Weltspiegel

27. Juni 2022

Die Seuche der Desinformation

Ungewolltes unterdrücken, eigene Narrative und äußere Feinde schaffen, lügen und betrügen: Russische Propaganda arbeitet mit allen Mitteln. Wie wird man ihrer Herr?

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Bild: Lawrow und Putin
Lügen, manipulieren, die Wahrheit unterdrücken, Desinformation: Das Arsenal der russischen Propaganda ist reich bestückt. Im Bild Präsident Wladimir Putin und Außenminister Sergej Lawrow.
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Die Zerstörung der westlichen Demokratie sei das Ziel der russischen Führung um Präsident Putin: So formuliert es Andrej Kosyrew, erster Außenminister Russlands und ehemaliger Duma-Abgeordneter, in seinem neuen Essay „Warum Putin besiegt werden muss“. Korrupte Angehörige der Sicherheitsbehörden finanzierten Propagandamaschinen, um ihre Vorherrschaft zu bewahren, die Bevölkerung im eigenen Land in Schach zu halten und einen äußeren Feind zu konstruieren. So sei es der Propaganda erfolgreich gelungen, die Ukraine als Stellvertreter von NATO und USA darzustellen und damit als Feind, der mit Füßen getreten werden müsse, weil er sich von Russland losgesagt habe. Ungewollte Themen werden unterdrückt und eigene Narrative verbreitet.



Bereits im Jahr 2005 brachte die russische Führung den Auslandssender Russia Today in Stellung, heute RT. 2012 und 2013 bezeichnete Chefredakteurin Margarita Simonjan die russischen Auslandsmedien als Waffen in einem Informationskrieg gegen die westliche Welt. So wie das Verteidigungsministerium in Friedenszeiten Waffen für Kriege bereithalte, müssten Informationswaffen für Krisenzeiten bereitgehalten werden.

Ähnlich äußerte sich die Geschäftsführerin des RT-Ablegers in Deutschland, Dinara Toktosunova, in einem Interview mit ARTE: „Ich glaube, die ganze Welt befindet sich im Krieg um Informationen. Wenn Sie fragen, wo der dritte Weltkrieg stattfindet, dann in der Informationssphäre. In diesem Zusammenhang befinden wir uns natürlich alle in diesem Krieg.“ Das war im April 2021, zehn Monate vor Beginn des realen Krieges gegen die Ukraine.



Die angewandten Methoden sind klassisch, potenziert um die Manipulationstechniken, die das Internet bereithält. Gelehrt werden diese Methoden zum Beispiel an der Staatlichen Universität Moskau, wie der heute 63-jährige Journalist Wladimir Jakowlew über sein Studium im russischen Investigativmedium The Insider im März 2022 schrieb. An der Journalistik-Fakultät habe es eine militärische Abteilung gegeben, wo man heimlich in spezieller Kriegspropaganda unterrichtet worden sei – in der „Kunst, durch Desinformation und Manipulation des Bewusstseins Zwietracht in den Reihen des Feindes zu säen“. Das sei ein beängstigendes Geschäft mit dem einzigen Ziel, „dem Feind das Hirn aus dem Kopf zu blasen“.



Die Methode „Große Lüge“

Jakowlew beschreibt weiße, graue und schwarze Propaganda. Weiße Propaganda erlaube keine Verdrehung von Tatsachen, um politische Ziele zu erreichen. Graue Propaganda lasse eine Verzerrung von Fakten in geringem Umfang zu, während schwarze Propaganda jeglicher Verzerrung der Realität freien Lauf gebe. Je schamloser die Propaganda, desto stärker sei ihre Wirkung auf das Publikum.



Zu den wichtigsten Methoden zähle der „faule Hering“, für die eine völlig falsche, möglichst schmutzige und skandalöse Anschuldigung gegen eine Person erfunden und dazu eine Debatte losgetreten werde. Beim Für und Wider der Diskussion bleibe am Ende der Geruch des „faulen Herings“ noch an der unbescholtensten Person hängen. Klassisch sei dabei der Vorwurf, einer faschistischen oder nazistischen Ideologie anzuhängen.

