Kommentar

29. Apr. 2024

Wir sind Europa!

Warum die EU mehr Bürgerbeteiligung wagen muss.

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Bild: Grafische Illustration eines Schwertes dessen Spitze in einen Stift übergeht
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Neuen Schwung für die Demokratie in Europa sollte es geben. So lautete einer der sechs strategischen Schwerpunkte der Von der Leyen-Kommission. Knapp fünf Jahre später muss man sagen: Das hat nur begrenzt funktioniert. Die politische Polarisierung in den Mitgliedstaaten hat zugenommen, gesellschaftliche Diskurse werden schärfer, die Rechtsstaatlichkeit bleibt in einigen EU-Ländern wweiter unter Druck, und den neuen Möglichkeiten generativer KI für die Demokratie steht die überbordende Macht der Tech-Giganten entgegen. 

Natürlich ist die EU selbst im Laufe ihrer Geschichte immer demokratischer geworden. Mehr Macht für das Europäische Parlament, neue Partizipationsinstrumente und zuletzt eine Konferenz zur Zukunft Europas, die neue Wege der Bürgerbeteiligung beschritten hat. 

Doch ein echtes Demokratie-­Update hat die EU schon lange nicht mehr erhalten. Mehr denn je ist sie mit Fragen ihrer demokratischen Legitimität konfrontiert. Sie spricht zwar ständig vom Europa der Bürger, doch diese wissen kaum, was in Brüssel passiert, geschweige denn, wie sie an europäischer Politik mitwirken können. Wie soll das demokratische Europa der künftigen Generation aussehen? Wie können sich Bürger beteiligen? Übertragen wir altes nationalstaatliches Demokratiedenken auf die EU oder lassen wir vollkommen Neues zu? Egal ob die EU die künftige Erweiterungswelle vorbereiten, die großen gesellschaftlichen ­Transformationen managen oder die Demokratie als Staatsform bewahren will – sie muss auf diese Fragen eine Antwort geben. 

Die EU verfügt über zahlreiche Beteiligungsinstrumente, mehr als viele Mitgliedstaaten. Petitionen, Online-Konsultationen, Bürgerdialoge, die Europäische Bürgerinitiative, der Ombudsmann und seit jüngstem auch Bürgerpanels. Die Instrumente an sich sind nicht schlecht konzipiert. Aber mit Ausnahme der Wahlen zum Europäischen Parlament sind sie kaum bekannt und haben wenig Einfluss. Kein Wunder, dass nur 15 Prozent in der EU es einfach finden, sich an diesen Instrumenten zu beteiligen, obwohl doch vier von fünf Europäern mehr Mitsprache in der Europapolitik wünschen. Die EU will eine Union der Bürger sein, demokratisch und partizipativ, wird aber als solche nicht wahrgenommen. 
 

EU-Beteiligungslandschaft als „terra incognita“

Es mangelt an Sichtbarkeit und Performanz der Instrumente, letztlich an politischem Willen, wie die Studie „Under Construction. Citizen Participation in the EU“ zeigt. Die EU-Beteiligungslandschaft ist für Europas Bürger eine „terra incognita“. Weder kennen die Menschen die Beteiligungsinstrumente, noch wissen sie, für was sie gut sind. Oft bleibt im Unklaren, was nach der Teilnahme an Beteiligungsverfahren geschieht. Die tatsächliche Wirkung auf die EU-Politik­gestaltung bleibt gering. Auch nach mehreren Verbesserungen mangelt es nach wie vor an Erfolgsgeschichten.

Zugrunde liegt vielen dieser Probleme ein ausgeprägtes politisches Willensproblem. Blumige Worte über Europas Bürgernähe finden sich unter EU-Politikern und in Verlautbarungen der europäischen Institutionen zuhauf. Aber es gibt weder unter den Mitgliedstaaten noch im Europaparlament auch nur annähernd ein gemeinsames Verständnis, was Bürgerbeteiligung über Wahlen hinaus ausmacht. Kenntnisse selbst unter Entscheidungsträgern über neue Beteiligungsformen sind wenig ausgeprägt. Und ja, es gibt nach wie vor – mal offen vorgetragen, mal unter der Hand – reichlich Vorbehalte. Manchen fehlt schlicht der Mut, echte demokratische Neuerungen zuzulassen. Für viele Entscheidungsträger in Brüssel und den EU-Hauptstädten sind neue Formen der Bürgerbeteiligung lediglich ein „nice to have“. 

