IP

01. Aug. 2006

Düstere Perspektiven

Der Westen beschönigt die Lage auf dem westlichen Balkan

Im Juni ist auch die letzte der ehemaligen Teilrepubliken
Jugoslawiens, Montenegro, als unabhängiger Staat international anerkannt
worden.
Das von den UN verwaltete Protektorat Kosovo steuert ebenfalls auf die
Souveränität zu. Viele dramatische Strukturprobleme der Region bleiben dennoch
bestehen: Der Europäischen Union fehlt der Wille zu einer strategisch
ausgerichteten, kohärenten Balkan-Politik.

In diesem Jahr, 15 Jahre nach Ausbruch des jugoslawischen Nachfolgekriegs, kommt die politische Neuordnung der südosteuropäischen Staatenkarte zum Abschluss: Als letzte der ehemaligen Teilrepubliken wurde Montenegro im Juni 2006 als unabhängiger Staat international anerkannt. Auch die seit 1999 durch die Vereinten Nationen verwaltete Provinz Kosovo steuert auf die (wahrscheinlich eingeschränkte) Souveränität zu. Zwar erschien die Lösung der Statusfragen überfällig – als Allheilmittel für tiefgreifende regionale Probleme jedoch taugt sie nicht. Amerikaner und Europäer setzen sich angesichts veränderter politischer Prioritäten selbst unter Erfolgsdruck: An die Stelle realistischer Lagebewertungen ist Schönfärberei getreten. Dadurch wird nicht nur die Stabilität in der Region, sondern auch das Ansehen westlicher Akteure aufs Spiel gesetzt.

Vor dem Hintergrund ihrer eigenen Handlungsunfähigkeit während des Jugoslawien-Krieges hat die Europäische Union seit den neunziger Jahren ihr außen- und sicherheitspolitisches Instrumentarium kontinuierlich weiterentwickelt. Gegenüber den so genannten Staaten des westlichen Balkans (Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien und Montenegro, Mazedonien und Albanien) stützt sie sich heute auf drei Ansätze:

  1. den Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess (SAP), der die „europäische Perspektive“, privilegierte Beziehungen und Hilfen anbietet;
  2. den Stabilitätspakt für Südosteuropa, der die regionale Zusammenarbeit fördert;
  3. außen- und sicherheitspolitische Instrumente für Konfliktmanagement und Friedenskonsolidierung, darunter die europäische Friedenstruppe „Althea“ in Bosnien-Herzegowina.

Zu Recht wurden anfänglich fehlende Abstimmung und Kohärenz zwischen den Säulen europäischer Politik kritisiert.1 Nach und nach gelang es der Union jedoch immer überzeugender, ihre Strategien und Instrumente komplementär zu nutzen – zum Beispiel über die in den SAP eingebaute politische Konditionalität, die nicht nur das Tempo der Annäherung steuert, sondern auch einen wichtigen Anreiz für die Beilegung innerer Konflikte in Mazedonien (2001) und Serbien-Montenegro (2002) darstellte.2

Weil die „europäische Perspektive“ für die Balkan-Staaten wegen der anhaltenden Verfassungskrise in der Europäischen Union unklar geworden ist, droht nun aber ein Szenario, das das Zusammenspiel von Gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik (GASP)/Europäischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) und Erweiterungspolitik stört und bisherige Stabilisierungserfolge in der Region gefährdet. Grund dafür ist, dass die auf potenzieller Mitgliedschaft ruhende Kernstrategie der europäischen Balkan-Politik wegen der inneren Verfassungskrise aus dem Lot geraten ist.

Nach Ende des Kosovo-Krieges 1999 hatte die Union alle Staaten des westlichen Balkans als „potenzielle Mitglieder“ anerkannt und ihnen 2003 in Thessaloniki noch einmal ausdrücklich den Beitritt in Aussicht gestellt. Brüssel eröffnete mit Kroatien 2005 Beitrittsverhandlungen und gewährte Mazedonien Kandidatenstatus. Auch die übrigen Länder sind näher an die Union herangerückt: Albanien schloss im Juni 2006 ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen; seit Herbst 2005 dürfen auch Bosnien-Herzegowina und Serbien-Montenegro über ein ähnliches Abkommen verhandeln. Die Gespräche mit Belgrad wurden allerdings wegen mangelhafter Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien zwischenzeitlich ausgesetzt.