Bei der Methode „Große Lüge“ werde eine so gewaltige und schamlose Lüge erfunden, dass man es kaum für möglich halte, dass dies lediglich fabriziert sein könne. Als Beispiel sei der Vorhalt angeführt, der Gegner entwickle biologische Waffen oder eine andere globale Bedrohung – siehe dazu auch die falsche Anschuldigung der US-Regierung von George W. Bush, der Irak entwickle Massenvernichtungswaffen.



Weitere Methoden lassen sich aus Ereignissen ableiten, für die Russland Verantwortung trägt – wie den Abschuss der Passagiermaschine MH17. In diesem Fall zählte die East StratCom Task Force der EU 260 Versionen darüber, wie die Maschine abgestürzt sei. Dies wird als „Informationslärm“ bezeichnet, der völlige Unsicherheit über Tatsachen schaffen und den Glauben an Fakten unterlaufen soll. Weniger abstruse Varianten können auch darauf getestet werden, ob sie zumindest bei einem Teil der Öffentlichkeit verfangen – als Angebot für prorussische Interpretationen, die von interessierten Kreisen genutzt und weiterverbreitet werden.



Putins ehemaliger Berater Wladislaw Surkow beschrieb es als hohe Kunst der „Polittechnologien“, die öffentliche Meinung so zu beeinflussen, dass die Manipulation unerkannt bleibt. Die Manipulierten sollten sich der Illusion hingeben, sie seien selbstständig zu ihrer Meinung gelangt. Möglich werde dies durch ästhetische und emotionale Suggestion, aber nicht auf der Ebene der Vernunft.



Die Einflussnahme ist vielfältig beschrieben worden. Am eindrucksvollsten ist wohl die Wirkung der Propaganda in Kombination mit der inzwischen diktatorischen Führung in Russland selbst – wie das „Brudervolk“ der Ukrainer in der öffentlichen Wahrnehmung zum Feind wurde, der vernichtet werden muss, und wie das Gedenken an den Großen Vaterländischen Krieg für eine Militarisierung der Gesellschaft missbraucht wurde. Die starke Wirkung ist wohl auch darauf zurückzuführen, dass die Propaganda bei tiefsitzenden imperialen Großmachtgedanken und Überlegenheitsgefühlen gegenüber benachbarten Völkern ansetzt.



Spannungen, Konflikte, Unsicherheit, vorhandenes Misstrauen und Unzufriedenheit über öffentliche Institutionen sind in demokratischen Gesellschaften Nährboden für Desinformation, zerstörerische Propaganda und Verschwörungs­ideologien.



Projekte gegen Desinformation

Versuche der Einflussnahme von russischer Seite ließen sich auch während des Krieges 2008 in Georgien feststellen; vernehmbar wurden sie in Deutschland mit dem Maidan-Aufstand in der Ukraine, der Annexion der Krim und dem Beginn des Krieges in der Ostukraine. Ab 2014 ­wurden die Auslandsmedien RT Deutsch und ­Sputnik sowie ihre Ableger in den sozialen Medien in Deutschland beziehungsweise im deutschsprachigen Raum etabliert.



Darauf setzten die ersten Projekte gegen russische Desinformation ein. Der Europäische Auswärtige Dienst gründete die erwähnte East StratCom Task Force im Jahr 2015, um „das öffentliche Bewusstsein und das Verständnis für die Desinformationsmaßnahmen des Kremls zu schärfen“ und um den Bürgern in Europa zu helfen, „Widerstand gegen digitale Informationen und Medienmanipulation zu entwickeln“. Das Projekt war begleitet von Kritik zum Beispiel an der Methodik der Erhebung und der Beschränkung auf russische Desinformation.



