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01. Jan. 2021

Drohnen und Diplomatie

Sechs Wochen Krieg um Berg-Karabach haben im Südkaukasus neue Fakten geschaffen. Die Sieger: Ankara und Moskau – ein verheerendes Signal vor der Haustür Europas.

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Bild: Demonstranten fordern vor dem Parlament in Jerewan den Rücktritt von Premier Nikol Paschinjan.
Die Niederlage in Berg-Karabach hat Armeniens Regierungspartei „Mein Schritt“ erheblich geschwächt: Demonstranten fordern vor dem Parlament in Jerewan den Rücktritt von Premier Nikol Paschinjan.
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Seit dem 10. November 2020 ist es in der Region Berg-Karabach so ruhig wie seit Langem nicht mehr. Die Konfliktparteien Armenien und Aserbaidschan ließen sich nach 44 Tagen Krieg auf eine Vereinbarung ein, die erstmals eine Friedensmission zur Überwachung des Waffenstillstands zulässt – vermittelt von Russland, das in den kommenden fünf Jahren die bewaffneten „Peacekeepers“ stellt. Die Türkei als Verbündeter Aserbaidschans wird an einem Friedensüberwachungszentrum beteiligt.



Die Vereinbarung fixiert den Sieg der aserbaidschanischen Streitkräfte. Sie hatten einen Großteil des Territoriums eingenommen, das die armenische Seite 26 Jahre lang als Sicherheitszone um Berg-Karabach herum besetzt hielt. Über die restlichen drei dieser Gebiete übernahmen sie vereinbarungsgemäß bis zum 1. Dezember die Kontrolle. Darüber hinaus waren sie während der Kriegstage von Süden her nach Berg-Karabach selbst vorgedrungen und hatten die Stadt Schuscha (armenisch: Schuschi) eingenommen, die einst das kulturelle Zentrum der Region gewesen war. Von dieser strategisch vorteilhaften Position auf einer Anhöhe hätten sie die Hauptstadt Stepanakert und das restliche Gebiet Berg-Karabachs einnehmen und die verbliebenen Armenier vertreiben können, hätte Armeniens Premierminister Nikol Paschinjan nicht am 9. November der Friedensvereinbarung zugestimmt.



Die schwere Niederlage war ein Schock für die Menschen in Armenien; die Berge Karabachs galten als uneinnehmbar, zumindest von den Ebenen Aserbaidschans aus. Die 176 Kilometer lange Frontlinie bestand aus einem weitverzweigten System aus Schützengräben, in die sich die armenischen Streitkräfte seit dem ersten Krieg um Berg-Karabach 1992 bis 1994 mit Panzern, Geschützen und Abwehrsystemen eingegraben hatten. Zudem war das Gebiet schwer vermint.



Aufklären und Zerstören

Nur wenige Stimmen in Armenien hatten offen davor gewarnt, dass sich Aserbaidschan über die Jahre die notwendigen militärischen Fähigkeiten aneignen würde, um diese Festung stürmen zu können. Einnahmen aus Erdöl und Erdgas erlaubten es der Führung in Baku zu Beginn der 2000er Jahre, nicht nur herkömmliche Waffen aus russischer Produktion zu kaufen, sondern auch modernes und hoch effektives Militärgerät, insbesondere aus Israel. Bereits beim „Vier-Tage-Krieg“ von 2016 setzte Aserbaidschan laut damaligen Medienberichten „Harop“-Drohnen der Firma Israel Aerospace Industries (IAI) ein. Diese kreisen über einem Gebiet und stürzen sich ferngesteuert auf ein Ziel. Zudem behaupteten die armenischen Streitkräfte in Berg-Karabach damals, sie hätten eine Überwachungsdrohne vom Typ „ThunderB“ aus israelischer Produktion abgeschossen.



Die Jerusalem Post berichtete, Aserbaidschan habe neben den „Harop“ danach auch Drohnen der Typen „Aerostar“, „Orbiter“ und „Orbiter 1k“ aus Israel bezogen; letztere produziere Aserbaidschan inzwischen in Lizenz. Hinzu kämen die Aufklärungsdrohnen „Hermes 450“ und „Hermes 900“ des Unternehmens Elbit Systems.



