Buchkritik

01. Jan. 2021

Dreikrisenjahr

Corona ist seit Monaten da – nun sind es auch die Bücher zur Pandemie und zu ihren globalen Folgen für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.

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Bild: Bücher auf einem Schreibtisch
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Die Krise als Chance. Die Krise als Katalysator. Stark aus der Krise! Läuft es nicht rund in Wirtschaft, Politik oder Gesellschaft, folgen meist sehr schnell Slogans wie diese. Die Corona-Krise setzt diese Tradition fort. Umso mehr, da heute von einer dreifachen Krise gesprochen wird: der Klimakrise, der Corona-Krise und der mit beiden verbundenen Wirtschaftskrise. Und es gilt als ausgemacht, dass keine dieser Krisen nachhaltig gelöst werden kann, wenn die beiden anderen nicht gleichzeitig gelöst werden. Ist also auch die gegenwärtige Krise eine Chance? Ein Beschleuniger? Und wer kommt stark aus dieser Krise?



Daniel Stelter war einer der ersten, die sich nach Ausbruch der Corona-Pandemie in Buchform zu Wort meldeten. Der Makroökonom scheint bislang mit seiner Prognose richtig zu liegen. Er geht davon aus, dass die Pandemie die Welt noch lange beschäftigen wird und ruft eine neue Ära der Wirtschaftspolitik aus. Diese neue Politik – „Coronomics“ – werde zu einem ganz anderen Umfeld führen, als man es kenne: Die Staaten würden weitaus aktiver sein, ebenso die Notenbanken. Es drohten die Abkehr von der Globalisierung und die Rückkehr der Inflation. Dies verlange neue Prioritäten: Investition statt Konsum, echte Reformen von Staat und Gesellschaft.



Stelter ist ein Vertreter der Katalysator-These. Für ihn lag ein Politikwechsel bereits vor Corona in der Luft: Auch ohne Virus sei absehbar gewesen, dass die Weltwirtschaft auf erhebliche Probleme zusteuerte. Das Virus habe diese Entwicklung lediglich beschleunigt. Alle Schwachstellen zeigten sich nun wie unter einem Brennglas: anhaltender Rückgang des Produktivitätswachstums, aggressivste Geldpolitik, Überlast an Schulden, deutlicher Anstieg der Vermögenspreise, Zunahme der Ungleichheit im Westen. Eine Rückkehr zum Wachstum vor der Krise hält Stelter für unwahrscheinlich.



Zu einzelnen Aspekten dieser Analyse liegen weitere lesenswerte Neuerscheinungen vor. Bereits vor der Corona-Pandemie entschlüsselte die Rechtsprofessorin an der New Yorker Columbia University Katharina Pistor den „Code des Kapitals“. In ihrer von Financial Times und Business Insider zu einem der besten Bücher 2019 gekürten Untersuchung erzählt sie die Geschichte der rechtlichen Schöpfung des Kapitals von der frühen Neuzeit bis ins digitale Zeitalter der Bitcoins. Sie erklärt, wie Kapital in Anwaltskanzleien geschaffen wird und warum das einer der wichtigsten Gründe für die wachsende Ungleichheit in den westlichen Gesellschaften ist.



Nach Pistors Darstellung „codiert“ das Recht selektiv bestimmte Vermögenswerte und stattet sie mit der Fähigkeit aus, privates Eigentum zu schützen und zu produzieren. Auf diese Weise könne jedes Objekt, jeder Anspruch, jede Idee in Kapital umgewandelt werden – und Anwälte seien die Hüter dieses Codes. Sie wählten aus verschiedenen Rechtssystemen und -instrumenten diejenigen aus, die den Bedürfnissen ihrer Mandanten am besten dienten. Dabei werden Techniken, die vor Jahrhunderten Landbesitz in Kapital transformierten, zur Codierung von Aktien, Anleihen, Ideen und Zukunftserwartungen genutzt.



Gestoßen ist Pistor auf dieses Thema während der letzten großen Krise, als das globale Finanzsystem im Herbst 2007 Richtung Abgrund steuerte. Sie wollte herausfinden, was die enorme Expansion des Finanzsektors in den Jahrzehnten zuvor erklären könnte und was zu seinem Niedergang geführt hatte. Überall, wo sie tiefer bohrte, stieß Pistor auf die Kerninstitutionen des Privatrechts: das Vertrags-, Eigentums-, Kreditsicherungs-, Trust-, Gesellschafts- und Insolvenzrecht. Diese hatten die Expansion der Wertpapiermärkte befeuert, waren aber nach Pistors Analyse zugleich entscheidende Determinanten für ihren Niedergang. Als die Erträge der Anlagen hinter die erwarteten Renditen zurückzufallen begannen, setzten die Anleger ihre rechtlichen Ansprüche durch – sie nahmen Sicherheitsnachschüsse, Kreditlinien, Rückkaufvereinbarungen und Ausnahmeregelungen in Anspruch und trugen so zur Verschärfung der Krise bei. Einige kamen noch rechtzeitig heraus, doch viele andere fanden sich mit Papieren wieder, die ihnen niemand abkaufen würde, abgesehen von den Zentralbanken der westlichen Welt. Eine bis heute spürbare Folge war die Selbstschwächung der kapitalistischen Ökonomien des Westens, die schon längst auf dem Weg in eine neue Rezession waren, als das Corona-Virus sie traf.



