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26. Aug. 2016

„Die Türkei ist viel mehr als Erdogan“

Fragen an den Experten Sinan Ülgen zur Lage nach dem Putschversuch

Angespannter könnte die Beziehung zwischen dem Westen und der Türkei nicht sein: Mangelnde Unterstützung gegen Putschisten wirft Präsident Erdogan dem Westen vor. Dort kritisiert man die Entlassungen mutmaßlicher Anhänger der Gülen-Bewegung. Die Lösung? Der Westen müsste der Türkei den Rücken stärken, damit er auch glaubwürdig Kritik üben kann.

IP: Präsident Recep Tayyip ­Erdogan ist nach der Niederschlagung des Militärputsches im Westen unpopulärer denn je. Mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin hat er sich dagegen gerade ausgesöhnt. Werden wir Zeugen eines strategischen Schwenks der ­Türkei?

Sinan Ülgen: Ich denke nein, sonst hätten wir es mit einer dramatisch neuen Situation zu tun. Trotz allem, was geschehen ist: Die Türkei ist weiter im Westen verankert – politisch, militärisch, wirtschaftlich. Eine Neuausrichtung in dem Sinne, dass die Türkei sich auf die Seite Russlands schlüge und mit dem Land eine strategische Partnerschaft einginge, ist unrealistisch und weit hergeholt.

Natürlich ist es für Ankara nützlich, wie beim kürzlichen Treffen von Erdogan und Putin in St. Petersburg, den Westen gelegentlich darauf hinzuweisen, dass man potenziell auch andere Optionen hat. Und es ist schon bezeichnend: Seit dem Putschversuch hat Erdogan bislang zwei Staatschefs getroffen – der erste war der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew. Was das aber vor allem unterstreicht, ist die gewaltige Diskrepanz in der Wahrnehmung des Putschversuchs. Auf westlicher Seite hat es völlig an Mitgefühl und Sympathie gefehlt. Tatsächlich ging es beim Erdogan-Putin-Treffen auch um pragmatische Dinge: bilaterale Beziehungen, Aufhebung russischer Sanktionen, Wiederbelebung des Tourismus.

IP: Dass die türkisch-russischen Spannungen nach dem Abschuss eines russischen Kampfflugzeugs abgebaut werden, ist ja zu begrüßen – gerade der NATO hat die Konfrontation viele Sorgen bereitet. Aber Sie meinen, der Westen hätte sich nach dem vereitelten Putsch stärker um Erdogan bemühen sollen?

Ülgen: Es geht nicht nur um Erdo­gan. Der Westen muss mehr tun, um der Türkei zu versichern, dass sie Teil des Westens ist. Denn schließlich ist die Türkei ja viel mehr als Erdogan. Und diejenigen, die das Gefühl haben, der Westen habe viel zu wenig getan, um seine Solidarität mit der Türkei zu demonstrieren und das Land rückzuversichern, dass es wirklich zum Westen gehört, sind nicht unbedingt ­Regierungsanhänger.

IP: Hochkarätige ausländische Besucher waren bislang wirklich eher rar …

Ülgen: US-Außenminister John Kerry kommt Ende August; aber ansonsten war nur ein britischer Staatsminister da und kürzlich der deutsche Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Markus Ederer – keineswegs die Ebene, die man in Ankara erwartet hatte. Darüber hinaus wäre der Westen glaubwürdiger, wenn er nicht nur die Regierung, sondern auch das Parlament unterstützte, das ja bombardiert wurde und ein Ziel der Putschisten war. Wenn europäische Politiker denken, sie könnten sich aus innenpolitischen Gründen nicht mit Erdogan zeigen – könnten sie dann nicht zumindest als Zeichen der Unterstützung den Besuch einer Abgeordneten-Delegation beim türkischen Parlament organisieren? Damit ließe sich doch zumindest die parlamentarische Demokratie in der Türkei unterstützen.

IP: Ist es dafür jetzt schon zu spät?

Ülgen: Keineswegs – und solche Parlamentsdelegationen wären ja auch recht einfach politisch zu bewerkstelligen für westliche Politiker. Hinzu kommt: Wenn der Westen glaubwürdig bleiben und die Maßnahmen kritisieren will, die die Regierung seit dem Putschversuch ergriffen hat, dann muss sie ebenso prinzipientreu sein und den Putsch selbst klar verurteilen. Wenn das nicht geschieht, wird die Kritik weiterhin auf taube Ohren stoßen, denn dem Westen wird dann – zu Recht, finde ich – Scheinheiligkeit vorgeworfen werden. Wer einen Putsch gegen eine legitim gewählte Regierung nicht kritisiert, der kann auch nicht glaubhaft Erdogans Vor­gehen kritisieren.

IP: Die NATO hat es ja in der Vergangenheit oft besser als die EU verstanden, die Türkei einzubeziehen, sie partnerschaftlich zu behandeln. Ist das auch diesmal der Fall?

Ülgen: Natürlich, die Türkei ist Mitglied der NATO, nicht aber der EU – es ist schlicht ein anderes Verhältnis. Was aber im Fall der NATO neuerdings eine große Belastung ist, ist die Abkühlung des Verhältnisses zwischen der Türkei und den Vereinigten Staaten. Und die Überzeugung, dass die USA hinter dem Putschversuch gesteckt oder zumindest davon gewusst haben und die Erdogan-Regierung nicht gewarnt haben, ist weit verbreitet. Das wirkt sich auch auf die NATO aus. Und fast die Hälfte aller türkischen Generäle sind mittlerweile ihrer Positionen enthoben worden; auch das bleibt nicht folgenlos. Der Befehlshaber des 3. Armeekorps, das Teil der NATO-Eingreiftruppe ist, war in den versuchten Staatsstreich verwickelt. Kurz: Das NATO-Verhältnis ist dieser Tage eher instabil. Wie sich das langfristig entwickelt, ist vom heutigen Standpunkt aus schwer zu sagen.