Zudem profitierte Aserbaidschan von seiner langjährigen Militärpartnerschaft mit der Türkei. Im Juni 2020 kündigte das Verteidigungsministerium in Baku den Kauf türkischer Aufklärungsdrohnen an. Dass während des Krieges im Herbst türkische „Bayraktar TB-2“ zum Einsatz kamen, die auch mit Raketen bestückt werden können, belegt nach Aussagen von Experten Bildmaterial, das das aserbaidschanische Verteidigungsministerium veröffentlichte.



Aufklärungs- und Kamikaze-Drohnen im Verbund mit Waffensystemen wie Raketenwerfern und Geschützen ermöglichten es den Aserbaidschanern, die Luftabwehr der Armenier auszuschalten. Zum Einsatz sollen allerdings auch alte Antonow-AN-2-Mehrzweckflugzeuge aus Sowjetproduktion gekommen sein. Als Lockmittel seien sie ferngesteuert über armenische Stellungen geflogen. Deren Positionen wiederum registrierten Drohnen in größerer Höhe, wie der aserbaidschanische Experte Fuad Schabasow schrieb.



Vorbild Anti-Taliban-Kampf

Am Boden wandten die aserbaidschanischen Streitkräfte offenbar Taktiken der US-geführten Allianz gegen die Taliban in den Bergen Afghanistans an; dabei werden nur kleine Teams zu Einsätzen geschickt. Der US-Journalist Ron Synovitz schrieb darüber mit Verweis auf Videos, die aserbaidschanische Soldaten im Messenger-Dienst Telegram geteilt hatten. Auf armenischer Seite gab es Berichte über gegnerische „Sabotage-Trupps“, die in Wäldern und Dörfern hinter den armenischen Verteidigungslinien aufgetaucht seien.



Der Sicherheitsexperte Richard Giragosian in Jerewan sagt, im Krieg um Berg-Karabach hätten die aserbaidschanischen Truppen NATO-Kampfmethoden angewendet. Trainiert worden seien diese bei gemeinsamen Militärübungen mit dem NATO-Mitglied Türkei. So fand im Sommer die Übung „TurAz Quartali-2020“ auf aserbaidschanischem Territorium statt. Die Führung in Ankara wollte keine Angaben darüber machen, ob danach Militärgerät, Berater und Drohnenspezialisten in Aserbaidschan blieben. Nach einem Bericht der New York Times musste Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew jedoch einräumen, dass F-16-Kampfjets der Türkei im Land stationiert waren.



Ebenso dementierten Ankara und Baku die Präsenz syrischer Söldner. Frankreich, Russland und Iran hatten den Abzug solcher Kämpfer gefordert, nachdem Medien über deren Rekrutierung im türkisch kontrollierten Gebiet Syriens berichtet hatten – ähnlich wie für die Kämpfe in Libyen. Auch hier würde die Türkei dem Beispiel anderer Staaten folgen, die Militäreinsätze teilprivatisieren, weil diese dann einfacher zu leugnen sind.

In Berg-Karabach erwiesen sich Militärtechnik und Taktik der Aserbaidschaner als so effektiv, dass die armenischen Truppen nach sechs Wochen Kampf ohne ausreichenden Nachschub aufgerieben waren. Insbesondere die Kamikaze-Drohnen, vor denen die armenischen Soldaten auch in der Nacht keinen Schutz fanden, hatten einen stark demoralisierenden Effekt. Der armenische Journalist Tatul Hakobjan berichtete, sobald das sirrende Drohnengeräusch zu hören sei, blieben noch sieben Sekunden zum Weglaufen.



Erfolg für Russland

Auf den ersten Blick erschien es, als ob Armeniens Schutzmacht Russland der modernen Kampftechnik nicht gewachsen sei. Tatsächlich folgte die russische Führung aber ihren eigenen Zielen und gab ihre militärischen Fähigkeiten kaum zu erkennen.



