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01. Okt. 2007

Dornröschen unter den Wölfen

Rumänien in der Grauzone zwischen Parlamentarismus und Kleptokratie

In Rumänien war die Zivilgesellschaft zu schwach, um zu verhindern, dass die alten kommunistischen Eliten ihr Machtmonopol hinter einer demokratischen Fassade über die Wende hinüberretteten. Die EU muss darauf dringen, dass das neue EU-Mitglied Rumänien nicht in der Grauzone zwischen Parlamentarismus und Oligarchie stecken bleibt.

Eine sehr verbreitete Interpretation der jüngsten Geschichte der Länder Ostmittel- und Südosteuropas klingt wie ein Märchen: Nachdem die Prinzessin mit einer roten Spindel gestochen wurde, fiel sie in einen tiefen Schlaf, und mit ihr alle ihre Untertanen. 50 Jahre später küsste ein Prinz die Prinzessin, und alle wachten wieder auf und machten weiter wie zuvor. Die Unternehmer knechteten wieder die Arbeiter, die Spekulanten prassten wieder wie auf einem Gemälde von George Grosz, und die Faschisten warfen die Stinkbomben, die sie in der Hand hatten, als sie der Schlaf übermannte. Im diplomatischen Archiv blies man den Staub von den Strategiepapieren und setzte das alte Spiel der wechselnden Allianzen mit den großen Mächten wieder in Gang. Rund ums Schloss verwandelte sich das Dornengestrüpp in einen wilden Kapitalismus und bald wurden alle wieder genauso arm oder reich, wie sie einmal gewesen waren. Dornröschen aber flossen dicke Tränen über die roten Backen.

Auf den ersten Blick hat die Dornröschen-Theorie einiges für sich, vor allem wenn man daran denkt, wie gerne sich das politische Personal im Osten mit Argumenten aus dem Requisitenschrank der Zwischenkriegszeit bedient. Apokalyptiker klagen seit Jahren darüber, dass seit dem „Befreiungsschlag von 1989“ nicht nur „der Weg in eine moderne europäische Zeitgenossenschaft frei, sondern auch die Büchse der Pandora geöffnet“ sei. Und dennoch lässt sich eine Gefährdung der Demokratie nicht erkennen. Ungeachtet der geringen Wahlbeteiligung ist die Demokratie sehr populär, weil sie sich kaum in die privaten Angelegenheiten des politisch apathischen Bürgers einmischt, der an seinem eigenen Fortkommen interessiert ist.

Selbst die populistischen Parteien stellen das demokratische Verfahren nicht in Frage, denn es sichert ihnen die Möglichkeit, auf dem Wählermarkt auf Stimmenfang zu gehen. Besonders bedenklich erscheint manchen die in Ostmitteleuropa vorherrschende Meinung, dass die EU die alten Konflikte nicht überwinden, sondern ihnen lediglich ein neues Feld der Austragung bieten könne. Da die EU dazu neigt, den Schwierigkeiten der Entscheidungsfindung nicht mit mehr Demokratie, sondern mit mehr Zentralismus zu begegnen, trägt sie aber auch selber zur Verschärfung der Gegensätze bei. Gleichwohl verfügt sie über Instrumente, um die Konflikte dämpfen und einhegen zu können. So wie es aussieht, bleibt die Büchse der Pandora auf absehbare Zeit geschlossen.