Die europäische Perspektive wirkt als wichtigster und effektivster Anreiz für innere Reformen und Konfliktlösung in Südosteuropa. Ob und wann die Länder des westlichen Balkans tatsächlich der EU beitreten werden, ist jedoch fraglich. Denn die gescheiterten Verfassungsreferenden in Frankreich und den Niederlanden haben Bedenken über eine mögliche Südosterweiterung genährt. Zwar hatten die Europa-Gegner ihr Veto gar nicht mit der Gefahr einer möglichen geographischen Überdehnung oder kulturellen Überfremdung der Union begründet. Aber was lag näher, als die offensichtliche Vertrauenskrise auf den Beitritt von zehn neuen Mitgliedern im Mai 2004 zu schieben? Sollte angesichts diffuser Ängste innerhalb der EU nicht besser über Alternativen zur Vollmitgliedschaft nachgedacht werden, wie der Auswärtige Ausschuss des Europaparlaments vorschlug?3

Kritiker verweisen auf Akzeptanzprobleme, Funktionsdefizite und finanzielle Engpässe der sich immer weiter ausdehnenden Union. Das von der Kommission im November 2005 vorgelegte Strategiepapier, das die Schritte einer künftigen EU-Südosterweiterung ausformuliert, blieb unter den Mitgliedsstaaten umstritten.4

Beim EU-Ratstreffen in Brüssel wurde deshalb im Juni 2006 unterstrichen, dass  „das Tempo der Erweiterung der Aufnahmefähigkeit der Union Rechnung tragen muss“. Es solle mehr darauf geachtet werden, „dass die Union in der Zukunft bei einer Erweiterung in politischer, finanzieller und institutioneller Hinsicht arbeitsfähig“ bleibe.5 Zu den bestehenden Konditionen (Kopenhagener Kriterien, Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof  in Den Haag usw.) sind nun Bedingungen hinzugekommen, die die Westbalkan-Staaten gar nicht mehr selber durch politisches Wohlverhalten erfüllen können, was einen immens demoralisierenden Effekt auf die Reformkräfte hat.

Nicht nur die politischen Anreize, auch die finanzielle Unterstützung ist schwächer geworden. In den letzten drei Jahren (2002–2005) sind die internationalen Hilfen für die Westbalkan-Staaten um ein Drittel zurückgegangen: von 149 Euro auf 106 Euro pro Kopf der Bevölkerung, davon wachsende Anteile nicht mehr als Zuschüsse, sondern als Kredite.6 Ab 2007 wird die Europäische Kommission ihre Vorbeitrittshilfen über ein neues Programm abwickeln, das zugleich Kandidaten und Nichtkandidaten bedient. Da der bevorstehende Beitritt Rumäniens und Bulgariens und die Verhandlungen mit Kroatien enormen Zeitdruck erzeugen, will Brüssel diese Länder vorrangig bedienen. Dagegen sind langfristige Strukturhilfen für den Westbalkan vorerst nicht vorgesehen. Immer größere Anteile an Mitteln werden so in Länder mit einer konkreten Mitgliedschaftsperspektive gelenkt, auf Kosten der Nachzügler.

Trotz schöner Worte der EU laufen die Balkan-Länder also Gefahr, in eine gefährliche Ghettosituation zu geraten. Wenn Bulgarien, Rumänien und eventuell Kroatien noch in diesem Jahrzehnt der Union beitreten, bleibt inmitten der EU ein weißer Fleck auf der politischen Landkarte zurück. Vier Staaten mit einer Bevölkerung von lediglich rund 22 Millionen werden von 28 EU-Mitgliedsländern mit über 493 Millionen Bürgern umringt und nicht nur durch ein strenges Visaregime, sondern auch ein beträchtliches Wohlstandsgefälle abgeschottet sein. Innerhalb der Union ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf mehr als 22-mal so hoch wie das der Sitzenbleiber auf dem Balkan.

Für die Staaten des westlichen Balkans ergibt sich ein bedrohliches Szenario. Denn zwar hat sich die Lage insgesamt stabilisiert: Alle Länder der Region haben beachtliche Fortschritte in Bezug auf Demokratisierung, Medienfreiheit und Rechtsstaatlichkeit vorzuweisen. Instabile Regierungen, Anfälligkeit für extremen Nationalismus und die Verfolgung von Minderheiten sind aber weiterhin gang und gäbe. Und trotz eines beachtlichen Wirtschaftswachstums von vier bis sechs Prozent liegt das Gesellschaftsprodukt im Durchschnitt noch immer rund ein Drittel unter dem Niveau von 1989. In Bosnien, Serbien und Montenegro, im Kosovo und in Mazedonien erreicht die Arbeitslosenzahl weit über 30 Prozent, in Bosnien und im Kosovo über 40 Prozent. Ein Drittel der Bevölkerung lebt am Rande oder unter dem Existenzminimum. Dies ist der Hintergrund, vor dem die jüngsten politischen Entwicklungen in der Region zu bewerten sind, die zwar einigen Grund zum Optimismus, jedoch ebenso Anlass zu tiefer Sorge bieten.