Die Militärexperten Gustav Gressel und Markus Reisner gehen davon aus, dass die russischen Streitkräfte unter anderem aufgrund der Erfahrungen in Syrien in der Lage sind, auch Drohnenschwärme zu bekämpfen. Auch sei Russland den Türken in elektronischer Kampfführung vermutlich überlegen, so Gressel – anders als die europäischen Staaten. In Armenien und Syrien schütze Russland allerdings nur seine eigenen Truppen und Stützpunkte mit weiter entwickelten Flugabwehrsystemen und Störsendern. Die Verbündeten müssten sich mit Exportversionen zufriedengeben.



In der Endphase des Krieges um Berg-Karabach griffen russische Streitkräfte nach Einschätzung Reisners dann auf Seiten Armeniens ein. Es gebe klare Hinweise, dass russische „Orlan-10“-Drohnen zur Zielaufklärung für armenische Artilleriesysteme und von „Krasukha-4“-Störsystemen eingesetzt wurden, um die „Bayraktar TB-2“ abzuschießen.



Es war die Phase, in der die russische Führung Teile des „Lawrow-Plans“ von 2015 umsetzen konnte. Der nie öffentlich präsentierte Vorschlag des russischen Außenministers sah den Rückzug der armenischen Truppen aus den Gebieten rund um Berg-Karabach und die Stationierung russischer Friedenstruppen in der Konfliktregion vor. Das hatten beide Seiten zuvor abgelehnt. Als die Armenier jedoch vor dem kompletten Verlust Berg-Karabachs standen und die Aserbaidschaner mit ihren Geländegewinnen zufrieden waren, stimmten beide zu – ein Erfolg auch der jahrelangen Vermittlertätigkeit Russlands. Bereits wenige Tage danach waren die russischen Truppen in Berg-Karabach und im Latschin-Korridor stationiert, der einzig verbliebenen Verbindung zwischen Armenien und Karabach. Nachschub für die russischen Truppen erfolgt auch über aserbaidschanische Eisenbahnstrecken.



Russland ist damit wieder in allen drei Südkaukasus-Republiken militärisch präsent und kann den Einfluss der Türkei teilweise kontrollieren: Die Einbeziehung der Türkei in das Friedensüberwachungszentrum verband die Führung in Moskau mit der Forderung, dass kein bewaffnetes türkisches Militär in Berg-Karabach anwesend sein dürfe. Auch was nach einem weiteren Erfolg für die Türkei und Aserbaidschan aussieht, hat einen Haken: Ein in der Friedensvereinbarung festgelegter Korridor zwischen Aserbaidschan und seiner Exklave Nachitschewan über armenisches Territorium schafft zwar eine direkte Landverbindung zwischen den beiden Verbündeten. Kontrolliert wird diese jedoch von den Grenztruppen des russischen Inlandsgeheimdiensts FSB, die seit Jahren an der Grenze zwischen Armenien und Iran stationiert sind.



Eine Russifizierung Berg-Karabachs?

Die Verhandlungen zwischen Russland und der Türkei um die konkrete Ausgestaltung der in der Friedensvereinbarung nur grob festgelegten Punkte zogen sich in den Wochen nach Kriegsende hin. Die Umsetzung enthält Konfliktpotenzial nicht allein zwischen diesen beiden Regionalmächten, sondern auch für den Iran. Zudem bleibt der Status des den Armeniern verbliebenen Gebiets von Berg-Karabach ungeklärt. Da ihre Sicherheit von den russischen Truppen abhängt, regt sich Bereitschaft für eine „Russifizierung“ des Gebiets – die Führung in Stepanakert sprach sich für Russisch als zweite Amtssprache aus. Die Rede ist zudem von der Hoffnung auf eine vereinfachte Vergabe russischer Pässe, ähnlich wie in den russisch besetzten Gebieten Abchasien und Südossetien in Georgien.