Gegen die Dornröschen-Theorie spricht jedoch vor allem, dass sie ein nicht ganz unwesentliches Detail der jüngeren Geschichte Ostmittel- und Südosteuropas unterschlägt, nämlich ein halbes Jahrhundert kommunistischer Diktatur. Als der Konsens wegbrach, auf den sich diese Diktatur stützte, und er sich auch mit Gewalt nicht mehr herstellen ließ, blieb den kommunistischen Eliten nichts anderes übrig, als sich auf das Ende ihres sozialen Experiments vorzubereiten. In der Nacht, die dem politischen und ökonomischen Systemwechsel vorausging, wurde nicht geschlafen. „Nessun dorma!“, forderte der schlaue Kalaf, um zu verhindern, dass die eiskalte Prinzessin seinen Namen erfährt. Als der Morgen endlich dämmerte, waren Akten und Dossiers bereits in Flammen aufgegangen oder in privaten Panzerschränken verschwunden und so mancher Lebenslauf war umgeschrieben: „Il nome mio nessun saprà!“

Die pragmatisch gewendeten alten Eliten blieben im Staatsapparat und in den Betrieben, an den Schulen, Universitäten und Kulturinstitutionen. Von neuen Positionen aus wurden alte Kontakte neu vernetzt. Die Eliten, die den Kommunismus überlebten, verband das gemeinsame Interesse, ihre soziale Stellung möglichst zu erhalten oder wenigstens nicht diskriminiert oder gar für begangene Verbrechen bestraft zu werden. Einige wenige besonders kompromittierte Exponenten des Ancien Régime blieben auf der Strecke. Insgesamt aber war der Anteil der (ehemaligen) Kommunisten am Systemwechsel beträchtlich und überstieg, verteilt auf die verschiedenen neuen demokratischen Parteien, bei weitem jenen der Dissidenten, die da und dort noch in der ersten Reihe standen. Ohne ihre aktive Beteiligung wäre die große Wende in einigen Ländern vermutlich kaum so rasch und widerstandslos verlaufen. Die Mitläufer passten sich gehorsam wie Lämmer den neuen Erfordernissen an, nicht viel anders als die große Mehrheit der kleinen Nazis nach 1945.

Die Wölfe im Osten haben sich die Einsicht des Leoparden im Süden zu eigen gemacht, dass sich vieles ändern muss, damit für sie alles beim Alten bleibt. Immerhin respektierten bisher alle postkommunistischen Länder das kommunistische Minimalprogramm und verzichteten auf die Erfüllung von zwei elementaren Forderungen der demokratischen Revolution: auf die konsequente Strafverfolgung kommunistischer Verbrechen und auf die uneingeschränkte Rückgabe geraubten Eigentums. Die Bedeutung der Einschränkung des Umfangs der Restitutionen wird oftmals übersehen, aber sie war die Voraussetzung dafür, dass sich die kommunistischen Eliten im Privatisierungsprozess bereichern und oligarchische Strukturen etablieren konnten. Zudem erschüttert sie das Vertrauen in die Unverletzlichkeit des Rechts auf Eigentum als Menschenrecht und bereitet den Boden für weitere Verstöße gegen die -Eigentumsordnung.

Ein Kompromiss mit den Führungseliten des gestürzten Regimes musste natürlich in allen Ländern geschlossen werden. Wie er aussah, hing einerseits von den jeweiligen Kräfteverhältnissen ab, andererseits von der Bereitschaft der jeweiligen kommunistischen Parteien, demokratischen Wandel zuzulassen. Im Baltikum, in Polen, in der Tschechoslowakei, in Ungarn und in Slowenien, wo das Machtmonopol durch eine Volksrevolution und/oder über Verhandlungen am Runden Tisch beseitigt werden konnte, achteten demokratische Parteien und eine starke Zivilgesellschaft darauf, den direkten und indirekten Einfluss der alten Eliten zu beschränken. In Weißrussland, in der Ukraine, in Moldawien, in Rumänien und in Bulgarien waren sie dazu zu schwach. Diese Länder endeten in einer neokommunistischen Sackgasse, dem so genannten „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus, der substanzielle Reformen blockierte und die europäische Integration verhinderte. Bulgarien und Rumänien gelang der Beitritt zur EU mit Hängen und Würgen erst im Januar 2007.