Strukturelle Blockaden in Bosnien-Herzegowina

In Bosnien-Herzegowina erscheint die Bilanz zehn Jahre nach Kriegsende gemischt. International herrscht Konsens, dass das Dayton-Abkommen (November 1995) zwar die militärische Konfrontation beendet, nicht jedoch bereits einen stabilen Frieden herbeigeführt habe.

In Dayton war versucht worden, einen Kompromiss zwischen den prinzipiell nicht zu vereinbarenden Interessen der Konfliktparteien zu schließen. Dadurch ist ein hybrides Staatswesen mit aufgeblähter Verwaltung und dysfunktionalen Institutionen entstanden. Alle wichtigen Entscheidungen werden durch den machtvollen Hohen Repräsentanten der Staatengemeinschaft gefällt. Denn einerseits blieb Bosnien-Herzegowina als Gesamtstaat erhalten, was im Interesse der Bosniaken lag, andererseits wurden zwei föderale Entitäten mit extrem starken Befugnissen geschaffen: Neben der bosniakisch-kroatischen Föderation erhielt auch die im Krieg durch Gewalt und Vertreibung entstandene Republika Srpska Verfassungsstatus.

Seither dominiert die Frage, wie die monströse Verfassungskonstruktion reformiert werden könne. Dabei hatte der Wunsch der Bosniaken, die Republika Srpska abzuschaffen, bislang ebenso wenig Aussicht auf Erfolg wie die in regelmäßigen Abständen wiederkehrenden Vorstöße der Kroaten, eine dritte, kroatische Entität zu schaffen, die während des Krieges in Form des Parastaats Herceg Bosna schon einmal bestand.

Im April 2006 scheiterte ein Paket von Verfassungsreformen zur Stärkung des Gesamtstaats an der notwendigen Zweidrittelmehrheit im bosnisch-herzegowinischen Parlament. Der unter starkem Druck der USA ausgehandelte Kompromiss sah eine Stärkung der Zentralregierung auf Kosten der Entitäten, die Ersetzung des dreiköpfigen Staatspräsidiums durch einen Präsidenten und die Beschränkung von Vetorechten vor. Optimistisch gestimmte Beobachter glaubten, dass die Ablehnung der Verfassungsreform wahltaktischen Überlegungen geschuldet war, weshalb ein erneuter Anlauf nach den Parlamentswahlen im Oktober 2006 möglich werde. In Wirklichkeit stehen aber immer noch die seit dem Kriege vorhandenen tiefgreifenden, nicht zu vereinbarenden Interessengegensätze der Kontrahenten im Raum. Die Staatengemeinschaft verschließt die Augen davor, dass der Dayton-Prozess Konflikte nur eingehegt, ihre tieferliegenden Ursachen jedoch nicht beseitigt hat. 

So lassen sich auch auf vielen anderen Gebieten trotz massiver internationaler Hilfen nur gemischte Bilanzen ziehen.

Als wichtigster Fortschritt ist anzusehen, dass in Bosnien-Herzegowina keine unmittelbare Kriegsgefahr mehr besteht – die Präsenz der internationalen Friedenstruppen konnte von ursprünglich 60 000 auf 6000 Soldaten reduziert werden. Am 2. Dezember 2004 übernahm die EU das Mandat der NATO: aus IFOR/SFOR wurde die Operation „Althea“, an der sich Deutschland als größter Truppensteller mit 1100 Soldaten beteiligt.

Von den mehr als zwei Millionen Menschen, die während des Bosnien-Krieges ihre Heimat verloren, sind bis Ende April 2006 rund zwei Drittel zurückgekehrt. Darunter sind 455 105 so genannte Minderheiten-Rückkehrer.7 Zahlreiche Flüchtlinge und Vertriebene haben jedoch bis heute noch keine dauerhaften Lösungen finden können, sei es durch Rückkehr oder Integration in die Aufnahmegesellschaft: Das betrifft rund 200 000 Menschen innerhalb Bosnien-Herzegowinas, fast 400 000 in Serbien.8 Auch in der Nach-Dayton-Periode haben Menschen aus ethnopolitischen Motiven ihre Heimat verlassen müssen: Zwischen 1996 und 1999 waren es noch einmal 60 000.9

