschar al-Assad keinen Zwang, wirklich ernsthaft zu verhandeln. Auch für Bosnien lagen frühzeitig Friedenspläne und -entwürfe („Vance-Owen“) auf dem Tisch, die aber mangels Implementierungswillen des Westens zu nichts führten.

Der Abschluss des Dayton-Abkommens, das den Krieg in Bosnien 1995 schließlich beendete, war letztlich nur möglich, weil Miloševic´ und die bosnischen Serben angesichts neuer Realitäten plötzlich doch ein Interesse an einer Verhandlungslösung entwickelten: Die kroatische Seite hatte territoriale Zugewinne erzielt, und die NATO-Operation „Deliberate Force“ hatte demonstriert, dass es dem Westen ernst war. Mit anderen Worten: Das Verhandlungsergebnis von Dayton, das allen Schwächen zum Trotz Bosnien-Herzegowina den Weg in eine Zukunft ohne Krieg weisen konnte, wurde erst durch die Androhung (und den begrenzten Einsatz) von Waffengewalt möglich gemacht. 

Dies ist der entscheidende Punkt auch für Syrien: Aus einer Position der Stärke, in die Assad offenbar zurückgefunden hat, wird sein Regime niemals zu den nötigen Konzessionen bereit sein. Solange Assad überzeugt ist, dass sich seine Lage im Verlauf des Konflikts weiter verbessern oder dass er gar den Krieg für sich entscheiden kann, wird er weiter kämpfen lassen. Dieses Kalkül muss die internationale Gemeinschaft durchbrechen, wenn sie eine politische ­Lösung erreichen will. 

Zweitens hat die Debatte um Waffenlieferungen in beiden Fällen die strukturelle Überlegenheit des Regimes manifestiert. Auf dem Balkan kämpfte Sarajewo lange vergebens um eine Aufhebung des Waffenembargos, das eindeutig Belgrad und den bosnischen Serben in die Hände spielte. Ähnlich sucht die syrische Opposition heute, die materielle Überlegenheit des Assad-Regimes auszugleichen, das aus Moskau und Teheran versorgt und durch die Hisbollah massiv unterstützt wird. Zugespitzt formuliert: Die einzigen, die kaum Unterstützung bekommen, sind die Moderaten in der syrischen Opposition. Dass diese Kräfte dahinschmelzen, war zu erwarten – hierin liegt die eigentliche Tragödie westlichen Versagens.

Drittens war schon in Bosnien eine Lösung nur auf dem Fundament eines gemeinsamen Grundverständnisses zwischen den USA und Russland möglich. So sehr die beiden Staaten auch ob ihrer jeweiligen Balkan-Politik im Clinch lagen, für das ­Dayton-Abkommen mussten sie zusammenfinden.

Die wiederbelebte Syrien-Initiative der USA und Russlands ist deshalb richtig und wichtig. Nur eine amerikanisch-russische Entente kann zu einer erfolgreichen Diplomatie im Rahmen einer notwendigen und wünschenswerten Kontaktgruppe führen. Kann man sich auf Parameter für eine Nachkriegsordnung, über einen Ausgleich zwischen den verschiedenen konfessionellen Gruppen, über die Zusammensetzung einer Übergangsregierung und hinsichtlich einer möglichen internationalen Präsenz nach Kriegsende einigen? Hier werden möglicherweise hässliche Kompromisse nötig sein, aber ohne Russland wird es nicht gehen.

Auch auf dem Balkan waren die Abstimmungen in der Kontaktgruppe nicht einfach, aber sie waren erfolgreich, weil alle wesentlichen Akteure, einschließlich Moskau, am Tisch saßen. Heute haben wir eine Gruppierung, die sich „Freunde Syriens“ nennt. Diese ist für die internationale Legitimation der Opposition von Bedeutung, kann aber wenig für die Beendigung des Konflikts tun. Sinnvoller wäre hier eine klassische Kontaktgruppe unter UN-Schirm, die im Kern aus der Türkei, Iran, Russland, den USA und der EU bestehen könnte, ergänzt vielleicht durch Saudi-Arabien und Katar und unter Beteiligung der Arabischen Liga.

Viertens wurde in Bosnien sehr lange – und in Syrien heute noch – die Situation so eingeschätzt, als seien die Kosten des Nichthandelns geringer als die potenziellen Kosten eines Ein­greifens. In Bosnien änderte sich diese Kalkulation erst nach dem Massaker von Srebrenica 1995. In Syrien haben wir den Punkt, an dem eine Intervention gerechtfertigt, sinnvoll und mit vertretbarem Mitteleinsatz vielleicht tatsächlich möglich gewesen wäre, dagegen wohl leider verpasst. Und so traurig es ist: An Berichte über Massaker aus Syrien scheinen sich die westlichen Öffentlichkeiten fast gewöhnt zu haben. 