IP: Die Zögerlichkeit des Westens hat natürlich auch mit der – wie viele meinen – überzogenen Härte zu tun, mit der Erdogan gegen die Putschisten vorgegangen ist. Auch glaubt man nicht, dass die Bewegung von Fethullah Gülen wirklich eine solche Rolle gespielt hat.

Ülgen: Sie haben recht. Eines der größten Probleme derzeit ist der gewaltige Perzeptionsunterschied in der Türkei und außerhalb, was die Rolle, Bedeutung und Macht der Gülen-Bewegung angeht. In der Türkei glauben heute die meisten, dass die Gülen-Bewegung hinter dem Putschversuch gesteckt hat, und Tag für Tag treten ehemalige Gülenisten im Fernsehen auf und gestehen, wie sie staatliche In­stitutionen und das Militär infiltriert haben …

IP: … was ein bisschen an die stalinistischen Schauprozesse erinnert, wo die Angeklagten auch immer bekennen mussten: Ja, wir waren Teil einer gigantischen Verschwörung.

Ülgen: Das stimmt, aber Tatsache ist, dass der türkischen Gesellschaft dies tagtäglich in den Medien präsentiert wird, was für eine gewisse Atmosphäre sorgt. Und offenkundig ist auch die Regierung und insbesondere Erdogan von der Schuld der Gülen-Bewegung überzeugt. Im Ausland dagegen wird das ganz anders gesehen. Diese Kluft ist sehr bedeutend und verkompliziert das Verhältnis zu den USA, wo ­Gülen lebt; Ankara hat ja bereits seine Auslieferung beantragt. Aber das ist längst nicht alles. Die Bewegung ist in 160 Ländern aktiv, was bedeutet, dass Ankara auf die Regierungen all dieser Länder einwirken muss, um gegen die Infrastruktur der Bewegung vorzugehen, darunter Schulen, Front­organisationen zur Sammlung von Spenden und so weiter – eine komplizierte, unerwünschte Belastung für die türkische Außenpolitik.

IP: Dabei waren Erdogan und Gülen ja einmal engste Verbündete …

Ülgen: Völlig richtig. Vor drei Tagen hat sich Erdogan dafür entschuldigt, den wahren Charakter dieser Bewegung nicht erkannt zu haben. Aber in jedem normalen Staat kann es dabei nicht bleiben; eine solche Entschuldigung ist schlicht nicht ausreichend, um eine über ein Jahrzehnt lang bestehende politische Allianz zu erklären oder zu rechtfertigen. Ich habe allerdings meine Zweifel, ob wir solch weitergehende Schritte in der Türkei erleben werden. Immerhin ist die Entschuldigung schon einmal etwas.

IP: Wie wahrscheinlich ist es, dass der Putschversuch wirklich von der Gülen-Bewegung aus den USA ferngesteuert wurde?

Ülgen: Ich denke, dass das recht wahrscheinlich ist. Zumindest ist es die einzige Erklärung für das Timing des Putschversuchs. Die Gülenisten innerhalb der Militärführung wussten, dass sie beim nächsten Militärrat, der im August zusammentritt, entmachtet werden würden. Sie mussten handeln, um dem zuvorzukommen. Ich bin ziemlich überzeugt davon, dass der versuchte Staatsstreich von der Gülen-Bewegung orchestriert wurde.

IP: Welche Entwicklung erwarten Sie nun in der Türkei? Wird Erdogan die Lage nutzen, um sich endgültig zum autokratischen Herrscher aufzu­schwingen?

Ülgen: Die Regierung hat den Ausnahmezustand verhängt, was die Gewaltenteilung und die üblichen Checks and Balances aufhebt. Dieser soll nach drei Monaten wieder aufgehoben werden, und das wird ein wichtiger Test sein, ob die Türkei bald wieder zur Normalität zurückfinden wird. Die pünktliche Aufhebung würde der weiteren Einschränkung fundamentaler Rechte entgegenstehen. Wir werden sehen.

IP: Wie lässt sich die Kluft zwischen der Türkei und gerade Europa verkleinern?

Ülgen: Die antiwestliche Rhetorik der Regierung ist ein echtes Hindernis, im Westen selbst Gehör zu finden. Die – ich meine: legitime – Kritik an der Gülen-Bewegung verhallt, gerade weil die Regierung so lange auf kämpferische, unversöhnliche Rhetorik gesetzt hat. Neuerdings versucht Ankara, einen Mittelweg zu gehen.

IP: Und was sollte auf westlicher ­Seite passieren?

Ülgen: Der Westen sollte damit beginnen, der Türkei den Rücken zu stärken und sich auf dieser Grundlage die moralische Legitimation zu verschaffen, um bestimmte Entwicklungen innerhalb der Türkei zu kritisieren. Aber der erste Schritt ist die Rückversicherung der Türkei.

 

Die Fragen stellten Henning Hoff und Sylke Tempel

Sinan Ülgen ist Gründungsmitglied von Istanbul Economics, Vorsitzender des Think Tanks „Center for Economics and Foreign Policy Studies“ in Istanbul und Visiting Scholar bei Carnegie Europe in Brüssel.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/ Oktober 2016, S. 56-59

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