Die Theorie und Praxis der Freiheit
Das liberale Projekt und die Linke: zwischen Skepsis und Leidenschaft
Zwischen Skepsis und Leidenschaft: Die amerikanische Linke streitet über das liberale Projekt; Fouad Ajami und Bernard Lewis erklären, warum die Araber Demokraten sind
Die Freiheit ist das höchste Gut des Liberalismus. Aber was heißt das? In der Frühjahrsnummer von Dissent hat Michael Walzer darüber nachgedacht, wie eine liberale Strategie für unsere Zeit aussehen könnte. Er vertritt dabei den klassischen amerikanischen Liberalismus, einen Liberalismus mit einem sozialen Gewissen. Was soll die liberale Linke während der zweiten Amtszeit von George W. Bush tun? Und wie reagiert sie auf das globale Freiheitsprojekt der Regierung, dessen zwei Gesichter der Krieg gegen den Terrorismus und die Strategie der Demokratisierung sind?
Die Lage lässt sich nicht verstehen, so erklärt uns Walzer, ohne die Überlappung, das ideologische „Crossover“ von links und rechts festzustellen. Was es früher nur auf der Linken gab, findet man heute vorrangig rechts: Intellektuelle und Aktivisten, radikale Konzepte und monokausale Problemlösungen. Ideologische Gewissheit und Leidenschaft sind mehrheitlich auf die Rechte gewandert. Wer früher „links“ oder liberal war, bewegt sich heute unsicher durch eine immer komplexere Welt. Der Pragmatismus, die Politik der kleinen Schritte sind zur liberalen Haltung geworden. Die Geschichte hat die Liberalen gelehrt, lieber eine „bescheidene Verbesserung“ als einen „radikalen Wandel“ anzustreben. Klingt das nicht alles, fragt Walzer, nach den ursprünglichen Neokonservativen, wie sie vor 40 Jahren angetreten waren? Diese riefen zur Skepsis auf gegenüber allen großen Projekten, wie sie den Liberalen damals so teuer waren, der „Krieg gegen die Armut“ etwa – Projekten, die auf angeblich sicheren Erkenntnissen, Diagnosen oder Theorien basieren, die Welt von Grund auf umgestalten wollen und dann ungeahnte Folgen haben. „Diese alte neokonservative Skepsis ist jetzt zu unserer geworden. Aber wie kann sie linke Intellektuelle und Aktivisten inspirieren?“
Seit dem 11. September sehen pragmatische, zögerliche Reformer ziemlich schwach aus. Die Rechte konnte mit Großtheorien aufwarten, die sich in ihrer Struktur kaum vom Marxismus unterscheiden – denn „sie erlauben denen, die an sie glauben, über so ziemlich alles überall eine Meinung zu haben“. Der liberalen Linken dagegen ist die große Theorie abhanden gekommen. Sie können nur das bieten, so beobachtet Walzer überraschenderweise, was eine konservative Domäne war – Werte und Moral. Fast alle linken Anliegen sind moralisch begründet: Sie sind für Menschenrechte und Umweltschutz, für gegenseitigen Respekt und nachhaltige Entwicklung, gegen ungerechte Kriege und für humanitäre Interventionen. Die Rechte, die so oft die Werte für sich in Anspruch nimmt, vertritt ein im Kern amoralisches Weltbild: Man wähnt Gott oder die Kräfte des Marktes auf seiner Seite, für die meisten Lebensbereiche gibt es darum keine ethischen Regeln.
Was den Liberalen am meisten fehlt, ist die große Theorie, meint Walzer, oder wie es so schön auf Englisch heißt: „The appearance of coherence is the name of the game.“ Unter dem Eindruck der außenpolitischen Herausforderungen haben Peter Beinart und andere ein solches neues liberales Projekt vorgeschlagen, den Liberalismus als „kämpferischen Glauben“, wovon auf diesen Seiten bereits die Rede war (siehe IP, 1/2005 und 4/2005). Ihr Vorbild ist der militante Antikommunismus großer Liberaler wie A. Schlesinger, R. Niebuhr und J. K. Galbraith. Kann heute der Kampf gegen den islamischen Radikalismus, so fragt Walzer, das neue Zentrum des Liberalismus werden?