Dank der massiven Interventionen des Hohen Repräsentanten hat Bosnien-Herzegowina Fortschritte bei der Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsraums, beim Aufbau einer gemeinsamen Armee und – in geringerem Maße – bei der Polizei- und Justizreform erzielt. Zehn Jahre nach Kriegsende hat das Land Verhandlungen über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Kommission aufgenommen. Neben der desolaten Wirtschaftslage, einer 40-prozentigen Arbeitslosigkeit und mangelhafter Zusammenarbeit mit dem Den Haager Kriegsverbrechertribunal steht vor allem die Frage im Raum, wie die seit langem beschworene Eigenverantwortung der Bosnier für ihr Land gestärkt werden kann. Die internationale Verwaltung durch den Hohen Repräsentanten soll alsbald abgewickelt werden. Dass die mehrheitlich national denkenden Eliten Bosnien-Herzegowinas aufrichtiges Interesse an einem funktionierenden und effizienten Gemeinwesen hätten, darf im Sommer 2006 aus vielerlei Gründen bezweifelt werden. Zudem haben die desintegrativen Kräfte durch den Zerfall der Staatenunion Serbien und Montenegro neuen Auftrieb erhalten.

Übersteigerter Optimismus in Montenegro

Im Frühsommer 2006 ist der institutionelle Rest Jugoslawiens, die Staatenunion Serbien und Montenegro, endgültig zerfallen, was aus verschiedenen Gründen unvermeidlich war. Die Bevölkerung Montenegros hatte sich 1992 in einem Referendum für den Zusammenschluss mit Serbien in einer jugoslawischen Föderation ausgesprochen. Während der Miloševic-Ära hatten sich die Beziehungen zwischen der „montenegrinischen Maus“ (620 000 Einwohner) und dem „serbischen Elefanten“ (7,5 Millionen ohne das Kosovo) jedoch verschlechtert. Zum offenen Konflikt kam es, als der Miloševic-Widersacher Milo Djukanovic im Oktober 1997 die Präsidentschaftswahlen in Montenegro gewann und – als vermeintlich demokratische Alternative vom Westen hofiert – konsequent auf die Unabhängigkeit zusteuerte.

Die Sezessionswünsche Montenegros waren weniger ethnisch als politisch und ökonomisch motiviert, denn die Frage der Identität der Montenegriner ist alles andere als geklärt. Nicht alle Montenegriner und Serben  betrachten einander als Angehörige verschiedener Völker. Sie sprechen lediglich zum Teil unterschiedliche Varianten einer gemeinsamen Schriftsprache; ein großer Teil versteht sich als dem serbischen Volk zugehörig. Allerdings besitzt Montenegro eine in das Jahr 1878 zurückreichende eigene Staatstradition. Schon damals war die politische Szene Montenegros in Anhänger eines unabhängigen Staates und Befürworter der Vereinigung mit Serbien gespalten.10

Der Wunsch der politischen Klasse nach staatlicher Unabhängigkeit erschien problematisch, weil sich bei der Bevölkerungs-zählung 2003 lediglich 43 Prozent der Bevöl-kerung als (ethnische) Montenegriner und 32 Prozent als Serben deklarierten. Hinzu kamen Minderheiten, vor allem slawische Muslime und Bosniaken (zusammen fast 12,6 Prozent) sowie Albaner (5 Prozent). Wer in Montenegro für den Erhalt der Staatenunion eintrat und wer für die Unabhängigkeit, war zuallererst eine politische und keine nationale Frage. Die meiste Zeit stand es ungefähr 50:50.

Für Ministerpräsident Milo Djukanovic, der seine Macht auf das Versprechen der montenegrinischen Unabhängigkeit gründete, war die Separation von Serbien eine Frage des politischen Überlebens. Nur durch massive Intervention der EU konnte 2002 ein Moratorium für die Unabhängigkeitserklärung erwirkt werden. Die von Javier Solana vermittelte Staatenunion Serbien und Montenegro (Belgrader Abkommen 2002 und Verfassungscharta 2003) sah die Möglichkeit vor, nach drei Jahren ein Referendum über den Erhalt des gemeinsamen Staates durchführen zu lassen. Djukanovic, dessen Popularität wegen schlechter Wirtschaftsdaten und Korruptionsvorwürfen gelitten hatte, erkannte im Vorfeld der im Herbst 2006 anstehenden Parlamentswahlen in der Unabhängigkeitsfrage ein probates Mittel, seine Zustimmungswerte zu verbessern. Den Montenegrinern wurde ökonomischer Aufschwung und eine schnellere Annäherung an die EU versprochen, den ethnischen Minderheiten zudem eine Aufwertung ihres Status.

