Wenn Staaten zu Tätern werden
Autoritär geführte Länder verfolgen Opponenten immer häufiger auch über Grenzen hinweg. Der Mord im Berliner Tiergarten ist dafür nur ein Beispiel.
Staatsterrorismus – dieses Wort stand am Ende des Gerichtsprozesses um den Mord im Kleinen Tiergarten am Kammergericht Berlin. Der Vorsitzende Richter Olaf Arnoldi fasste damit am 15. Dezember 2021 den Urteilsspruch des Zweiten Strafsenats des Berliner Kammergerichts zusammen. Der Angeklagte, der russische Bürger Vadim Krasikov, habe den Mord am tschetschenischstämmigen Georgier Selimchan Changoschwili mit Heimtücke und im Auftrag der russischen Zentralregierung begangen.
Von einer Tat aus politischen Motiven, die einer Hinrichtung gleichgekommen sei, hatten die Vertreter der Bundesanwaltschaft gesprochen. Bei dem Mord in einem belebten Park inmitten der Hauptstadt seien das Gewaltmonopol und die Souveränität Deutschlands infrage gestellt worden. Viele Zeugen seien auch ein Jahr nach der Tat noch traumatisiert gewesen.
Neben Vergeltung sei es um ein Signal an die in Deutschland lebenden Tschetschenen und andere Opponenten der Führung in Moskau gegangen: Auch außerhalb der Grenzen Russlands könnten sie sich nicht in Sicherheit wähnen.
Der lange Arm der Autokraten
Morde und Einschüchterung von Opponenten im Ausland sowie Entführungen und – ohne Wissen oder in Kooperation mit den Behörden anderer Staaten – Abschiebungen und Auslieferungen fasst die US-Organisation Freedom House unter dem Begriff transnationale Repression zusammen. In einem Anfang 2021 erschienenen Bericht beschreibt die Nichtregierungsorganisation 608 Fälle aus den Jahren 2014 bis 2020. Sie beziehen sich auf 31 Herkunftsstaaten und 79 Aufnahmeländer.
Was auf den ersten Blick wie eine Aufzählung von Einzelfällen erscheinen könnte, sei zu einer etablierten Praxis für Staaten geworden, die ihre Bürger im Ausland kontrollieren und zum Schweigen bringen wollten, resümiert Freedom House. Die Folgen für die Betroffenen und ihre Angehörigen seien gravierend. Eine Atmosphäre der Angst präge ihren Alltag. Die Organisation nennt sechs Staaten, die aggressive Kampagnen gegen Opponenten im Ausland durchführten: China, Türkei, Ruanda, Saudi-Arabien, Iran und Russland.
Dabei ist transnationale Repression ein altes Phänomen – zu denken wäre etwa an die Ermordung Leo Trotzkis im mexikanischen Exil im Jahr 1940 oder an das Attentat auf vier iranisch-kurdische Exilpolitiker im Restaurant Mykonos in Berlin-Wilmersdorf 1992.
Feststellbar ist Freedom House zufolge jedoch eine Zunahme solcher Fälle seit den 2000er Jahren. Sie begleiten die Entwicklung vieler Staaten hin zu verschärfter diktatorischer Führung. Ein Beispiel ist Belarus. Daneben steht ein Abbau des Rechtsstaats in Demokratien wie Polen, Ungarn oder den USA. Populistische Politik geht zudem einher mit rigorosem Vorgehen gegen Flüchtlinge und Migranten, was auch politisch Verfolgten eine Anerkennung erschwert.
Bekannt ist die Verfolgung von Uiguren und Tibetern durch die chinesische Führung. Weltweit für Aufmerksamkeit sorgte die Ermordung des saudischen Journalisten Jamal Khashoggi im Oktober 2018 im Konsulat seines Heimatlands in Istanbul. Auffällig oft trifft es Tschetschenen – ob in der Türkei, in Katar, in der Ukraine, in Frankreich, Österreich oder wie 2019 Selimchan Changoschwili im Berliner Tiergarten.