Walzer bleibt, seinen eigenen Beobachtungen getreu, skeptisch. Er lehnt Beinarts Vorschlag nicht ab, aber er modifiziert ihn. Die außenpolitischen Erfolge des kämpferischen Liberalismus sind zweifelhaft: Als der cold war liberalism mit der Wahl Kennedys seinen größten Triumph erlebte, stand er unter ständigem Zwang, seine Entschlossenheit zu beweisen – was schließlich nach Vietnam führte. Ihren größten Erfolg errangen die Liberalen für Walzer in der Innenpolitik: Sie machten dem fellow-traveling ein Ende, den heimlichen Sympathien für den Kommunismus und der Unterschätzung des Gegners. Von dieser Haltung könnte die heutige Linke lernen, erklärt Walzer. Sie muss die Gefahr von religiösem Fanatismus und Terrorismus wahrnehmen, sie muss die Notwendigkeit „militanter Opposition“ dagegen erkennen. Und das heißt auch, demokratische Kräfte auf der ganzen Welt zu unterstützen, als Teil einer Strategie gegen den Terror und für die Freiheit.
Darin allein kann sich der Liberalismus jedoch nicht wiederfinden, wie Walzer betont. „Militanz“, ein „kämpferischer Glaube“ stehen einer politischen Bewegung gut an, aber auf dieser Grundlage lässt sich kein liberales Regierungsprogramm errichten. Moralische Prinzipien sind für einen Staat wichtig, sie müssen allerdings „durch Vorsicht gemäßigt und pragmatisch ausgelegt werden“. Welche Folgen hat das für das Projekt der Demokratisierung? Linke und liberale Intellektuelle und politische Aktivisten unterstützen die Demokratisierung, weil diese den eigenen Werten entspricht. Eine liberale Regierung dagegen muss eine solche Politik betreiben, weil demokratische Staaten die „vertrauenswürdigsten Verbündeten“ sind.
Die Linke begreift also, wenn sie Walzer und Beinart folgt, den Kampf gegen den islamischen Radikalismus als welthistorischen Kampf – gegen die „Terroristen wie die Eiferer“, also gegen eine reale politische wie eine umfassendere ideologische Bedrohung. Aber sie muss einen Weg finden, diesen Kampf so zu führen, dass er nicht in einen sich radikalisierenden Kreuzzug mündet – sie muss „jeweils eine Schlacht nach der anderen schlagen“.
Wie kann die liberale Linke von dieser Einsicht aus zu einer neuen, alles integrierenden politischen Strategie finden? Sie muss den Kampf für die Freiheit mit dem Kampf für die Gleichheit verbinden, sagt Walzer. Nur so findet sie eine „kohärente linke Antwort auf Fanatismus und Terror, auf den Verlust der Ordnung in der Welt und die globale Armut, auf Tyrannei und Furcht“. Walzer verknüpft die beiden klassischen liberalen Werte, indem er neben das Vorbild der cold war liberals den amerikanischen Antifaschismus der dreißiger Jahre stellt. Auch wenn man die Analogien nicht übertreiben sollte, erläutert er, weist doch die Mischung aus Fanatismus und Hass, aus Autoritarismus und Brutalität, aus Todeskult und einer radikalen Hierarchie zwischen Gläubigen und Ungläubigen, der Amerika gegenübersteht, eine strukturelle Ähnlichkeit zum Faschismus auf.
