„Drohnenwall“
Angesichts fortdauernder Luftraumverletzungen, besonders durch unbemannte Flugzeuge, hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen das Ziel festgelegt, einen „Drohnenwall“ an der gesamten Ostflanke der EU zu errichten, vom hohen Norden bis zum Schwarzen Meer. Sofort kamen Assoziationen zum deutschen „Westwall“ und zur französischen Maginot-Linie im Zweiten Weltkrieg auf – zwei teure Bollwerk-Systeme, die von den Angreifern ohne Probleme überwunden wurden. Ein „Wall“ am Rande der EU, das war ein schräges Bild – zumal es sich hier nur um eine von vielen hybriden Kriegstaktiken handelte.
Nachdem 19 russische Drohnen im September 2025 den polnischen Luftraum verletzt hatten, mutmaßte US-Präsident Donald Trump, es könne sich um ein „Versehen“ handeln (obwohl Fachleute dies ausschlossen). Er wollte offenbar nicht weiter mit dem Thema behelligt werden. Darauf reagierte die Kommissionspräsidentin mit ihrer „Drohnenwall“-Formel. Dass die EU sich zuständig erklärte, entsprach der neuen sicherheitspolitischen Lage – und dem Geist des EU-Vertrags.
Dessen Artikel 42, der im Absatz 7 die kollektive Verteidigung festschreibt, hatte man lange nicht wirklich ernstgenommen. Je mehr nun aber in der zweiten Amtszeit Donald Trumps die wechselseitige Beistandspflicht im Rahmen der NATO nach Artikel 5 infrage steht, um so stärker rückt die EU als System kollektiver Sicherheit in den Blick.
Die Formulierung im EU-Vertrag ist erstaunlicherweise verbindlicher als die der NATO: „Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen.“ In Artikel 5 des Nordatlantikvertrags ist nur allgemein von „Beistand leisten“ die Rede – von „Maßnahmen“ inklusive Waffengewalt, die die jeweilige Partei „für erforderlich hält“. Doch hängt die Glaubwürdigkeit der kollektiven Verteidigung nicht allein von der Klarheit der Paragrafen im EU-Vertrag ab, sondern von militärischen Fähigkeiten und der Bereitschaft, sie anzuwenden.
Ein Drohnen-Abwehrschild ist, wie man aus der Ukraine weiß, ein vielschichtiges und dynamisches System von Sensoren, Kommandozentralen und Abwehreinrichtungen. Man braucht elektronische Kampfmittel, Abschussanlagen am Boden und für die Bekämpfung aus der Luft Jets und Antidrohnen-Drohnen. Das wird alles nur funktionieren, wenn EU und NATO zusammenarbeiten – wie bereits bei der „European Sky Shield Initiative“ (ESSI). In dieser geht es bisher hauptsächlich um die Abwehr von ballistischen Raketen, Marschflugkörpern und Jets. Das ESSI-Projekt ist der natürliche Ort, um die Drohnenabwehr zu stärken.
Europa definiert sich immer mehr über Verteidigungspolitik. Gut so. Denn eine Gemeinschaft, die ihren Schutz nicht organisieren kann, verliert an Glaubwürdigkeit. Die meisten Fähigkeiten bei der Drohnenabwehr besitzt derzeit allerdings ein Land (noch) außerhalb der EU: die Ukraine. Sie ist der beste Schutz gegen russische Drohnen, weil sie die Angriffe auf sich zieht. Sie bleibt, zu ihrem Leidwesen, auf absehbare Zeit unser eigentlicher „Drohnenwall“.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2025, S. 15
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