IP

01. Mai 2022

Die Milošević-Option

Sanktionen werden Putin nicht stoppen. Effektiver wäre ein internationaler Strafprozess wegen Kriegsverbrechen. Das würde die Elite spalten und zu Putins Sturz verleiten.

Am 24. Februar begann der russische Präsident Wladimir Putin einen nicht provozierten Militärangriff auf die Ukraine. Rund zwei Monate später lagen mindestens acht große Städte in Schutt und Asche, Tausende Zivilisten wurden getötet und mehr als vier Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer sind in Nachbarstaaten geflohen. Der Krieg, der bis Redaktionsschluss fast 20 000 russische Soldaten das Leben gekostet hat, ist gekennzeichnet durch die Zerstörung von zivilen Flughäfen, Krankenhäusern, Theatern und Schulen und durch den Einsatz von Waffen, die international seit Jahrzehnten geächtet sind: Streumuni­tion, Phosphor- und Aerosolbomben.



Nachdem die ukrainischen Streitkräfte Anfang April mehrere Städte nördlich von Kiew zurückeroberten, sind auch Massentötungen von Zivilisten bestätigt, von denen einige in sichtbarer Eile hingerichtet und vergraben wurden. Vor diesem Hintergrund ist die Last der Beweise erdrückend, dass Russlands Vorgehen in der Ukraine bereits heute als Kriegsverbrechen betrachtet werden kann. Mittlerweile dürfte mindestens ein Dutzend der in Artikel 8 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs festgehaltenen Bedingungen und auch mehrere andere in Artikel 147 der 4. Genfer Konvention aufgeführte Tatbestände erfüllt sein. Nicht zuletzt deshalb haben die Vereinten Nationen bereits eine unabhängige Untersuchungskommission damit beauftragt, „alle mutmaßlichen Verletzungen und Verstöße gegen die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht sowie vergleichbare Verbrechen im Zusammenhang mit der Aggression gegen die Ukraine durch die Russische Föderation zu untersuchen“. Der Internationale Strafgerichtshof folgte diesem Beispiel mit seiner eigenen Untersuchung möglicher Kriegsverbrechen – allerdings scheint der IStGH dafür nicht unbedingt am besten geeignet zu sein, da weder Russland noch die Ukraine das Römische Statut unterzeichnet haben.

Die entscheidende Frage ist und bleibt jedoch, wie Wladimir Putin vor Gericht gebracht und das russische Regime, das er repräsentiert und personifiziert, untergraben werden kann.



Bislang haben die westlichen Staaten vor allem komplexe und umfassende Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängt. Trotzdem bezweifle ich, dass Präsident Putin, der sich kaum um das Wachstum der Industrie oder das Wohlergehen seiner Untertanen kümmert, seine Strategie in der Ukraine in der Hoffnung ändern wird, dass die Sanktionen aufgehoben werden.



Russland ist in den vergangenen Jahren nicht nur für seine unmittelbaren Nachbarn, sondern auch für die gesamte freie Welt extrem gefährlich geworden und hat sich zum größten Risiko für die internationale Ordnung und die globale Stabilität entwickelt. Es besteht heute kein Zweifel mehr daran, dass Putin gestoppt werden muss. Und auch wenn direkte historische Vergleiche sich in der Regel verbieten, so drängen sich an dieser Stelle doch Parallelen zu Serbiens Rolle im Kosovo-Krieg (1999–2000) auf, anhand derer sich abschätzen lässt, wie gut die Chancen stehen könnten, Putin und seinem Russland doch noch etwas entgegenzusetzen.



Das Beispiel Slobodan Milošević

Der ehemalige jugoslawische Präsident Slobodan Milošević war während der gesamten 1990er Jahre das Enfant terrible der europäischen Politik und führte an vorderster Spitze jene brutalen Kriege, die auf das Auseinanderbrechen Jugoslawiens folgten. Aufgrund der ungeheuerlichen Gräueltaten der serbischen Streitkräfte und der mit ihnen assoziierten Milizen verabschiedeten die Vereinten Nationen am 25. Mai 1993 einstimmig die Resolution 827 des Sicherheitsrats, mit der ein internationales Straftribunal für das ehemalige Jugoslawien ins Leben gerufen wurde.