Beim Polonium-Anschlag auf den russischen Ex-Geheimdienstmitarbeiter Alexander Litwinenko im Oktober 2006 in London sowie beim Anschlag auf Sergej Skripal und dessen Tochter mit dem Nervengift Nowitschok im britischen Salisbury gehen Ermittler und Richter ebenfalls davon aus, dass staatliche Stellen Russlands involviert waren. Im Fall Skripal stellte die britische Polizei Haftbefehle gegen drei Russen aus. Die Anklagebehörde in London verzichtete jedoch auf Auslieferungsersuchen, da die Verfassung Russlands die Überstellung von Bürgern ins Ausland nicht zulässt.
Schwierige Strafverfolgung
Sind Staaten in Taten involviert, gibt es eine Chance auf Strafverfolgung praktisch nur dann, wenn die Täter noch auf der Flucht gefasst werden können. Dies gelang im Fall eines Geschäftsmanns aus Vietnam, der im Juli 2017 in Berlin von Geheimdienstagenten seines Landes entführt worden war und in Hanoi vor ein Gericht gestellt wurde. In diesem Fall konnte ein Tatbeteiligter kurz nach der Tat in Tschechien festgenommen werden. Die Bundesanwaltschaft sprach von „staatlich organisiertem Kidnapping“. Das Kammergericht Berlin verurteilte ihn zu drei Jahren und zehn Monaten Haft.
Französische, belgische und deutsche Behörden konnten gar einen Sprengstoffanschlag vereiteln, den der iranische Geheimdienst MOIS geplant haben soll, und zwar bei einer Großkundgebung der Oppositionsgruppe Nationaler Widerstandsrat im Juni 2018 bei Paris. Ein Gericht in Antwerpen verurteilte den Hauptangeklagten, der der Agentenführer gewesen sein soll, wegen versuchten Mordes und Beteiligung an einer terroristischen Organisation zu 20 Jahren Haft. Dabei handelte es sich um einen 49 Jahre alten Iraner, der in Wien als Diplomat akkreditiert war.
Staaten als Ziel von Ermittlungen
Wo Versäumnisse und Herausforderungen bei Taten mit staatlicher Involvierung liegen, zeigen Ermittlungsergebnisse beim Tiergartenmord. Demnach erhielten der Täter und ein möglicher Komplize Schengen-Visa unter Vorlage von Pässen ohne biometrische Daten. Sie konnten damit in die Europäische Union einreisen. Die Reiseroute des Täters ab Moskau ließ sich bis zum Tag vor dem Mord aufklären. Wie er von Warschau nach Berlin gelangte, wo Tatgegenstände wie die Waffe herkamen, wer ihn unterstützt hat, ist unbekannt. Dass der Täter gefasst wurde, bevor er als Tourist verkleidet entschwinden konnte, ist zwei couragierten jungen Männern und geistesgegenwärtigen Polizisten zu verdanken.
Während die Täterschaft des Angeklagten am Ende nicht infrage stand, konnte ein konkreter Auftraggeber nicht ermittelt werden. Im Grunde musste das Bundeskriminalamt gegen russische Dienste ermitteln, mit denen es auf Gebieten wie der Terrorismusbekämpfung kooperiert. Auf zwei Rechtshilfeersuchen hin lieferten die russischen Behörden teils keine, teils verschiedene Angaben. Als Konsequenz ließ die damalige Bundesregierung zwei russische Diplomaten ausweisen.
Die Feststellung, der Auftrag sei aus der russischen Zentralregierung gekommen, beruht auf einer Vielzahl an Indizien, die ein stimmiges Bild ergeben. Ein Großteil trug die Rechercheorganisation Bellingcat bei. Einer ihrer Mitarbeiter sagte vor Gericht aus. Da er aus Sicherheitsgründen nicht angeben wollte, wer ihm die Informationen aus zahlreichen Datenbanken bereitgestellt hatte, konnten ihm die Richter keine hohe Beweiskraft beimessen. Strafverteidiger Robert Unger wies darauf hin, dass Bellingcat als journalistische Organisation, die auf Geldgeber angewiesen sei, unter anderen Anforderungen als Ermittler arbeite. Insofern könne es sein, dass Bellingcat entlastendes Material nicht veröffentlichen würde.