Am 21. Mai 2006 haben rund 86,5 Prozent der Wahlberechtigten mit einer knappen Mehrheit von 55,53 Prozent für die Unabhängigkeit Montenegros gestimmt und damit ein von Brüssel erhobenes Quorum erfüllt. Neben anderen Regierungen hat auch die serbische die Unabhängigkeit des jüngsten europäischen Staates im Juni offiziell anerkannt.

Überschwenglich optimistische Erwartungen, welche die Advokaten der Unabhängigkeit vortragen, erscheinen überzogen, vor allem was die wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten des Ministaates angeht.11 Die touristische Infrastruktur, die als ökonomisches Hauptpotenzial gilt, ist nur bedingt konkurrenzfähig und wurde vor allem von Serben frequentiert.  Die wenigen Großunternehmen, die das Land besitzt, gingen – wie ein Aluminiumwerk und die Telefongesellschaft – bereits in den Besitz ausländischer Firmen über. Potenzielle Investoren halten sich zurück, da der Markt winzig und das Geschäftsklima wegen der Rechtsunsicherheit, ausufernder Kriminalität und offensichtlichen Verbindungen zwischen staatlichen Organen und mafiösen Strukturen schlecht ist.12 So ist vorerst auch nicht zu erwarten, dass Montenegro rasch an die EU heranrückt.

Die Unabhängigkeit Montenegros hat andere Autonomie- und Unabhängigkeitsbestrebungen in der Region bestärkt.13 Unmittelbar nach dem Referendum forderte der Premierminister der Republika Srpska, Milorad Dodik, sein Volk über den Verbleib in Bosnien-Herzegowina entscheiden zu lassen. Er wurde jedoch umgehend von internationaler Seite zur Ordnung gerufen. Auch im muslimisch-bosniakisch besiedelten Sandschak, durch den mit der Aufspaltung Serbien und Montenegros nun eine internationale Grenze führt, machen sich – ebenso wie in der mehrheitlich von Ungarn besiedelten serbischen Vojvodina – weitergehende politische Forderungen (Autonomie, Klärung des Rechtsstatus) breit. Vor allem die Kosovaren sehen die Entwicklung als Bestätigung dafür, dass jegliche Verbindungen mit Serbien zerrüttet sind.

Geschönte Bilanzen im Kosovo

Nach Montenegro steuert auch die seit 1999 durch die Vereinten Nationen verwaltete, ehemals serbische Provinz Kosovo auf die Unabhängigkeit zu. Aber auch hier erscheinen Hoffnungen überzogen, die baldige Souveränität könne die vielfältigen Probleme rasch lösen.

In den letzten Jahren ist der Druck gewachsen, die Protektoratsverwaltung abzubauen und eine Statuslösung für das Kosovo zu suchen. Die Kosovaren haben UNMIK koloniales Gebaren vorgeworfen und  mit wachsender Ungeduld einen rascheren Machttransfer auf die lokalen Institutionen gefordert. Als es im März 2004 zu Ausschreitungen und Vertreibungen von Nichtalbanern kam, wurde klar, dass das Konzept der Staatengemeinschaft vor dem Scheitern stand. Denn die internationale Gemeinschaft hatte in erster Linie Symptome bekämpft. Zwar hat sich die Sicherheits-lage zeitweilig entspannt, institutioneller und wirtschaftlicher Wiederaufbau machten Fortschritte. Eine Rezeptur gegen die tieferliegenden Strukturprobleme jedoch gab es nicht.

Im Oktober 2005 hatte der Sicherheitsrat dennoch Gespräche über den künftigen Status des Kosovos autorisiert. Zuvor hatte der UN-Sondergesandte Kai Eide in seinem Evaluierungsbericht geraten, trotz erheblicher Defizite bei der Umsetzung der Kosovo-Standards aus stabilitätspolitischen Erwägungen unverzüglich mit dem Status-Prozess zu beginnen.14 Im Februar 2006 eröffnete UN-Vermittler Martti Ahtisaari direkte Gespräche zwischen Belgrad und Priština. Nach technischen Fragen wird seit Juli auch über den Status der Provinz debattiert. Von echten Verhandlungen ist angesichts der unversöhnlichen Positionen beider Seiten allerdings nicht zu sprechen: Die Kosovaren beharren auf vollständiger Souveränität, während Belgrad nach wie vor nur weitreichende Autonomie zugestehen will. Es ist mit einem Oktroy des Sicherheitsrats zu rechnen, dessen wahrscheinlichstes Ergebnis eine „eingeschränkte“ und international beaufsichtigte Unabhängigkeit des Kosovos sein wird.