Das Erbe des Antifaschismus und das des liberalen Antikommunismus können zum neuen liberalen Paradigma vereint werden – zum Kampf für die „Freiheit von der Furcht“, den schon Roosevelt auf seine Fahnen schrieb. Das ist der Kampf gegen den Terror in Übersee genauso wie der Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit in der Heimat. Der erste Zweck des Staates ist es, den Menschen die Angst vor dem gewaltsamen Tod zu nehmen. Und die Menschen haben Angst – vor Arbeitslosigkeit, vor dem Fehlen medizinischer Behandlung und vor terroristischen Anschlägen. Die „Verteidigung der Schwachen und Verletzlichen ist das klassische Anliegen der Linken“, schreibt Walzer – und in diesem kohärenten Rahmen „kollektiver Sicherheit“ lassen sich außenpolitischer und innenpolitischer Kampf in Einklang bringen. Die liberale Linke muss endlich lernen, fordert Walzer, zugleich über Sozialversicherungssysteme, globale Erwärmung, „dirty bombs“ und Selbstmordattentate zu reden. „Freiheit von der Furcht“ bedeutet, Gefahren ernst zu nehmen und die Kosten ihrer Bekämpfung sozial gerecht zu verteilen.
Von der vordersten Front des Freiheitskampfs berichten in Foreign Affairs (Mai/Juni) Fouad Ajami und Bernard Lewis. Dem jüngsten demokratischen Aufbruch im Libanon widmet sich Ajami. Am auffälligsten ist im Rückblick, wie der zuvor keineswegs unumstrittene Rafik Hariri nach seiner Ermordung zur allumfassenden Figur der Einheit wurde, die den Widerstand gegen Syrien integrierte. Ajami zeigt, wie sich Syrien verschätzt und schließlich ins regionale Abseits gespielt hat, so dass dem Besatzer nur noch der Rückzug blieb. Der Mord an Hariri war das beschleunigende Moment. Aber auch die von den USA und Frankreich, den wichtigsten Schutzmächten der Region, gemeinsam vorangetriebene UN-Resolution 1559 erhält in Ajamis Chronologie entscheidendes Gewicht. Das gemeinsame Auftreten Frankreichs und der USA könne man in seiner Wirkung kaum überschätzen.
Zur Hisbollah hat Ajami einiges zu sagen, was aus regierungsnahen Kreisen in Amerika sonst selten verlautet. Die Hisbollah sei zur konfessionellen politischen Partei der schiitischen Unterschichten geworden. Ihre Führung erkenne, dass sie sich nicht mehr auf syrische Unterstützung berufen kann, sondern als libanesisch-nationalistische Bewegung neu definieren muss. Der „schiitische Mainstream“ werde der Hisbollah eine gewisse Zeit für ihren Strukturwandel einräumen. Auch Frankreichs Ziel sei die „weiche Landung“ der Hisbollah in der politischen Parteienlandschaft. Und die Bush-Regierung habe faktisch eine „Anpassung“ an diese Politik vollzogen.
Libanons Demokraten haben Syriens Spiel durchkreuzt. Der „Herbst der Diktatoren“ scheint angebrochen, auch wenn diese noch einigen Überlebenswillen besitzen. Die Veränderungen in der Region führten zu einem „schrecklichen Sturm“, schreibt Ajami, aber dieser sei „das beste Gegenmittel gegen verpestete Luft“. Der Wind des Wandels wehe, weil sich Washington endlich entschlossen habe, statt auf Diktatoren auf „die Jungen, die Neuen, die Unbekannten zu setzen“. Und so sieht Ajami Araber und Amerikaner gemeinsam auf „dieser Sturmwoge der Freiheit“.