Das rumänische Beispiel zeigt, wie sich unter den Bedingungen eines neokommunistischen Regimes, das sein Machtmonopol hinter einer demokratischen Fassade verbirgt, ein Netzwerk von Oligarchen und politischen Kleptokraten herausbildet, das stark genug ist, spätere Regierungs- und Regimewechsel weitgehend unbeschadet zu überstehen. Darin, und nicht in der so genannten „balkanischen Mentalität“, die eine rassistische Unterstellung ist, besteht die aktuelle Ursache des Phänomens der politischen Großkorruption, die ein besonderes Monitoring durch die EU nötig werden ließ.Rumänien ist ein Sonderfall. Die Sowjetisierung war dem Land von der Roten Armee aufgezwungen worden. Breiteren Konsens erhielt der rumänische Kommunismus erst, als er sich in den frühen sechziger Jahren aus dem sowjetischen Hegemonialbereich löste, Nationalismus propagierte und die Repression milderte. Die Verurteilung der Invasion der Tschechoslowakei brachte Ceauşescu 1968 den Ruf eines „zweiten Tito“ ein, und im Westen standen ihm nun alle Türen offen. In Rumänien indes verwandelte sich die Herrschaft der Partei allmählich in seine persönliche Diktatur. Der Triumph des „Sozialismus in einer Familie“, sein Wahn von der rumänischen Autarkie und die destabilisierenden Folgen, die die Wende unter Gorbatschow für sein Regime hatten, trieben Ceauşescu in die Isolation.

In den Wirren der Dezember-Revolution 1989 setzte sich eine Fraktion der Kommunistischen Partei und der Securitate durch, die sich des Familienclans der Ceauşescu entledigte und dessen Oberhäupter liquidierte. Das neue Regime errichtete eine demokratische Fassade, die den alten Praktiken der Manipulation und Repression den Anschein von Legitimität verleihen sollte. Während sich in Warschau, Prag und Budapest die parlamentarische Demokratie festigte, rief der rumänische Präsident Ion Iliescu Bergarbeiter aus dem Schiltal nach Bukarest, die mit ihren Stangen Studenten verprügelten und Zeitungsredaktionen und Parteilokale der Opposition verwüsteten – dies im Namen einer „Demokratie“, die sich gegen die „Anarchie“ zu verteidigen habe. Um seine Schwächen zu verdecken, mobilisierte das Regime nationalistische Ressentiments gegen die ungarische Minderheit und stärkte damit die rechtsextreme großrumänische PRM, deren Führer Corneliu Vadim Tudor sich explizit auf die nationalkommunistischen Traditionen der Ceauşescu-Ära beruft. Unbeschadet überstand das Machtgefüge der neokommunistischen Seilschaften die Ära des konservativen Präsidenten Constantinescu von 1996 bis 2000, in der eine heterogene Koalition mit einem ambitionierten Reformprogramm antrat, aber an ihren inneren Gegensätzen scheiterte – und nicht zuletzt auch an ihrer Unfähigkeit, sich den Staatsapparat unterzuordnen.

Nach den Konservativen kamen die mittlerweile zu Sozialdemokraten mutierten Kommunisten unter Iliescu und dem neuen Ministerpräsidenten Adrian Nastase wieder in ihre Ämter, die Macht hatten sie ja nie wirklich abgegeben. Das alte dirigistische Verhältnis zwischen Staat und Unternehmen hatte sich indes umgekehrt, seit die Stärksten und Cleversten die Betriebe aus der Konkursmasse der Zwangswirtschaft wie freies Gut in Besitz nahmen. Eine neue Klasse von Oligarchen steuerte nun, vermittelt über ihre politischen Kontakte, die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen – zum eigenen Nutzen und zum Schaden der restlichen Marktteilnehmer, die einen ähnlichen Einfluss nicht ausüben konnten. Diese Entwicklung, die in den frühen neunziger Jahren begonnen hatte, setzte sich in der Ära Constantinescu ungebremst fort und kam in der darauffolgenden Ära Iliescu/Nastase zur vollen Entfaltung. Sie setzte voraus, dass sich die politischen Entscheidungsprozesse der demokratischen Kontrolle entzogen und die Zivilgesellschaft zu schwach war, um sich dagegen zu wehren. In diesen Jahren wurden aber auch die entscheidenden Schritte zur europäischen und transatlantischen Integration gesetzt. Nun floss Geld in Strömen nach Rumänien. Dies entsprach durchaus den Interessen der Oligarchen und der politischen Klasse.