In Deutschland entwickelten Medien und Organisationen Projekte zur Aufdeckung von Desinformation und zum Fact-Checking vor allem vor den Bundestagswahlen 2017 und 2021 in Erwartung massiver Desinformationskampagnen. Die Corona-Pandemie war es dann, die Sendern wie RT Deutsch und anderen sich als „alternativ“ präsentierenden Medien Stoff bescherte, um Menschen zu verunsichern und aufzubringen.



Im besten Fall tragen Fact-Checking-­Artikel dazu bei, die Verbreitung von Desinformation zu verhindern. Sie bieten Interessierten Argumente zur eigenen Vergewisserung und für Diskussionen. Wissenschaftler beschreiben jedoch auch den Effekt, dass sich Leser die beschriebene Desinformation merken, jedoch weniger oder nicht die notwendigerweise umfangreichere Entlarvung der Desinformation.



Die russische Seite reagierte zudem zügig auf das „Debunking“ genannte Aufdecken von Desinformation. So veröffentlichte das russische Außenministerium auf seiner Homepage „Fact-Checkings“ unliebsamer Artikel in westlichen Medien und versah sie mit roten Stempeln. Die unzähligen Lügen zum Beispiel zum Absturz von MH17 und äußerst umfangreiche Artikel zur angeblichen Herstellung von Krankheitserregern in Biolaboren in Georgien und der Ukraine machten Fact-Checking zu einer komplexen Aufgabe – zumal im Vorfeld und seit Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine am 24. Februar, als die Intensität der Propaganda erheblich zunahm und sich direkt auf politische Entscheidungen auswirken konnte.



Die EU-Kommission zog wenige Tage nach Kriegsbeginn die Konsequenz und verbot per Verordnung RT und Sputnik innerhalb der Europäischen Union. Die EU-Kommission begründete diesen Schritt mit dem völkerrechtlichen Aspekt der Aggression Russlands gegen die Ukraine und nur für dessen Dauer. Das Verbot bezog sich auf die Verbreitung der Sender und damit auf Plattformanbieter im Internet und Satellitenbetreiber, nicht jedoch auf die Medien selbst, deren Mitarbeiter weiter in der EU journalistisch arbeiten dürfen. Dennoch handelt es sich um einen Eingriff in die Medienfreiheit, zumal die Zuständigkeit für die Medien bei den Mitgliedsstaaten liegt.



In Deutschland gingen die Medienaufsichtsbehörden medienrechtlich vor gegen RT Deutsch beziehungsweise RT DE, wie sich das Medium zuletzt nannte. RT DE versuchte im Jahr 2021, neben seiner Internetpräsenz einen klassischen Fernsehsender zu etablieren. Dessen Mutterorganisation TV Novosti vermied es aber – offenbar medienrechtlich gut beraten –, in Deutschland eine Fernsehlizenz zu beantragen. Eine solche erfordert laut Medienstaatsvertrag „Staatsferne“, die im Fall von RT schon aufgrund der Finanzierung aus dem russischen Staatshaushalt nicht gegeben ist. TV Novosti versuchte es schließlich kurz vor Sendestart im Dezember 2021 mit einer Sendelizenz aus Serbien. Davon ließen sich aber die zuständige Medienanstalt Berlin-Brandenburg (MABB) sowie die für bundesweit relevante Entscheidungen zuständige Gemeinschaft der Medienanstalten (Kommission zur Zulassung und Aufsicht) nicht überzeugen.



Während sich RT als alternative Quelle zum „Mainstream“ und Kämpfer gegen eine Einschränkung der Medienfreiheit gerierte, nutzte die russische Führung den Rechtsstreit, um die Deutsche Welle aus Russland zu verbannen. RT sendete zunächst trotz Sendeverbots und Verhängung von Zwangsgeldern durch die MABB weiter und brachte den Fall vor das Verwaltungsgericht Berlin. Das Gericht wies den Eilantrag zurück und bestätigte das Sendeverbot.