Sicherheit für Zeugen
Neben der Herausforderung, Daten von unter Verdacht stehenden staatlichen Behörden zu erhalten, steht das Problem der Sicherheit von Zeugen. Zeugenschutzprogramme kommen nur in Ausnahmefällen infrage. Asyl können Richter nicht versprechen, da die Entscheidung darüber beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge liegt. Insofern konnte das Gericht Schutz für die Zeugen nur für die Zeit des Aufenthalts in Deutschland sicherstellen lassen. Einem russischen Investigativreporter, der eine Aussage machte, droht in Russland Gefängnis. Ein Zeuge aus dem ostukrainischen Charkiw lebt nun auf Dauer in Unsicherheit.
Aushorchen weltweit
Im Fall des Tiergartenmords zeigte sich, dass sich exzessives Datensammeln autoritärer Staaten auch zum Bumerang entwickeln kann, wenn die Verwalter der Datenbanken korrupt sind. Auch Regimekritiker können die Digitalisierung nutzen, um per YouTube, Facebook oder Telegram in ihrem Heimatland tätig zu werden. Entsprechend sind häufig Blogger Ziele autoritärer Regime – mit Verleumdungskampagnen in den sozialen Netzwerken oder durch physische Angriffe.
Zudem erlaubt die Entwicklung digitaler Spionagemethoden eine einfachere Verfolgung. Zum Beispiel fanden Reporter Hinweise darauf, dass Mobiltelefone von Personen im Umfeld des saudischen Journalisten Khashoggi mit der Pegasus-Software der israelischen Firma NSO überwacht wurden, bevor er 2018 getötet wurde – und danach auch des türkischen Chefermittlers in dem Fall.
Details, die im Rahmen einer internationalen Medienkooperation im Juli 2021 veröffentlicht wurden, zeigen, dass die Spionagesoftware als Wanze in Mobiltelefonen weltweit eingesetzt werden kann. Das kommerzielle Interesse privater Anbieter führt dazu, dass solche Technik auch an autoritär geführte Staaten verkauft wird. Auch wenn das Unternehmen NSO versichert, dass die Spyware nur zur Verbrechens- und Terrorismusbekämpfung veräußert wurde, zeigt die den Medien vorliegende Liste Nummern von Menschenrechtsaktivisten, Journalisten und Politikern. Auch eine Mobilnummer des französischen Präsidenten Emmanuel Macron und weiterer Politiker in Europa fanden sich darauf.
Missbrauch von Interpol
Herkunftsländer können zudem die Mobilität von Opponenten im Ausland einschränken. Möglich ist dies, indem Reisepässe ungültig gemacht oder nicht verlängert werden. Darüber hinaus berichtet die NGO Freedom House, dass Herkunftsländer versuchen, Institutionen von Aufnahmeländern wie Polizei oder Migrationsbehörden zu manipulieren, sodass es zu Verzögerungen bei Asylverfahren oder zu unrechtmäßigen Abschiebungen kommt.
Eine weitere Möglichkeit sind Fahndungsaufrufe via Interpol. Die internationale Polizeibehörde steht in der Kritik wegen Red Notices für Opponenten. Dazu zählte der Fahndungsaufruf der Türkei für den türkischstämmigen Schriftsteller Doğan Akhanli, der seit Jahren mit deutschem Pass und ohne türkische Staatsbürgerschaft in der Bundesrepublik lebte, als er 2017 in Spanien festgenommen wurde. Die Türkei warf ihm Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vor. Zwar wurde Akhanli schnell freigelassen, musste aber unter Meldeauflagen im Land bleiben, bis Interpol nach Intervention der Bundesregierung die Red Notice aufhob. Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel warf der Türkei vor, Interpol zu missbrauchen.