Merkwürdig hingegen ist, dass das Ausmaß der Korruption und Misswirtschaft unter Nastase von den Verhandlungspartnern in der EU so einfach übersehen werden konnte. Nur die rumänischen Wähler waren sich dessen bewusst. Im Herbst 2004 brachten sie eine Koalition aus Demokraten und Nationalliberalen an die Macht, deren Kandidat Traian Basescu den Altkommunisten Iliescu als Präsident ablöste.

Zum europäischen Thema wurde die Korruption in Rumänien erst nach der Ablehnung des europäischen Verfassungsentwurfs bei den Referenden in Frankreich und den Niederlanden, als sich in der EU eine allgemeine Erweiterungsverdrossenheit breitmachte. Dabei war gerade damals Rumänien dabei, den Kampf gegen die Korruption ernsthaft aufzunehmen. Die parteiunabhängige Justizministerin Monica Macovei, die vom Präsidenten und von der EU-Kommission unterstützt wurde, setzte gegen heftigen Widerstand in der Opposition und in der Regierung Gesetze zur Bekämpfung der großen Korruption durch, die strenger und effektiver sind als in irgendeinem anderen Land Europas. Als gegen Adrian Nastase Anklage erhoben wurde, schien der Beweis erbracht, dass Rumänien auf dem richtigen Weg ist. Eben diese Erfolge provozierten jedoch den kalten Putsch der Kleptokraten im rumänischen Parlament, die darauf aus waren, sich der Ministerin und möglichst auch des Präsidenten zu entledigen. Kaum war der Beitritt vollzogen, verschob Ministerpräsident Tariceanu mittels einer Notverordnung einen bereits fixierten Termin für die EU-Wahlen auf unbestimmte Zeit. Macovei und die Minister der Demokratischen Partei weigerten sich, die Entscheidung mitzutragen, was Tariceanu zum Anlass nahm, sie aus der Regierung zu jagen und die Koalition aufzulösen. Seither regiert er nach den Wünschen der Oligarchen in stiller Koalition mit der formell oppositionellen Sozialdemokratie, die ihm jederzeit ihre Unterstützung entziehen kann. Der Versuch, auch noch den vom Volk gewählten Präsidenten des Amtes zu entheben, scheiterte an einem Referendum.

Nach 1990 und 2000 steht Rumänien zum dritten Mal vor den Trümmern einer unvollendeten demokratischen Wende. Als entscheidend für die Zukunft des Landes wird sich nicht das Stimmenverhältnis zwischen linken und rechten Parteien erweisen, sondern das Kräfteverhältnis zwischen jenen, die den Rechtsstaat wollen, und jenen, die sich über ihn hinwegsetzen – quer durch das Parteienspektrum und die rumänische Gesellschaft. Seit dem Beitritt sind die Möglichkeiten der EU, auf Rumänien Einfluss zu nehmen, sehr beschränkt. Die EU kann und muss aber im Zusammenwirken mit der rumänischen Zivilgesellschaft weiter darauf drängen, dass die Reformen vorangebracht werden und dass die Justiz die graue Zone zwischen Parlamentarismus und Oligarchie ausleuchtet.

KARL-PETER SCHWARZ, geb. 1952 in Österreich, ist politischer Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit Sitz in Prag. Er berichtet über die Tschechische Republik, die Slowakei, Slowenien, Kroatien und Rumänien.