Dabei hat Bosnien auch gelehrt: Je länger ein ethnisch-konfessioneller Konflikt andauert, desto schwieriger wird es am Ende, die beteiligten Gruppen auf eine gemeinsame Nachkriegsordnung und sinnvolle Versöhnungsschritte zu verpflichten. Insofern sind Argumente, dass der Krieg in Syrien nun eben ausbluten müsse, nicht nur moralisch unverantwortlich, sondern auch politisch grundfalsch.

Keine Option ausschließen

Ob eine begrenzte Intervention, etwa in Form einer Flugverbotszone oder durch begrenzte Bombardements wie 1995 im Bosnien-Krieg, einen entscheidenden Beitrag zu einer Verhandlungslösung in Syrien leisten könnte, ist sicherlich eine der schwierigeren aktuellen Fragen in der internationalen Sicherheitspolitik. Aber wer es sich so einfach macht, diese Fragen ohne seriöse Prüfung der Erfolgschancen gleich beiseite zu wischen, hat aus Bosnien überhaupt nichts gelernt – und wird diesen Fehler immer wieder machen. Es ist politisch unverantwortlich, bestimmte Optionen von vornherein auszuschließen. Ohne Zweifel war es zudem falsch, Assad so früh am Ende zu wähnen und davon auszugehen, dass sich das Problem schon von selbst lösen werde.

Im Übrigen könnte sich auch ohne militärisches Eingreifen eine verwandte Frage bald stellen: Was wären wir bereit, zu einer wie auch immer gearteten Nachkriegsordnung beizutragen? Es ist wahrscheinlich, dass eine politische Verhandlungslösung, genau wie auf dem Balkan auch, eine internationale Schutztruppe vorsehen könnte. Zeigen wir dann auch nur auf andere? Sind EU und NATO darauf strategisch vorbereitet?

Das eingangs zitierte Wort eines „Problems aus der Hölle“, mit dem der damalige US-Außenminister Warren Christopher den Bosnien-Krieg beschrieb, wurde durch die neue amerikanische UN-Botschafterin Samantha Power in ihrer Studie zur Verhinderung von Völkermorden bekannt gemacht (A Problem from Hell: America and the Age of Genocide, 2002). Der zentrale Punkt Powers, die eine der treibenden Kräfte hinter der Libyen-Intervention war: Wer akzeptiert, dass es „Probleme aus der Hölle“ gibt, weist Verantwortung von sich. Nicht-handeln ist auch eine Entscheidung und schützt nicht davor, für katastrophale Entwicklungen mitverantwortlich zu sein.

Diese grundsätzliche Überlegung gilt für Syrien ganz besonders, da hier noch mehr auf dem Spiel steht als in den Neunzigern auf dem Balkan. Denn die Gefahr eines „Flächenbrands“, vor der auch deutsche Interventionsgegner gerne gewarnt haben und weiter warnen, ist – durchaus auch wegen unseres Nichtstuns – längst Wirklichkeit geworden. Wir sehen ein zerfallendes Land mit Chemiewaffen im Herzen der instabilsten Region der Welt. Syrien wurde zum Aufmarschort für Dschihadisten aus aller Welt. Die Bedeutung des regionalen Stellvertreterkriegs mit seinen konfessionellen und machtpolitischen Komponenten geht weit über Syrien hinaus und zeitigt möglicherweise schwerwiegende Konsequenzen – für die Zukunft aller Nachbarländer, die Lösung des iranischen Nuklearkonflikts und die Auseinandersetzung um die Vormacht im Vorderen Orient. Und die Zahl der Opfer steigt von Monat zu Monat weiter.

Eine der großen Errungenschaften der internationalen Politik und des Völkerrechts nach den Völkermorden des 20. Jahrhunderts war der Gedanke, dass die internationale ­Gemeinschaft ihre Verantwortung eben nicht einfach ignorieren darf – und sie im Notfall sogar auch militärisch wahrnehmen sollte. Vor einigen Jahren hat die UN-Generalversammlung dieses – die nationale Souveränität beschränkende – neue Prinzip als „Schutzverantwortung“ (Responsibility to protect) in aller Form indossiert. Eigentlich ein Fortschritt im Sinne des modernen westlichen ­Menschenrechts- und Völkerrechtsverständnisses!

Von der ersten R2P-Euphorie ist heute leider nicht mehr viel übrig. Der Westen scheint Syrien – genau wie Bosnien vor 20 Jahren – als ein Problem aus der Hölle anzusehen, von dem man weitestgehend die Finger lassen sollte. Sollte dies unsere finale Lehre aus der Syrien-Krise ­bleiben, so wäre es ein Rückschritt für die Fähigkeit der Weltgemeinschaft, mit den Mitteln der Vereinten Nationen den Frieden zu sichern. Für den Westen wäre es mehr als das, nämlich moralisch wie politisch eine Bankrotterklärung. 

Wolfgang Ischinger ist seit 2008 Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz. Zuvor war er u.a. Staatssekretär im Auswärtigen Amt.

 
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/Oktober 2013, S. 69-73

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