Europas Demokratie wird nicht besser, je stärker das Festklammern am institutionellen Status quo ist. Wenn es um den Schutz, die Stabilität und Resilienz der europäischen Institutionen geht, könnte man glatt meinen, auch in Brüssel gilt der dritte Paragraf des Kölschen Grundgesetzes: „Et hätt noch immer jot jejange.“ Europas Bürger benötigen mehr Orientierung, wünschen mehr demokratische Teilhabe. Die EU wird, will sie effektiv und entscheidungsfähig bleiben, ihre politisch-institutionelle Verfasstheit anpassen müssen. Dieser Prozess kann nur gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern gelingen. Mehr Bürgerbeteiligung ist daher essenziell für die Verteidigung und Weiter­entwicklung europäischer Demokratie.
 

Die EU-Kommission schreitet voran

Doch es gibt auch gute Nachrichten. Die Kommission hat ausgehend von der Konferenz zur Zukunft Europas weitere Bürgerpanels mit zufällig ausgewählten Bürgerinnen zu Spezialthemen durchgeführt. Das Beteiligungsformat bringt Menschen aus ganz unterschiedlichen Ecken Europas zusammen – und dadurch auch näher an die EU. Innerhalb der Kommission wurde ein Kompetenzzentrum für partizipative und deliberative Demokratie geschaffen, und das EU-Mitmachportal wird neu gestaltet. Zudem schreibt die Kommission Verordnungen und Richtlinien. So hat sie jüngst ihr Paket zur Verteidigung der Demokratie vorgelegt, ein Teil darin mit der Empfehlung zur Förderung der Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern. Mit vielen Einzelvorschlägen unterstreicht die Kommission die Bedeutung des Themas und gibt Mitgliedstaaten konkrete Anstöße für ein Update ihrer Beteiligungsverfahren. 

Der Kern von Bürgerbeteiligung ist politisches Engagement. Die Menschen müssen in ihrem Mitmachen Selbstwirksamkeit erfahren, sie müssen politische Gemeinschaft spüren. Vor allem muss für alle offensichtlich sein, dass Beteiligung zu den wirklich wichtigen Themen durchgeführt wird. Wenn in ganz Europa über Migration und Integration diskutiert wird, dann braucht es dazu Beteiligung. Statt die Verfahren im Klein-Klein weiterzuentwickeln, muss Europas Politik zum Schutze der Demokratie an die heißen Eisen ran. Statt einer Technokratisierung der Bürgerbeteiligung benötigt die EU eine gesamtgesellschaftliche Thematisierung der großen Fragen mit Bürgerbeteiligung. 
 

Schwungrad europäischer Politik

Eine erweiterte EU mit 30 oder mehr Mitgliedern steht vor ganz neuen demokratischen Herausforderungen. Mehr Bürgerbeteiligung ist kein Allheilmittel, das flächendeckenden Europaenthusiasmus garantiert. In Demokratien sind Menschen nicht nur unzufrieden, zu einem gewissen Grad sollen sie es auch sein, weil grundsätzliche Probleme immer existieren und offen debattiert werden müssen – ganz im Gegensatz zu den Staaten der Herren Putin oder Xi. Aber nur mit der Beteiligung der Bürger lassen sich der notwendige Wandel und die großen politischen Herausforderungen meistern. 

Dazu braucht es Mut von Bürgern und Politikern. Die Europäische Union muss mehr Bürgerbeteiligung wagen und offensiv für deren Anerkennung in der breiteren Öffentlichkeit werben. Beteiligung muss zu Themen stattfinden und zu Ergebnissen führen, die selbst wiederum gesellschaftliche Kontroversen auslösen können. Demokratie lebt von Sichtbarkeit und Öffentlichkeit. Dafür braucht es politischen Willen und eine gemeinsame Strategie aller europäischen Institutionen. Beteiligungsprozesse müssen bekannt und sichtbar sein – in Brüsseler Fluren und Europas Straßen zugleich. Und sie müssen zeigen, dass sich Politik bewegt und ändert. Dann wird Bürgerbeteiligung zum Schwungrad europäischer Politik. 

 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik Special 2, Mai/Juni 2024, S. 22-23

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Dr. Dominik Hierlemann ist Senior Advisor für Demokratie und Zusammenhalt bei der Bertelsmann Stiftung.