Die Stationierung russischer Friedenstruppen ohne internationales Mandat zeigt die Schwäche von Organisationen wie der UN und insbesondere der OSZE, in deren Rahmen die Minsk Group seit dem ersten Krieg um Berg-Karabach zwischen 1992 und 1994 ein Friedensabkommen auszuhandeln versuchte. Je weniger es der Minsk Group unter Führung Russlands, Frankreichs und der USA jedoch gelang, einen Kompromiss zwischen den Konfliktparteien zu finden, desto mehr sah sich die Führung in Baku dazu berechtigt, das völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehörende Territorium militärisch zurückzuerobern. Außer Acht blieb dabei das Recht der Armenier auf Selbstbestimmung, wobei die nach wie vor angestrebte internationale Anerkennung Berg-Karabachs als unabhängiger Staat auch nach Meinung einiger Armenier stets aussichtslos war.



An den ungeklärten Fragen wie dem Status Berg-Karabachs und der Sicherheit der dort beheimateten Armenier und der Aserbaidschaner, die nach ihrer Vertreibung in den 1990er Jahren wieder zurückkehren sollen, könnte die Minsk Group mitarbeiten. Zumindest sprechen sich Präsident Putin und die armenische Regierung dafür aus. Der ehemalige OSZE-Sondergesandte für den Südkaukasus, Günther Bächler, hält es zur Stärkung der Minsk Group für möglich, bald die eigentlich schon im ersten Krieg um Berg-Karabach geplante Friedenskonferenz einzuberufen. Dafür wäre seiner Meinung nach jedoch eine starke Führung Schwedens, das 2021 den OSZE-Vorsitz innehat, sowie Deutschlands notwendig. Ein Wille dazu lasse sich bislang allerdings nicht erkennen. Dieser wäre jedoch notwendig, um Aserbaidschan von der Beibehaltung des Formats zu überzeugen, nachdem sich in Frankreich beide Parlamentskammern für eine Anerkennung Berg-Karabachs ausgesprochen haben, wenngleich die französische Regierung dieses Ansinnen ablehnt.



So bleibt das verheerende Signal, dass vor der Haustür Europas mit militärischen Mitteln im Interesse der Türkei und Russlands eine Entscheidung herbeigeführt wurde, während die Lage für die Menschen in der Region prekär bleibt und demokratische Kräfte geschwächt wurden. Im Krieg stellten sich auch die Gegner der aserbaidschanischen Führung hinter Präsident Alijew, wenngleich dieser kurz nach dem Ende der Kämpfe bereits wieder die Opposition attackierte. Das den Armeniern verbliebene Gebiet in Berg-Karabach bleibt als Reizthema geeignet, um von Problemen im Land und von den hohen Opferzahlen auch auf aserbaidschanischer Seite abzulenken. In einer Rede am 1. Dezember pries Alijew den errungenen Zugriff auf die Ressourcen in den „befreiten Gebieten“ an, darunter die Kontrolle über einen Fluss als wichtige Quelle, da Wasserknappheit in der Region zu einem immer größeren Problem wird. Seine aggressive Rhetorik gegenüber Armenien behielt er bei.



Dort ist die nach einem friedlichen Machtwechsel 2018 begonnene Reformpolitik in Gefahr, da die Regierungspartei „Mein Schritt“ von Premier Nikol Paschinjan durch die Niederlage erheblich geschwächt ist. Radikale und durch Korruption diskreditierte Oppositionsparteien sehen in der Wut der Bevölkerung eine Chance, die Reformer um Paschinjan zu stürzen. Inmitten dieses Machtkampfs werden viele Probleme nur schleppend angegangen. Während sich die Menschen in Armenien von den demokratischen Regierungen in Europa und Amerika alleingelassen fühlen, lässt Putin auch an dieser Stelle seinen Einfluss spielen. So lobte er Paschinjans Entscheidung, der Friedensvereinbarung zuzustimmen.

 

Silvia Stöber ist als Journalistin und Autorin auf den postsowjetischen Raum spezialisiert. Sie arbeitet für öffentlich-rechtliche Sender und Publikationen in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar-Februar 2021, S. 80-85

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