Auch Mitstreiter von Kremlkritiker Alexej Nawalny und die Oppositionspolitikerin Swetlana Tichanowskaja aus Belarus wurden per Interpol gesucht. Staaten wie Litauen lehnen es jedoch ab, solchen Fahndungsaufrufen Russlands nachzukommen. Deutsche Gerichte lehnten zuletzt Auslieferungsersuchen aus Moskau ebenfalls ab. So entschied das Brandenburgische Oberlandesgericht im Oktober 2021 im Fall eines Tschetschenen, eine Auslieferung sei unzulässig. Es könne nicht sichergestellt werden, dass das Strafverfahren in Russland völkerrechtlichen Standards entspreche. Der Tschetschene konnte nach 14 Monaten Auslieferungshaft das Gefängnis verlassen.
Terrorismusverdacht als Vorwand
Um ihr Vorgehen gegen Opponenten zu rechtfertigen, nutzen autoritäre Regime den Vorwurf des Terrorismus. Freedom House hält fest, dass in 58 Prozent der im Bericht aufgeführten Fälle der Tatvorwurf des Terrorismus genannt wurde. In der aktuellen Auslieferungsstatistik des Bundesamts für Justiz für das Jahr 2019 fällt auf, dass die Türkei in 57 Fällen Terrorismus als Grund für Auslieferungsersuchen angab, wovon 50 abgelehnt und die anderen sieben auf „andere Weise“ erledigt worden seien.
Geheime Entführungen und gezielte Tötungen im Ausland werden mit Verweis auf Terrorismusbekämpfung, wie sie die USA seit dem 11. September 2001 durchführen, gerechtfertigt. In Russland erklärt ein Föderales Gesetz vom März 2006 die Tötung von Terroristen für rechtmäßig. Demnach dürfen Spezialeinheiten, zu denen auch der Verurteilte im Tiergartenmordprozess in Verbindung gestanden haben soll, im Ausland zur Terrorismusbekämpfung eingesetzt werden. Laut Artikel 5 entscheidet der Staatspräsident über solche Einsätze.
Der Vorsitzende Richter Arnoldi wollte Vergleichen des Tiergartenmords mit der Tötung beispielsweise von Osama Bin Laden in Pakistan durch US-Spezialeinheiten vorbeugen: Das Opfer habe keine Gefahr mehr dargestellt, er habe in Deutschland in Ruhe leben wollen. Der CDU-Sicherheitspolitiker Roderich Kiesewetter betont, selbst wenn das Opfer ein Kriegsverbrecher gewesen wäre, hätte dies keinen Mord gerechtfertigt. Russland könne das internationale Rechtssystem nutzen, um zu zeigen, dass es rechtsstaatlich wirke. Die Ausweisung zweier russischer Diplomaten nach dem Urteil nennt Kiesewetter eine „moderate“ Reaktion. Das bringe im Grunde nichts. Notwendig sei eine Reaktion der EU. Auch müsse die Frage der Sanktionen generell auf den Prüfstand. Diese müssten im Energiebereich und im Finanzsystem ansetzen, wo die russische Führung sie auch zu spüren bekomme.
Das Fehlen konsequenter Antworten nennt Freedom House als einen Grund für die Zunahme transnationaler Repression. Dabei geht es nicht nur um einen besseren Schutz von Verfolgten autoritärer Regime. Auf dem Spiel stehen auch die Wehrhaftigkeit von Rechtsstaaten, die Glaubwürdigkeit der Demokratie und der Schutz der staatlichen Souveränität vor Machtdemonstrationen autoritärer Regime.
Silvia Stöber, Journalistin mit Fokus auf dem postsowjetischen Raum, arbeitet für öffentlich-rechtliche Sender und Publikationen in Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Internationale Politik 2, März/April 2022, S. 88-92
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