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01. Nov. 2010

Du bist Brüssel

Die Europäische Bürgerinitiative

Die Unzufriedenheit mit der Europäischen Union nimmt in Zeiten der Krise zu. Ein häufig erhobener Vorwurf: Der „einfache“ 
EU-Bürger habe in Brüssel nichts zu sagen. Dabei eröffnet der Vertrag von Lissabon eine neue Form der Partizipation – die Europäische Bürgerinitiative. Von manchen als Placebo verspottet, wartet sie nun auf ihre Premiere.

Selten stand „der Bürger“ so hoch im Kurs wie derzeit. Zumindest rhetorisch ist er in die politische Debatte zurückgekehrt. Versuchten die Parteien noch vor wenigen Jahren in ihrer Kommunikation vor allem „die Menschen“ zu erreichen, so erleben wir nun die sprachliche Repolitisierung des Bürgers. Sie hat eine Ursache. In Deutschland beobachten wir bei inzwischen unmöglich zu verschleiernder Distanz zwischen Regierenden und Regierten ein Erwachen des Bürgertums. „Die Dagegen-Republik“ titelte kürzlich der Spiegel und beschrieb die neuen Protestwellen in vermeintlich konservativ-bürgerlichen Hochburgen wie Hamburg, Stuttgart und München. Proteste auf der Straße gehen dabei einher mit einer erhöhten Nutzung und Weiterentwicklung von Bürgerbeteiligungsverfahren – von Bürgerinitiativen über Bürgerhaushalte bis zu Bürgerforen im Internet.

Genau in dieser Zeit sich erhitzender (zumindest deutscher) Bürgerlichkeit schafft Brüssel mit der Europäischen Bürgerinitiative ein ganz neues Element, um die Demokratie der EU zu stärken. Ein Versuch mit unbekannter Wirkung, eine Neuerung mit Sprengkraft. Der Bürger kam über viele Jahre in der EU lediglich in Form der so genannten „organisierten Zivilgesellschaft“ vor. Also gar nicht. Hinter diesem Polit-Sprech verbarg sich das Einbinden von organisierten Gruppen und Verbänden in eine weitgehend klandestine Gremienpolitik unter Aufsicht der EU-Kommission.

Stell dir vor, es ist Bürgerinitiative …

Mit der Europäischen Bürgerinitiative dürfte sich das ändern. Allein, die meisten Bürger haben es noch gar nicht bemerkt. Dabei sind gerade sie nun am Zug. An ihnen ist es, das bislang nur auf dem Papier existierende Instrument der Bürgerinitiative zu nutzen, mit Leben zu füllen und ihre Anliegen auf die Agenda der europäischen Politik zu setzen.

Was genau verbirgt sich dahinter? Im telefonbuchdicken Vertrag von Lissabon nimmt die Bürgerinitiative gerade mal ein paar Zeilen ein. Eine Million EU-Bürger, heißt es da lapidar, können die Kommission auffordern, einen Gesetzesvorschlag auszuarbeiten. Voraussetzung ist lediglich, dass sie aus einer „erheblichen“ Anzahl von Mitgliedstaaten kommen. Inhaltlich schränkt der Vertrag mögliche Initiativen durch zwei Vorgaben ein. Erstens müssen sie mit den europäischen Verträgen und damit auch der Grundrechte-Charta vereinbar sein, und zweitens muss sich die Initiative im Rahmen der Befugnisse der Kommission bewegen. Ein Vorschlag, der die Religionsausübung einer bestimmten Gruppe einschränkt, wäre demnach ebenso unzulässig wie die Forderung nach einem einzigen Standort des europäischen Parlaments.

Das genaue Verfahren für die Bürgerinitiative soll in einer Verordnung festgelegt werden. Die Vorschläge, die Kommission und Rat kürzlich dafür vorgelegt haben, unterscheiden sich nur in wenigen Details. Die notwendigen Unterschriften für eine Bürgerinitiative müssen demnach aus mindestens einem Drittel der Mitgliedstaaten kommen, also derzeit neun. Sowohl einzelne Personen als auch Organisationen können eine Bürgerinitiative starten, sie muss bei der Kommission angemeldet und ein Bericht über Finanzierung und Unterstützer der Initiative veröffentlicht werden. Nach der Anmeldung haben die Organisatoren ein Jahr lang Zeit, um online oder persönlich Unterschriften zu sammeln. Liegen eine Million Unterschriften oder mehr vor, dann hat die Kommission wiederum vier Monate Zeit, darauf zu reagieren – allerdings genügt dafür ein Bericht an Parlament und Rat. Was noch fehlt, ist ein eigener Vorschlag des Europäischen Parlaments, damit das Verfahren zur Bürgerinitiative ein Jahr nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon verabschiedet werden kann.

Hohe Hürden

Kritiker wie Mehr Demokratie e.V. werfen der Europäischen Kommission vor, die Anforderungen für Organisatoren einer Initiative zu hoch zu setzen, während sie selbst sich zu kaum etwas verpflichte. Auch die Hürde von neun Mitgliedstaaten, aus denen die Unterschriften kommen müssen, ist nicht leicht zu nehmen. Doch letztlich sind all diese formalen Festlegungen für den Erfolg der Europäischen Bürgerinitiative nicht entscheidend. Wichtiger ist, dass es den Initiatoren gelingt, über die notwendige eine Million Unterschriften einen gesellschaftlichen Resonanzboden zu erzeugen, der es trotz des Fehlens von rechtlichen Sanktionsmöglichkeiten für die Kommission schwer macht, Themen zu ignorieren oder protokollarisch zu erledigen.