Da dieses Ergebnis politisch vorentschieden und nur auf dem Papier „offen“ ist, wird die Lage im Kosovo schön geredet. Der jüngste Bericht des Chefs der UNMIK, Sören Jessen-Petersen, berichtet von Fortschritten und lässt Defizite, zum Beispiel in der Minderheitenpolitik, unerwähnt.15

Trotz der massiven NATO-Militärpräsenz wurden von Mitte 1999 bis 2002 rund 235 000 Nichtalbaner aus der Provinz vertrieben, vor allem Serben und Roma, aber auch andere Volksgruppen. Nur 14 648 konnten nach jüngsten Angaben zurückkehren. Nach offizieller Sprachregelung gilt die Situation der noch im Kosovo lebenden ethnischen Minderheiten als „unbefriedigend“. Tatsächlich sind Nichtalbaner Diskriminierung, Einschüchterung und Verfolgung ausgesetzt, die meisten haben keinen Zugang zu Bildung, Arbeitsmarkt und Gesundheitsversorgung. Im März 2004 kam es zu organisierten Ausschreitungen gegen Minderheiten: Tausende flohen vor dem anstürmenden Mob, Häuser und orthodoxe Kirchen gingen in Flammen auf. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch beklagt in ihrem jüngsten Bericht „mäßige Fortschritte“ bei der strafrechtlichen Verfolgung dieser Verbrechen. Auch die Ahndung von politisch und ethnisch motivierten Gewalttaten vor 2004 sowie von Kriegsverbrechen sei „mangelhaft“.16

Die Frage von Minderheitenrückkehr und -rechten rührt an das nationale Grundverständnis der Kosovaren, die ihr Gemeinwesen mehrheitlich als albanisch, nicht als multiethnisch begreifen. Neben Rachegefühlen treiben sie Befürchtungen, dass Belgrad die verbliebenen Serben benutzt, um territoriale Ansprüche und poli-tischen Einfluss geltend zu machen. Die serbische Regierung trägt hierfür insofern Mitverantwortung, als sie – wider besseres Wissen – keine Gelegenheit auslässt zu erklären, das Kosovo sei immer noch ein Bestandteil Serbiens. Zudem unterstützt Belgrad die serbischen Parallelstrukturen in der geteilten Stadt Mitrovica. Aus Angst, selbst zur Zielscheibe zu werden, hat die Staatengemeinschaft die Untergrundstrukturen der formell aufgelösten „Kosovo Befreiungsarmee“ (UÇK) unangetastet gelassen, die nachweislich Verbindungen zu großalbanischen Terrorgruppen wie der „Albanischen Nationalarmee“ unterhielt. Das aus der UÇK hervorgegangene Schutzcorps soll lediglich Zivilschutzaufgaben wahrnehmen. Tatsächlich versteht es sich aber als Kern einer künftigen Armee des Kosovos. Der ehemalige oberste Kommandeur der UÇK, Agim Çeku, hat im Frühjahr 2006 das Amt des Ministerpräsidenten des Kosovos übernommen.

Die EU befindet sich in einer wenig beneidenswerten Lage, da sie die Hauptverantwortung für die Implementierung der vom UN-Sicherheitsrat zu verordnenden Statuslösung übernehmen muss. Bereits am 10. April 2006 hatten die Außenminister den Aktionsplan für eine Mission verabschiedet, die ab Januar 2007 Aufgaben im Bereich der Förderung von Rechtsstaatlichkeit, innerer Sicherheit und wirtschaftlicher Entwicklung von UNMIK übernehmen soll.

Niemand scheint sich zu fragen, wie sich die von Priština eingeforderte Verpflichtung zum Schutz von Menschen- und Minderheitenrechten in einem unabhängigen Kosovo effektiv implementieren lässt. Wie sollte verhindert werden, dass (Zehn-)Tausende aus Angst vor Verfolgung die Provinz verlassen? Was sollte unternommen werden, wenn sich das serbisch kontrollierte Territorium in und um Mitrovica verselbständigt, wo sich die Serben bereits vorsorglich bewaffnen? Es sieht danach aus, dass die Staatengemeinschaft – wie in den neunziger Jahren – vor unangenehmen Wahrheiten die Augen verschließt und keine Vorkehrungen gegen absehbare Krisensituationen trifft.