Gleichzeitig befindet sich die Welt an einem Wendepunkt, der nach Aussage von Jon Cunliffe, dem Vizechef der britischen Zentralbank, alle 100 bis 150 Jahre ansteht. Es geht um nichts weniger als um die Rolle des Geldes in der Gesellschaft. Alexander Hagelüken beleuchtet den mit der aktuellen Krise verwobenen Wandel und spricht in seinem Buch vom „Ende des Geldes, wie wir es kennen“. Der Leitende Redakteur für Wirtschaftspolitik der Süddeutschen Zeitung sieht jahrhundertealte Gewissheiten des Geldes als passé an: Bargeld, Zinsen für Sparer und rein staatliche Währungen. Wer spare, zahle drauf. Münzen und Scheine würden verschwinden, bald auch ersetzt durch Kryptowährungen, die staatlichem Geld Konkurrenz machen.



Hagelüken hinterfragt die Krisenaktionen der Zentralbanken und schildert, wie amerikanische und chinesische Digitalkonzerne ihren Einfluss auf das Feld der Währungen ausdehnen – eine seit jeher staatliche Zuständigkeit. Nicht nur werde die Existenz des Bargeldes angegriffen, auch fühlten sich durch die krisenbedingte Niedrigzinspolitik Hunderte Millionen Sparer angegriffen, da Sparprodukte keine Zinsen mehr abwürfen. Manche Bank verlange mittlerweile eine Gebühr, ein „Verwahrentgelt“, wenn Kunden für die Zukunft sparten. Hagelüken arbeitet klar heraus, wie sehr all das die kollektiven Überzeugungen vieler Nationen erschüttert. Aus der Krisenpolitik der Finanzkrise ab 2008, der Eurokrise ab 2010 und der Corona-Krise resultiert eine mentale Krise gerade der westlichen Gesellschaften, auf die es bislang keine Antworten gibt – weder politisch noch gesellschaftlich oder wirtschaftlich.



Was folgt aus dieser Gleichzeitigkeit der Krisen? Ivan Krastev räumt in „Ist heute schon morgen? Wie die Pandemie Europa verändert“ ein, dass man über die langfristigen politischen und ökonomischen Auswirkungen nur spekulieren kann. Aber er ist überzeugt, dass Corona die Welt tiefgreifend verändern wird. Sie werde eine andere sein, nicht, weil die Gesellschaften einen Wandel wollten oder ein Konsens über seine Richtung bestünde, sondern weil man schlicht nicht mehr zurückkönne. So markiert die Pandemie in Krastevs Augen das Ende der Globalisierung, wie man sie bislang kenne. Der Wandel dürfte zu einer weniger ideologischen, aber instabileren Welt führen – mit einer Reihe politischer und militärischer Konflikte und neuen Migrationswellen.



Wie kann man sich für eine derartige Welt rüsten – politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich? Bettina Seidl und Markus Gürne gehen davon aus, dass die Geopolitik künftig über die Geoökonomie bestimmen wird. Daher sehen sie Europa weiterhin im Schulterschluss mit Amerika. Die Redakteurin und Moderatorin und der Leiter der ARD-Börsenredaktion sagen voraus, dass die meisten europäischen Staaten aufgrund gemeinsamer Geschichte und Kultur, vor allem aber gemeinsamer demokratischer Werte sich im Zweifelsfall an der Seite der USA wiederfinden dürften.



Zwar ist auch Seidl und Gürne bewusst, dass Chinas Einfluss weiter wächst, nicht zuletzt durch die „neue Seidenstraße“, die Technologielieferungen nach Europa und die Tatsache, dass China ein wichtiger Markt für europäische Produkte bleiben werde. Aber Europa werde große Schwierigkeiten haben, auf Augenhöhe mit dem neuen Superplayer zu verhandeln und seine Interessen durchzusetzen. Denn dies gelang schon vor der Corona-Krise nicht. Daher müssten die Europäer einmal mehr eine Vorstellung davon entwickeln, welche Rolle sie in Zukunft spielen wollen. Somit liegt in der Krise wieder eine Chance – für Europa dürfte es allerdings die letzte im 21. Jahrhundert sein, wenn der Kontinent nach der Pandemie international eine bedeutsamere Position einnehmen will als in den Jahren vor Corona.



Dr. Thomas Speckmann ist Historiker, Politikwissenschaftler und Lehrbeauftragter am Historischen Institut der Universität Potsdam.

 

Daniel Stelter: Coronomics. Nach dem Corona-Schock: Neustart aus der Krise. Frankfurt am Main: Campus 2020. 217 Seiten, 18,95 Euro

Katharina Pistor: Der Code des Kapitals. Wie das Recht Reichtum und Ungleichheit schafft. Berlin: Suhrkamp 2020. 440 Seiten, 32,00 Euro

Alexander Hagelüken: Das Ende des Geldes, wie wir es kennen. Der Angriff auf Zinsen, Bargeld und Staatswährungen. München: C. H. Beck 2020. 222 Seiten, 16,00 Euro

Markus Gürne und Bettina Seidl: Der Wirtschafts-Virus. Wie Corona die Welt verändert und was das für Sie bedeutet. Berlin: Econ 2020. 343 Seiten, 20,00 Euro

Ivan Krastev: Ist heute schon morgen? Wie die Pandemie Europa verändert. Berlin: Ullstein 2020. 90 Seiten, 8,00 Euro

 

 

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar-Februar 2021, S. 132-134

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