Bisher scheint es, als würden die großen zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Amnesty International oder Greenpeace zum Nutznießer des neuen Instruments werden. Interessenverbände wie der Europäische Gewerkschaftsbund mit 60 Millionen Mitgliedern haben eben andere Möglichkeiten als Otto Müller, Henry Leclerc oder Anna Kowalska. Um zu gewährleisten, dass auch der einzelne Unionsbürger eine solche Initiative ins Leben rufen kann, dürfte dem Internet entscheidende Bedeutung zukommen.

Doch bleibt die Frage, wie ein internetbasiertes Vorgehen über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg eine kollektive Meinungsbildung ermöglichen kann. Die EU hat zwar in den vergangenen Jahren weit mehr als 100 Millionen Euro in die Entwicklung und Nutzung von e-Partizipationsprojekten gesteckt. Doch wie die daraus gewonnenen Erfahrungen für die Bürgerinitiative genutzt werden können, steht in den Sternen. Natürlich wäre es wünschenswert, wenn sich die EU selbst für die Entwicklung eines Online-Tools einsetzt, mit dem Unionsbürger Initiativen starten und sich vernetzen können. Aber warum sollte sich etwa die Kommission mit allzu großem Technikengagement freiwillig ein Problem ans Bein binden?

„Sonntag gehört Mami mir“

Viele Europa-Abgeordnete beäugen die Bürgerinitiative bei aller verbalen Zustimmung kritisch. Schließlich definiert und geriert sich das Europäische Parlament als Hort der Demokratie in der EU und als Sprachrohr der Bürger. Jede direktdemokratische Neuerfindung rüttelt an diesem Image. Doch liegt der Charme der Bürgerinitiative eben gerade darin, dass sie sich der Dichotomie von repräsentativer und plebiszitärer Demokratie enthebt. Eine historische Neuerung – auch wenn sie auf leisen Sohlen daherkommt.

Gerade für Abgeordnete und die bisher nur rudimentär vorhandenen europäischen Parteienfamilien ist die Bürgerinitiative eine Chance, für sich und ihre Anliegen zu werben. Und so ist es nicht erstaunlich, dass die ersten Ideen zu Bürgerinitiativen aus den Reihen der Fraktionen im Europa-Parlament kommen. Die europäischen Sozialisten haben angekündigt, eine Bürgerinitiative zur Durchsetzung von Finanzmarktregulierungen und zu einer europäischen Spekulationssteuer zu starten, sollte dieses Thema von den konservativ-liberalen Regierungen nicht konsequent genug angegangen werden. Offensichtlich wird also mit der Bürgerinitiative trotz ihrer rechtlich gesehenen Machtlosigkeit genügend Drohpotenzial verbunden. Da möchte eine Gruppe konservativer EU-Abgeordneter nicht nachstehen und bereitet eine Initiative für den arbeitsfreien Sonntag mit dem nicht ganz neuen Slogan „Sonntag gehören Mami und Papi uns“ vor.

Ein Beigeschmack bleibt natürlich. Während die Bürger noch an der neuen Initiative schnuppern, haben die Parteien schon zugebissen. Statt für die Bürgerinitiative als solche zu werben, instrumentalisieren sie diese. Aber selbst das hat seine guten Seiten. Die genannten Vorhaben einzelner Abgeordnetengruppen sind erst einmal Testflüge. Aber schon heute ist abzusehen, dass die Bürgerinitiative der bisher nur schleppend vorankommenden Herausbildung europäischer Parteifamilien helfen könnte. Die seit Jahren eingeforderte Politisierung der EU-Debatten gelingt am besten durch eine Parteipolitisierung. Die Reduzierung von Debatten auf konkrete Sachverhalte könnte die europäischen Akteure zu einer eindeutigen Positionierung zwingen und damit eine europäische Öffentlichkeit entstehen lassen.

Nichtsdestotrotz ist für Beobachter wie den Europa-Abgeordneten der Grünen Gerald Häfner nach wie vor offen, ob die Bürgerinitiative ein effektives Instrument für mehr Bürgerbeteiligung ist oder eher ein „zahnloser Tiger mit wenig praktischem Einfluss auf europäische Politikgestaltung“.

Doch gemach. Die erste und wesentliche Funktion der Europäischen Bürgerinitiative ist es, europäische, transnationale Debatten zu ermöglichen. Nicht primär um Entscheidungsfindung geht es, sondern um die Herstellung eines konstitutiven Elements jedes demokratischen Gemeinwesens: Öffentlichkeit. In der Praxis werden eine Million Unterschriften nicht ihre Wirkung verfehlen. Die Europäische Kommission, die seit vielen Jahren ihre bemühte Bürgernähe vor sich her trägt, wird sich sehr genau überlegen müssen, wie sie mit den ersten europäischen Bürgerinitiativen umgeht. Gering schätzen und klein reden wird wenig nützen. Europas Medien werden über die Initiativen berichten, schon allein weil sich die einfache Form vom komplexen Brüsseler Themen- und Entscheidungsdschungel abhebt. Die Initiatoren selbst, also die Bürger, werden eine in Europa neue Qualität der grenzüberschreitenden Kommunikation herstellen. Egal welches Thema aufkommt, so schnell lässt es sich nicht wieder von der politischen Agenda entfernen. So ist die EU zwar noch eine Demokratie ohne Demos. Aber es tut sich was. Schöne Europa-Bildchen genügen schon lange nicht mehr, um die Europäer zu beglücken. Auch Brüssel muss seine Bürger beteiligen – die europäische Bürgerinitiative ist dazu ein erster Schritt.

Dr. DOMINIK HIERLEMANN ist Projektmanager für Europa-Politik bei der Bertelsmann Stiftung.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2010, S. 70-73

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