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01. Jan. 2016

„Fundamentale Unterschiede“

Sinan Ülgen über die Rolle der Türkei und strategische Differenzen mit dem Westen

Die Türkei und der Westen haben in Syrien unterschiedliche Prioritäten. Während sich letzterer auf die Zerschlagung des IS konzentriert, ist Ankara ein Regimewechsel und die Eindämmung der syrischen Kurden mindestens ebenso wichtig. Zugleich nähern sich die EU und die Türkei wieder ein wenig an. Fragen an Sinan Ülgen, Vorsitzender des Think Tanks EPIN.

IP: Die Haltung der Türkei gegenüber Syrien und dem so genannten Islamischen Staat erscheint oft widersprüchlich. Welche Rolle spielt Ankara?

Sinan Ülgen: Man muss vorausschicken, dass die Haltung der Türkei zu Beginn des syrischen Bürgerkriegs, nämlich einen Regimewechsel dort zu unterstützen, eine radikale Abkehr von ihrer bisherigen Außenpolitik war. Das war ein recht aggressiver Schritt, wenn man bedenkt, wie vorsichtig Ankara traditionell in den Beziehungen zu den Nachbarländern agiert hat. Selbst in Krisenzeiten, zum Beispiel während der islamischen Revolution im Iran, hat es die Türkei vermieden, sich in die Innenpolitik anderer Länder einzumischen.

IP: Das „Baschar al-Assad muss weg!“ vom damaligen Premierminister und heutigen Präsidenten Recep Tayyib Erdogan, das war das erste Mal?

Ülgen: Ja. Damit hat Ankara erstens offen und unzweideutig einen Regimewechsel in einem Nachbarland unterstützt und zweitens deutlich gemacht, dass das keine bloße Rhetorik ist, ganz im Gegenteil. Die türkische Regierung hat entsprechende Ressourcen zur Verfügung gestellt, um das Ziel zu erreichen. Sie unterstützt die syrische Opposition, sie organisiert sie. Die Türkei ist damit Konfliktpartei – ein klarer Bruch mit der bisherigen Art, Außenpolitik zu machen. Deshalb ist die Politik der Regierung auch so unpopulär. Die türkische Öffentlichkeit hat sich über die Jahre an eine Außenpolitik gewöhnt, die eher der von Ländern wie Russland und China mit ihrer Betonung des Prinzips der Nichteinmischung ähnelt als der Außenpolitik westlicher Länder. Ankara hat eigentlich nie internationale Interventionen ­unterstützt. Und dieser plötzliche Wandel, den hat die türkische Öffentlichkeit nicht verstanden.

IP: Nun gibt es mit dem IS-Anschlag auf Paris und der französischen Reaktion darauf eine neue Situation …

Ülgen: … und die türkische Haltung muss sich verändern – zum einen aufgrund der fehlenden Unterstützung der internationalen Gemeinschaft für einen schnellen Regimewechsel; zum anderen aufgrund der Situation vor Ort, die sich mit der Präsenz russischer Truppen grundlegend verändert hat. Davor gab es viele Diskussionen mit Washington, wie man der syrischen Opposition mit der Errichtung einer Flugverbotszone oder einer Sicherheitszone helfen könnte. Doch jetzt, wo die Russen dort sind, ist das natürlich ein völlig unrealistisches Szenario. Und dann hat sich natürlich die Stimmung innerhalb der internationalen Gemeinschaft, vor allem im Westen, geändert. Es geht jetzt beinahe ausschließlich darum, den Islamischen Staat zu bekämpfen. Die meisten westlichen Regierungen meinen, Assad müsse noch etwas länger an der Macht bleiben und Teil der Lösung sein, was Ankara dann widerwillig akzeptiert hat. Aber fundamentale strategische Differenzen blieben bestehen, und das Ganze hat dazu geführt, dass die Türkei nun drei verschiedene Ziele verfolgt, die nicht immer miteinander in Einklang zu bringen sind. Erstens Assad loswerden, zweitens den Einfluss der syrischen Kurden begrenzen, und drittens den IS zu eliminieren. Aus westlicher Sicht hat letzteres Priorität, alles andere scheint gar nicht mehr allzu wichtig. Und das ist eben der große strategische Unterschied zwischen der Türkei und dem Westen …

IP: … mit sehr ernsten Konsequenzen: Zum Beispiel fällt es dem Westen schwer zu verstehen, warum Erdogan die Kurden bombardiert, die doch zu den wenigen Kräften gehören, die man gegen den IS ins Feld führen kann.

Ülgen: Aus türkischer Perspektive ist die syrische Partei der Demokratischen Union (PYD) mit ihren bewaffneten Volksverteidigungseinheiten ein Ableger oder ein Teil der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Und solange die PKK als Gefahr für die Türkei gilt, vor dem Hintergrund steigender Gewalt, wird Ankaras Einstellung gegenüber der PYD negativ bleiben; territoriale Gewinne werden als Bedrohung gesehen. Und die Türkei wird in Syrien auch weiterhin die Eindämmung der PYD verfolgen.

IP: Hat das Ganze nicht mehr mit dem Wahlerfolg der kurdischen Demokratische Partei der Völker (HDP) bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 zu tun als mit der PYD oder der PKK?

Ülgen: Natürlich hängt das viel mit den innenpolitischen Vorgängen zusammen. Seit den Wahlen im Juni, als die regierende AKP ihre Mehrheit verlor, hat die Türkei eine Zunahme der Gewalt erlebt. Da wurde es Teil des politischen Kalküls, die Stimmen der Nationalisten zurückzugewinnen. Mit dem AKP-Erfolg bei den Neuwahlen im November hat sich das als politisch gerissene, sehr effektive Strategie herausgestellt. Da wurde die AKP nicht nur wieder stärkste Kraft, sondern bekam sogar 49 Prozent der Stimmen. Das hatte die Partei nicht einmal selbst erwartet.