Auch an der desolaten wirtschaftlichen Lage des Kosovos mit seiner rund 50-prozentigen Arbeitslosigkeit dürfte sich auf absehbare Zeit wenig ändern. Defizite im Rechtsstaatsbereich, Modernisierungsrückstände, Kapitalmangel, Energiekrise und unklare Eigentumsrechte werden ausländischen Investitionen und dem erhofften ökonomischen Aufschwung, auch nach Klärung der Statusfrage, weiter im Weg stehen. Die Haupteinnahmequellen des Kosovos speisen sich aus internationalen Hilfsgeldern, Gastarbeiterbezügen sowie den Gehältern des ausländischen Friedenspersonals. Durch den Abbau der Missionen fließen bereits jetzt immer weniger internationale Gehälter in den Wirtschaftskreislauf. Das durch die Hilfen ausgelöste Scheinwachstum wird früher oder später in sich zusammenfallen.

Politische Instabilität in Serbien

Wegen der Unabhängigkeit Montenegros, vor allem aber des Kosovos, ist die serbische Regierung und Präsidentschaft innenpolitisch stark unter Druck geraten. Der Zugang zum Meer und die Wiedergewinnung der „Wiege der serbischen Nation“ galten als nationale Jahrhundertprojekte, die nun endgültig gescheitert sind. Daneben stehen 2006 zwei weitere extrem heikle Themen auf der politischen Agenda: die Auslieferung mutmaßlicher Kriegsverbrecher an das Jugoslawien-Tribunal sowie der Genozidprozess vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag, den die bosnische Regierung 1993 gegen den serbischen Staat angestrengt hat. Durch ihn sitzen in Den Haag nicht mehr nur Einzelne, sondern ein ganzer Staat auf der Anklagebank. 

Die Koinzidenz der Ereignisse macht es den demokratischen Kräften in Serbien schwer, in der Bevölkerung um Verständnis für schwierige Entscheidungen zu werben. Es herrscht das Gefühl, dass es der Staatengemeinschaft in erster Linie darum geht, die Regionalmacht strategisch einzudämmen und das serbische Volk kollektiv zu bestrafen.17

Belgrad ist klar, dass das Kosovo längst verloren ist, jedoch ist dies mit dem serbischen Nationalstolz schwer vereinbar. Deshalb wäre man für eine gesichtswahrende Lösung dankbar, zum Beispiel, wenn die Aufgabe der traditionsreichen Provinz durch verbesserte Zusammenarbeit mit der EU kompensiert werden könnte. Dies wurde in den Statusgesprächen jedoch a priori ausgeschlossen.

Hinzu kommt die noch unerfüllte Forderung, den flüchtigen bosnisch-serbischen General Ratko Mladic an den Internationalen Strafgerichtshof  auszuliefern, weshalb die EU im Mai 2006 ihre Verhandlungen über ein Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen aussetzte. Die Union ist jedoch bereit, die Verhandlungen mit Serbien wieder aufzunehmen, sobald Belgrad „uneingeschränkt“ mit der Anklagebehörde zusammenarbeitet.18 Das überraschende Ableben des wichtigsten Den Haager Angeklagten, Slobodan Miloševic, hat viele Serben gegen das Gericht aufgebracht. Vor allem jene sind verbittert, die die unpopuläre Überstellung damals ermöglicht und mitgetragen haben.

Angesichts des internationalen Druckes begreift es der nationalkonservative serbische Ministerpräsident Vojislav Koštunica dennoch als Pflicht, mit der Anklagebehörde zusammenzuarbeiten. Er steht jedoch vor der schwierigen Aufgabe, außenpolitische Notwendigkeiten gegen innenpolitische Gefahren abzuwägen. Vor allem muss er dabei die parteipolitische Konstellation in seinem Land im Blick behalten. Seine Minderheitsregierung ist im Parlament auf die Tolerierung durch die Sozialisten angewiesen, deren Ehrenvorsitzender Slobodan Miloševic war.

Sollte die wacklige Regierungskoalition zerbrechen und es dadurch zu vorzeitigen Neuwahlen kommen, hätte besonders die extrem nationalistische Serbische Radikale Partei gute Chancen, ihren Vorsprung als stärkste Partei im Parlament noch weiter auszubauen. Sie ist das Sammelbecken der frustrierten, häufig ärmeren und weniger gebildeten Schichten. Ein weiterer Rechtsruck in Serbien durch Stärkung der Radikalen läge nicht im Interesse des Westens: Er würde weitere Reformen verzögern und das Land erneut in die Isolation führen. Auch regionale Folgen stünden zu befürchten, da die gemäßigten Politiker in der Republika Srpska unter Druck gerieten. Nicht weniger gefährlich wäre es, wenn Serbien durch zwei etwa gleich starke politische Lager auf lange Zeit paralysiert bliebe.