Lewis wendet sich in derselben Nummer grundsätzlichen Fragen zu, nämlich dem Fehlen eines Freiheitsbegriffs und eines Konzepts des politischen Bürgers in der arabischen Sprache und Kultur. Doch die westliche Freiheit ist dem ähnlich, was islamische Gesellschaften Gerechtigkeit nennen – demnach muss der Herrscher seine Macht dem Gesetz gemäß erlangen und ausüben; er darf weder Usurpator noch Tyrann sein. Lewis unterscheidet zwei Traditionen im Koran, die eine quietistisch, mit dem Vorrang von Gehorsam und Unterordnung unter Autorität, die andere aktivistisch, mit der Pflicht zum Widerstand und zum Ungehorsam, wenn der Herrscher etwas verlangt, was dem Koran widerspricht. Lewis’ Anliegen ist es, die zahlreichen innerislamischen Traditionen freizulegen, aus der sich eine Demokratisierung ableiten könnte. Am wichtigsten scheint das Prinzip der konsensualen, an Konsultation und Verträge gebundenen Regierung zu sein.
Wie kam es dann zur Krise der nah-östlichen Gesellschaften? Lewis nennt drei Gründe: die autokratische Modernisierung als Reaktion auf den Westen; der durch dem Vichy-Regime ergebene französische Gouverneure vermittelte nationalsozialistische Einfluss auf die Region 1940, an den die panarabisch-nationalistisch-sozialistische Baath-Ideologie anknüpfen konnte; die Anlehnung an die Sowjetunion im Kalten Krieg, was den Aufbau von Staats- und Unterdrückungsparteiapparaten weiter förderte. Die Übel des Nahen Ostens sind also, erklärt Lewis, größtenteils westlichen Ursprungs. Dazu kommt das Fehlen einer Tradition bürgerlicher Selbstverwaltung – der Idee, dass das Volk an der Ausübung der Regierungsgewalt teilnimmt.
Lewis plädiert nachdrücklich dafür, an die Traditionen des konsensualen Regierens und des Widerstands gegen Despoten anzuknüpfen. Jetzt, da Amerika und Europa hinter einer Befreiung der Region stehen, werde die innerislamische Begründung und Durchsetzung der Demokratie Erfolg haben. Aus dem Westen locken nicht mehr totalitäre Ideologien, sondern erfolgreiche Revolutionen, vom Fall der Berliner Mauer bis zur Ukraine.
Wie diese demokratischen Revolutionen zum Vorbild werden können, beschreibt Franklin Foer in der New Re-public vom 25. April. Er hat Peter Ackerman besucht, einen reichen Finanzier, der durch Kurse, Filme und Computerspiele weltweit Dissidenten in provokativ-kreativen Formen des gewaltlosen Widerstands gegen Tyrannen und Terroristen schult. In Serbien und Georgien hat er eine Rolle gespielt. Gern bedient man sich der Unterstützung des als etwas verschroben geltenden Demokratieenthusiasten in Ländern, wo Kontakte zu offiziellen amerikanischen Stellen zu heikel sind. Aus dem Irak und dem Iran, aus Birma und Simbabwe, aus Palästina und weiteren Ländern, die er nicht nennen will, kommen Ackermans Schüler. Seine Grundeinsicht lautet, dass der gewaltlose Tyrannensturz der effizientere Weg ist, auch wenn er länger dauert.
Ein leidenschaftliches Plädoyer für die Freiheit hält schließlich der führende neokonservative Nahost-Experte Reuel Marc Gerecht im Weekly Standard vom 16. Mai. Er verurteilt die jüngst bekannt gewordene Praxis, Terrorverdächtige zum Verhör in Länder wie Ägypten oder Jordanien zu überstellen. Diese Methode sei nicht nur inhuman und ineffektiv. Vor allem stehe sie im Widerspruch zur Freiheitsstrategie der Bush-Regierung. Vielleicht seien manchmal wirklich verschärfte Maßnahmen als das „kleinere von zwei Übeln“ nötig. Aber dann solle Amerika das selbst tun. Gerecht sieht hierin eine letzte Bastion des realpolitischen Glaubens, man brauche die Diktatoren als Bollwerk gegen den Islamismus. Doch wer die Freiheit verspricht, dürfe auch im Geheimen nicht mit den Tyrannen paktieren.
Internationale Politik 6, Juni 2005, S. 124 - 127.