Noch bevor das Tribunal erstmals tagte, verhängten die westlichen Staaten um­fassende Sanktionen gegen das Land. Die jugoslawische Wirtschaft wurde in ­weniger als einem Jahr ruiniert, die Inflation erreichte 1993 astronomische Höhen und das Bruttoinlandsprodukt ging um mehr als 45 Prozent zurück. Dies bereitete Präsident Milošević einige Schwierigkeiten; entscheidender waren jedoch die militärischen Rückschläge. Im Jahr 1995 stimmten die Belgrader Behörden deshalb einem „umfassenden“ Waffenstillstand und Friedensvertrag zu, der am 21. November 1995 in Dayton, Ohio, geschlossen wurde.



Dennoch setzte die serbische Führung ihren nationalistischen Kurs fort und verprellte damit sogar das eigentlich „verbrüderte“ Montenegro, das alsbald selbst die vollständige Unabhängigkeit anstrebte. Gleichzeitig begannen die albanischstämmigen Kosovaren, zunächst mehr Autonomie und später sogar die komplette Unabhängigkeit von Serbien zu fordern, was 1999 zu Feindseligkeiten führte, auf die der Westen mit einem zweieinhalbmonatigen Militäreinsatz gegen Serbien reagierte. Dieser führte letztendlich zu der Unabhängigkeit des Kosovo, die heute von 117 Staaten, nicht jedoch von Serbien anerkannt wird.



Viel wichtiger ist jedoch, dass der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien Milošević am 24. Mai 1999 als Noch-Präsident zum Kriegsverbrecher erklärte und von den Behörden seine Auslieferung nach Den Haag verlangte. Dies war selbst den Serben zu viel, und im Jahr 2000 verlor Milošević die hart umkämpften Präsidentschaftswahlen. Bald darauf verhaftete die serbische Führung den ehemaligen Präsidenten – übrigens unter Missachtung aller verfassungsrechtlichen Garantien, die seine Immunität sicherten – wegen Korruption und lieferte ihn am 29. Juni 2001 an die Niederlande aus, wo ihm der Prozess gemacht wurde. 2006 verstarb Milošević plötzlich, lange bevor sein Verfahren abgeschlossen war.



Serbien ist seither kein perfektes europäisches Land geworden und ist immer noch weit davon entfernt, der EU oder der NATO beizutreten. Die nationalistischen Kräfte genießen dort weiterhin eine gewisse Popularität und die serbische Führung unterstreicht gerne ihre guten Beziehungen zu Russland. Nicht umsonst gehört das Land zu den drei europäischen Nationen, die nicht auf Russlands „Liste der unfreundlichen Staaten“ stehen.



Und dennoch hat Serbien die schlimmste Seite seiner Geschichte mittlerweile umgeblättert und die zivilgesellschaftlichen Beziehungen zu seinen Nachbarn wiederhergestellt, was die Balkan-Kriege heute eher wie eine weit entfernte historische Episode erscheinen lässt anstatt wie eine Grundlage für neuerliche Konflikte.



Wie sich Putin isolieren ließe

Putins Russland wird seine gefährliche Politik nicht aufgeben, selbst wenn es in der Ukraine militärisch besiegt wird. Putins Regime wird vielleicht weniger Kriege führen oder weniger Korruption und schmutziges Geld exportieren, aber es wird seine eigene Bevölkerung genauso unterdrücken wie bisher; es wird dieselbe neofaschistische Ideologie verbreiten, die es seit Jahren vertritt; und es wird dieselbe Art „hybrider Kriege“ mit der zivilisierten Welt führen.