Aber auch der Verbreitungsstopp durch die EU-Kommission hielt RT nicht davon ab, weiter Inhalte zu verbreiten. Diese sind innerhalb der EU abrufbar, wenn auch nicht mehr über die großen Plattformen YouTube, Twitter, Facebook oder per Google-Suche. Möglich ist es jedoch über Internetadressen, die RT neu einrichtet, über VPN-Verbindungen, die den Standort der Nutzer verschleiern, sowie über den Messenger-Dienst Telegram und „alternative“ Plattformen wie Odysee. Seit einigen Monaten verbreiten auch verstärkt einzelne Accounts beziehungsweise Personen aus dem Umfeld der russischen Medien Desinformation und Propaganda. Hinzu kommen die Social-Media-Accounts des russischen Außenministeriums und der Botschaften, von denen bei Twitter besonders der britische immer wieder auffällt.



Dringend nötige Medienkompetenz

Für Mediennutzer, die nicht gezielt nach RT oder anderen „alternativen“ Angeboten suchen, sind die Inhalte in den Tiefen des Internets schwerer auffindbar, aber gegebenenfalls auch schwerer erkennbar. Internetexperten fordern von Plattformbetreibern, für Transparenz zum Beispiel durch Kennzeichnung regierungsfinanzierter Accounts zu sorgen und insbesondere bei Hasspropaganda die eigenen Geschäftsbedingungen, in denen diese zumeist verboten ist, auch anzuwenden. Eine EU-einheitliche Vorgehensweise soll der in Arbeit befindliche Digital Services Act ermöglichen.



Als eine der wichtigsten Maßnahmen nennen Experten allerdings die Stärkung der Medienkompetenz. So schreibt der Experte für russische Sicherheitspolitik Mark Galeotti in seinem Buch „The Wea­ponisation of Everything“, im neuen Zeitalter sei Medienkompetenz eine ebenso überlebenswichtige Fähigkeit wie Sexualkunde und Erste Hilfe. Diese befähige Bürger auch, trügerische Versprechen von einheimischen Politikern, Werbekampagnen und anderen Überredungskünstlern zu durchschauen und besser informierte Entscheidungen zu treffen. Entsprechende Projekte für Schulen gibt es in Deutschland inzwischen einige. So beschreiben Journalisten im Rahmen von „Journalismus macht Schule“ oder „Lie Detectors“ ihre Arbeit und klären darüber auf, wie sich Medieninhalte überprüfen lassen.



Im „Informationskrieg“ neben dem realen Krieg in der Ukraine hat es sich zudem als erfolgreich erwiesen, dass insbesondere US-amerikanische und britische Geheimdienste der Öffentlichkeit ihre Erkenntnisse über russische Truppenbewegungen und mögliche „Operationen unter falscher Flagge“ (False Flag Operations) mitteilen. So konnte Russland zum Beispiel den Beginn des Krieges nicht mit angeblichen ukrainischen Angriffen rechtfertigen.



Auch erweisen sich die Auftritte des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selensky zumindest in einigen Ländern und Bevölkerungsgruppen als erfolgreich im Kampf um die Deutungshoheit. Hier zeigt sich, dass „weiße Propaganda“ mit dem Ziel der Motivation der eigenen Bevölkerung und weltweiter Unterstützung wirksam sein kann gegen „schwarze Propaganda“, die mit Lügen, Hass und Verleumdung arbeitet.

Langfristig wird es darauf ankommen, Desinformation und Propaganda den Nährboden zumindest ein Stück weit zu entziehen, indem Politik und staatliche Institutionen stärker auf die Sorgen und Nöte der Bevölkerung eingehen und nach friedlicher Beilegung von Konflikten innerhalb der eigenen Gesellschaften suchen.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2022, S. 77-81

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Silvia Stöber

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Silvia Stöber ist als Journalistin und Autorin auf den postsowjetischen Raum spezialisiert. Sie arbeitet für öffentlich-rechtliche Sender und Publikationen in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

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