IP: Dass sich zugleich der kurdische Nordirak immer mehr in Richtung Unabhängigkeit entwickelt, spielt ­keine Rolle?

Ülgen: Nein, das wird in Ankara aus einem anderen Blickwinkel betrachtet. Das Verhältnis der Türkei zu den irakischen Kurden, der Autonomen Region Kurdistan und der Regierung von Präsident Masud Barsani ist sehr gut. Die Türkei hat viel in diese Region investiert, es gibt da eine ganze Menge gemeinsamer Projekte im Energiesektor – interessanterweise eine recht starke Beziehung.

IP: Wie passt die Entsendung türkischer Truppen in die Nähe von Mossul im Nordirak ins Bild, über die sich die Regierung in Bagdad beschwert hat?

Ülgen: Ja, das gefällt Bagdad vermutlich nicht. Früher war die Türkei ja auch klar gegen ein unabhängiges Kurdistan, was man aber heute so wirklich nicht mehr sagen kann. Natürlich wäre es Ankara lieber, wenn der Irak es schaffen würde, seine territoriale Integrität zu wahren. Aber wenn sich die regionalen Dynamiken in eine andere Richtung bewegen sollten, dann könnte die Türkei, im Gegensatz zu anderen regionalen Mächten wie dem Iran, durchaus mit einem Kurdistan leben.

IP: Ankara wird auch gebraucht, um bei den Flüchtlingsströmen eine gewisse Ordnung wieder herzustellen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat kurz vor den Wahlen im November Ankara besucht, trotz wachsender Kritik an Erdogans autoritärem und repressivem Kurs, z.B. seinem Vorgehen gegen Journalisten. War das eine ungewollte Wahlkampfhilfe?

Ülgen: Ja. Der Besuch Merkels, aber auch die Vertagung des Fortschrittsberichts der EU-Kommission, wurden hier als Zeichen gesehen, dass die EU im Grunde aufgegeben hat zu versuchen, die Türkei in Richtung eines demokratischeren und regelbasierten Systems mit funktionierender Pressefreiheit zu bugsieren. Und dass man plötzlich sehr erpicht darauf war, die Türkei zur Mithilfe bei der Flüchtlingskrise zu gewinnen. Umgekehrt sind aus EU-Sicht zwei Dinge deutlich geworden. Es ist unabdingbar, die türkische Bevölkerung für die EU zu gewinnen, um in der Flüchtlingskrise ein Gefühl des Zusammenhalts herzustellen; und eine engere Zusammenarbeit macht es der EU wieder möglich, demokratische Reformen in der Türkei voranzutreiben. In den vergangenen Jahren hat die EU den Großteil ihres Einflusses in der Türkei verloren. Brüssel hat die türkische Regierung zwar kontinuierlich kritisiert, jedoch ohne Ergebnisse. Die jetzige Strategie der Zusammenarbeit mit der Türkei könnte genau diese Möglichkeit der Beeinflussung wieder herstellen, gerade, was Demokratieförderung betrifft.

IP: Wie kann die Türkei, die selbst ­bereits etwa drei Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat, der EU in der Flüchtlingskrise helfen?

Ülgen: Jetzt gibt es ja eine entsprechende Einigung zwischen der Türkei und der EU, und man muss abwarten und sehen, inwieweit die türkische Regierung ihren Teil der Abmachung erfüllt. Es wird natürlich auch weiterhin Grenzübertritte geben, aber die Türkei wird nun viel sorgfältigere Vorkehrungen treffen, um die illegale Einwanderung einzudämmen. Wichtiger noch als Kontrollmechanismen ist aber die Frage, ob es der Türkei gelingt, die innenpolitischen Rahmenbedingungen zu schaffen, die den syrischen Flüchtlingen im Land den Verbleib erleichtern. Bei der humanitären Hilfe ist die Türkei durchaus gut organisiert, die Erstaufnahme syrischer Flüchtlinge in Auffanglagern und deren Verpflegung funktionieren gut. Was aber fehlt, ist eine Strategie zur längerfristigen Integration dieser Flüchtlinge in die Gesellschaft – was wohl auch an den zu optimistischen Prognosen in Sachen Regimewechsel in Damaskus lag.

IP: Die EU und die Türkei sind zuletzt immer weiter auseinandergedriftet. Sehen Sie die jetzige Situation als Chance, die Beziehungen wieder zu verbessern?

Ülgen: Ja, dies sind möglicherweise sehr gute Rahmenbedingungen, um die EU-Türkei-Beziehungen wieder voranzubringen. Die Frage, die mir häufig gestellt wird, ist, ob die türkische Regierung sich überhaupt für den EU-Beitritt interessiert. Schließlich sind gerade in den Bereichen Demokratie und Justizwesen die Voraussetzungen noch nicht gegeben. Aber mit einer Lösung in der Zypern-­Frage – und danach sieht es im Moment zumindest aus – gäbe es die Chance zu prüfen, ob Ankara es mit dem EU-Beitritt wirklich ernst meint.

Sinan Ülgen ist Gründungsmitglied von Istanbul Economics, Vorsitzender des Think Tanks „Center for Economics and Foreign Policy Studies“ (EPIN) in Istanbul und Visiting Scholar bei Carnegie Europe in Brüssel.

Bibliografische Angaben

Interntionale Politik 1, Januar/Februar 2016, S. 42-45

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