Ohne Frage zeigen die Sanktionen Wirkung. Trotzdem gehe ich davon aus, dass sie weder Putins Politik noch die Stimmung in der russischen Bevölkerung ändern können. Ein Grund dafür ist die Tatsache, dass der Kreml dem Fußvolk seit Jahren die Botschaft vermittelt, dass der Westen versuche, Russland zu demütigen und zu unterwandern und dass das Volk sich deshalb geschlossen hinter die Regierung stellen müsse. Diese Botschaft wirkt noch immer nach.



Putins Clique hat Russland mehr oder minder in der Tasche und wird das Land niemals freiwillig ans Volk zurückgeben, ganz egal wie heruntergewirtschaftet es auch sein mag. Wenn der Westen – zusammen mit seinen Nachbarn und Verbündeten – also mehr Sicherheit anstrebt, dann sollte er den Schwerpunkt seiner Politik verlagern und statt Sanktionen vielmehr auf einen Regimewechsel setzen, der das imperiale und aggressive russische Gebaren nachhaltig abschwächen könnte.



Denn auch Russland ist dringend da­rauf angewiesen, dass Putin ersetzt wird. Immerhin würde ein solcher Führungswechsel den politischen Streit innerhalb der russischen Elite beenden und wenn nicht zu einer demokratischen Ordnung, so doch immerhin zu einer Regierung führen, die Völkerrecht und Menschenrechten mehr Beachtung schenken würde.



Auf diesem Weg sollte Putins Sturz als erster und wichtigster Schritt getan werden. Nicht zuletzt, weil es Millionen von Russen gibt, die das Ende seiner Herrschaft begrüßen würden, und nur sehr wenige, die für sein Regime kämpfen würden. Trotzdem kann ein Regimewechsel in Russland nicht durch eine Volksbewegung herbeigeführt werden. Zu viele Kritiker Putins sind entweder aus dem Land gedrängt worden oder haben das Land aus eigenen Stücken verlassen. Zudem sind die Polizei und die Sicherheitsdienste zu stark und zu brutal, und es verbleiben kaum Führungspersönlichkeiten, die als Kandidaten für das Präsidentenamt infrage kämen. Deshalb wäre ein Staatsstreich die realistischere Option, der von Putins engstem Kreis von Vertrauten organisiert werden könnte – und nicht von den „Oligarchen“ (die, wie Michail Fridman zuletzt zu Recht erwähnte, überhaupt keinen Einfluss auf den Kreml haben). Die Organisatoren müssten genau jene „starken Männer“ der Sicherheitsapparate sein, die verstehen, dass ihre Träume von Einfluss und Reichtum – auch wenn sie sich erfüllen sollten – in einem von der Außenwelt komplett abgeschotteten Land, das von einem alten Paranoiker geführt wird, nichts mehr bedeuten würden. Und um diese Menschen aus Putins Clique in die Lage zu bringen, den Präsidenten abzusetzen, sollte der Westen eine ganze Reihe von Maßnahmen ergreifen.



Die erste und wichtigste Maßnahme ist Putins Delegitimierung – und das beste Mittel dafür ist es, ihn formell und in aller Öffentlichkeit der Kriegsverbrechen anzuklagen (genauso wie es 1999 mit Milošević geschehen ist). Damit dies geschehen kann, muss so schnell wie möglich ein Internationales Tribunal für Kriegsverbrechen in der Ukraine eingerichtet werden. Immerhin deuten die Vorfälle in Butscha und Irpin darauf hin, dass die russischen Soldaten einen Völkermord an der ukrainischen Bevölkerung begangen haben.



Ein Tribunal sollte die wichtigsten russischen Kriegsverbrechen untersuchen und Beweise für sie sammeln, einschließlich Zeugenaussagen. Russland mit Putin an der Spitze sollte als terroristischer Staat dargestellt werden, der für die Ermordung von Tausenden von Menschen verantwortlich ist und Millionen vertrieben hat. Auf Grundlage dieser Beweise muss Putin als Kriegsverbrecher bezeichnet werden, seine Auslieferung angeordnet und seine diplomatische Immunität aufgehoben werden. Sobald diese Anklage offiziell bekannt gegeben würde, wäre der russische Präsident von allen wichtigen politischen Foren ausgeschlossen. Da­rüber hinaus sollte jeder Kontakt mit ihm verboten werden.