Um einen kurzfristigen Erfolg in der Statusfrage vorweisen zu können, wird von Belgrad nicht nur erwartet, dass es Einschnitte in seine territoriale Integrität und den Verlust historisch bedeutsamen Territoriums bedingungslos hinnimmt. Es soll die bevorstehende unpopuläre Entscheidung durch Einflussnahme auf die Kosovo-Serben auch noch tatkräftig unterstützen.

Fazit

Zehn Jahre nach Abschluss des Daytoner Abkommens, das den jugoslawischen Zerfallskrieg beendet hat, verdüstern sich die Aussichten für die Balkan-Länder, in absehbarer Zeit der EU beizutreten. Je unwahrscheinlicher und ferner eine mögliche Südosterweiterung erscheint, desto schwächer ist der Zugriff der EU auf die Lösung der vielfältigen Probleme auf dem Balkan. Zum einen werden die politischen Partner in der Region diskreditiert, wenn es keine glaubwürdigen Anreize für die Durchsetzung schmerzhafter Reformen mehr gibt. Zum zweiten gehen wichtige Impulse für die Konfliktlösung verloren, wenn – wie im Kosovo –, politischer Prozess und Assoziierungsgespräche auf völlig getrennten Gleisen verlaufen. Drittens stehen Kohärenz und Effektivität der europäischen Balkan-Politik auf dem Prüfstand, wenn das Zusammenspiel zwischen den Säulen der EU nicht mehr reibungslos funktioniert. Auf dem Balkan steht die EU im kommenden Jahr vor neuen Aufgaben – und sie ist darauf denkbar schlecht vorbereitet.

Prof. Dr. MARIE-JANINE CALIC, geb. 1962, lehrt Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians- Universität in München.

  • 1 Rory Keane: The Solana Process in Serbia and Montenegro: Coherence in EU Foreign Policy, International Peacekeeping, 3/2004, S. 491–507.
  • 2 Alexandros Yannis: EU Foreign Policy in the Balkans: A Credibility Test, CFSP Forum, 3/2005, S. 3, www.fornet.info/documents/CFSP%20Forum%20vol%203%20no%202.pdf.
  • 3 European Parliament Committee on Foreign Affairs: Report on the Commission’s 2005 enlarge- ment strategy paper, www.europarl.europa.eu.
  • 4 Commission of the European Communities: 2005 Enlargement Strategy Paper, Brussels 2005.
  • 5 Rat der Europäischen Union, Brüssel, 16.6.2006; die Schlussfolgerungen sind in der Dokumentation dieser Ausgabe enthalten, vgl. www.internationalepolitik.de.
  • 6 Vgl. ausführlich Marie-Janine Calic: Der Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess auf dem Prüfstand, Südosteuropa, 1/2005, S. 1–37.
  • 7 UNHCR Representation in Bosnia and Herzegovina: Statistical Summary, www.unhcr.ba.
  • 8 UNHCR: Estimate of Refugees and displaced persons still seeking solutions in South-Eastern Europe, www.unhcr.ba.
  • 9 Norwegian Refugee Council/Global IDP Project: Profile of Internal Displacement: Bosnia and Herzegovina, Compilation of the information available in the Global IDP Database of the Norwegian Refugee Council, März 2005, S. 7.
  • 10 Vgl. Florian Bieber (Hsrg.): Montenegro in Transition. Problems of Identity and Statehood, Baden-Baden 2003.
  • 11 Vgl. z.B. International Crisis Group: Montenegro’s Referendum – Europe Briefing No 42, Podgorca/Belgrade/Brussels 2006.
  • 12 Commission of the European Communities: Report on the preparedness of Serbia and Montenegro to negotiate a Stabilisation and Association Agreement with the European Union, Brussels 2005, S. 7.
  • 13 Amaël Cattaruzza: Monténégro: la marche vers l’indépendance, CERI /Alternatives internationales, 5/2006, www.ceri-sciences-po.org, 20.6.2006.
  • 14 Kai Eide: A comprehensive Review of the Situation in Kosovo, Report of Special Envoy of UN Secretary General, zu finden in der Dokumentation 12/2005 unter www.internationalepolitik.de.
  • 15 Michael Martens: Jessen-Petersens letzter Bericht, faz.net, 20.6.2006.
  • 16 Human Rights Watch: Not on the Agenda: The Continuing Failure to Address Accountability in Kosovo Post-March 2004, hrw.org/german/docs/2006/05/30/serbia13473.htm.
  • 17 Iavor Rangelov: International Law and Local Ideology in Serbia, Peace Review, 3/2004, S. 331–337.
  • 18 Rat der Europäischen Union, Brüssel 16. Juni 2006 (Anm. 5).
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 8, August 2006, S. 86‑95

Teilen

Mehr von den Autoren