Spaltung der Kreml-Clique

Zweitens sollte die Anklage nicht nur gegen den Präsidenten, sondern auch gegen die militärischen Befehlshaber erhoben werden, angefangen beim Verteidigungsminister und beim Chef des Generalstabs bis hin zu den Generälen, die die brutalen Angriffe auf zivile ukrainische Ziele leiteten, Städte stürmten, für den Einsatz von international geächteten Waffen verantwortlich waren und Massenerschießungen ukrainischer Bürger anordneten.



Der wichtigste Punkt dabei ist, eine klare Linie zwischen Putin und der Armeeführung einerseits und Mitgliedern der russischen politischen Elite andererseits zu ziehen. Gegenwärtig eint den Präsidenten, die führenden Mitglieder seiner Regierung und alle Abgeordneten der Staatsduma und des Föderationsrats ein Umstand: Sie alle stehen unter westlichen Sanktionen. Und genau das sollte sich in Zukunft ändern. Die russische Elite muss aufgeteilt werden in einen Teil, der direkt für Kriegsverbrechen verantwortlich gemacht wird, und einen anderen Teil, der Putins Regime dient, aber eine untergeordnete Rolle bei der Entfesselung und Umsetzung des Überfalls auf die Ukraine gespielt hat. Eine solche Unterscheidung wäre von zentraler Bedeutung, da sie zu einer Spaltung innerhalb der Kreml-­Clique führen könnte, indem sie deutlich aufzeigt, dass einige ihrer Mitglieder weniger Schuld tragen als andere.



Drittens sollte die internationale Gemeinschaft nachdrücklich erklären, dass sie nicht die Absicht hat, sich in die inneren Angelegenheiten Russlands einzumischen und sie weder eine demokratische Ordnung durchsetzen noch Russland „modernen Werten“ unterwerfen will. Stattdessen sollte deutlich gemacht werden, dass sich die Welt einzig und allein darum bemüht, dass von Russland keine unmittelbare militärische Bedrohung für seine Nachbarn ausgeht. Aus diesem Grund sollten die vom Internationalen Gerichtshof angeklagten Personen nicht wegen Korruption, Menschenrechtsverletzungen oder Verstößen gegen russische Gesetze verurteilt werden, sondern ausschließlich wegen der Aggression gegen ein souveränes Land, der Gräueltaten gegen dessen Bevölkerung und der Verletzung des internationalen Besatzungsrechts.



Wenn die Verantwortlichen an das Tribunal ausgeliefert werden, sollten alle nach dem 24. Februar gegen Russland verhängten Sanktionen unmittelbar nach ihrer Ankunft in Den Haag aufgehoben werden. Sobald Putin außer Landes wäre, würden die russischen Eliten beginnen, für ihre Visionen der russischen Zukunft zu streiten, zumindest einige Freiheiten würden wiederhergestellt und neue politische Akteure würden sich etablieren.



Und gleichzeitig sollte das Schicksal der Kriegsverbrecher allen eine Lehre dafür sein, dass die Tyrannei zwar ein internes Problem Russlands sein mag, das Töten von Staatsbürgern anderer Länder aber nicht.   



Dr. Vladislav Inozemtsev

ist Ökonom und derzeit Special Advisor des Russian Media Studies Project beim Middle East Media Research Institute (MEMRI) in Washington.

 

Aus dem Englischen von Kai Schnier

Für Vollzugriff bitte einloggen.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2022, S. 49-53

Teilen

0

Artikel können Sie noch kostenlos lesen.

Die Internationale Politik steht für sorgfältig recherchierte, fundierte Analysen und Artikel. Wir freuen uns, dass Sie sich für unser Angebot interessieren. Drei Texte können Sie kostenlos lesen. Danach empfehlen wir Ihnen ein Abo der IP, im Print, per App und/oder Online, denn unabhängigen Qualitätsjournalismus kann es nicht umsonst geben.