Titelthema

02. Jan. 2023

Die Krise des Welthandels

Geopolitische und geoökonomische Krisen häufen sich, die EU reagiert mit neuem Elan bei Handelsabkommen. Sie muss aber auch dringend die WTO-Reform voranbringen.

Der Welthandel ist ins Stocken geraten. Die Welthandelsorganisation (WTO) erwartet in ihrer Prognose von Oktober 2022, dass sein Wachstum 2023 deutlich auf 1 Prozent schrumpfen wird, während es 2022 noch bei geschätzten 3,5 Prozent lag. Zum Vergleich: Im Durchschnitt lag das Wachstum des Welthandels zu Beginn der 2000er Jahre bis zur globalen Finanzkrise bei rund 8 Prozent.



Bereits vor der Covid-Pandemie gab es Anzeichen, dass die differenzierten Wertschöpfungsketten, die mittlerweile rund die Hälfte des gesamten Handels ausmachen, nicht mehr reibungslos funktionierten. Gründe dafür waren vor allem externe Krisen: So schwand mit der globalen Finanzkrise und später mit dem Amtsantritt von Donald Trump als US-Präsident die Überzeugung in den USA und anderen Staaten, dass eine offene Handelsordnung für alle Vorteile bringt. Im Rahmen der aufkommenden geoökonomischen Rivalität mit China erließen die USA daher zahlreiche Zoll- und Handelsbarrieren, die auch negative Auswirkungen auf andere Handelspartner wie die EU hatten. 2020 führte die Covid-19-Pandemie zu weiteren Verwerfungen für den Welthandel. Auch wenn sich die Lieferketten vergleichsweise robust zeigten, steigerte die Pandemie die Nachfrage nach bestimmten Gütern und schränkte gleichzeitig deren Produktion und Transport ein.



Zuletzt haben die Auswirkungen des russischen Angriffskriegs gezeigt, wie schnell ein politischer Schock die Rohstoffpreise in die Höhe schnellen lassen und einen Markt zum Erliegen bringen kann. Der Krieg hat auch die geopolitischen Risiken der Abhängigkeit von einer Autokratie mit aggressiven Ambitionen deutlich gemacht. Dies hat die Besorgnis über den zukünftigen Umgang mit China verstärkt, einer Autokratie, die sich zunehmend repressiv verhält.



Der aktuelle Einbruch des Welthandels verstärkt die negativen globalen Wirtschaftsaussichten, da er ein wichtiges Mittel zur Abminderung von Schocks ist. Unter dem Stichwort „Countering the Cost of Living Crisis“ kürzte der Internationale Währungsfonds in seinem ­World Economic Outlook vom Oktober 2022 die ­globalen Wachstumsaussichten von 6 Prozent (2021) auf 3,2 Prozent (2022) und 2,7 Prozent im Jahr 2023. Dies sind die schwächsten Wachstumsaussichten seit 2001, die globale Finanzkrise und die akute Phase der Pandemie ausgenommen.



Die angeschlagene WTO

Trotz wiederkehrender Bekenntnisse zur Bedeutung der multilateralen WTO für die Förderung des Welthandels und der Abmilderung bestehender Versorgungskrisen tauchen Begriffe wie „Re-Shoring“ oder „Friend-Shoring“ immer häufiger in den Diskussionen auf. Diese Strategien verfolgen das Ziel, globale Interdependenzen zu reduzieren, um die Gefahr abzuwenden, dass Staaten wie China bestehende Abhängigkeiten als Waffe einsetzen. Dieses geoökonomisch geprägte Umfeld führt vermehrt zu unilateralen Maßnahmen zur Sicherung von Lieferketten und geht zu Lasten von internationalen Organisa­tionen wie der WTO, die durch multilaterale Regeln und dem Prinzip der Nichtdiskriminierung den offenen und vernetzten Welthandel schützt und fördert.



Die EU sieht die Reform der WTO als oberste Priorität ihrer Handelspolitik an, da die globale Institution darauf ausgelegt ist, den internationalen Handel zu erleichtern und Konflikte zwischen verschiedenen Staaten und Wirtschaftssystemen zu lösen. Vor allem die USA betrachten die Organisation jedoch seit geraumer Zeit als Teil des Problems und nicht mehr als Teil der Lösung, da sie es nicht schaffe, China mit seiner intransparenten und staatlich gelenkten Wirtschaft in ihr Regelwerk zu integrieren.



Diese negative Haltung gegenüber der WTO hat sich unter der Präsidentschaft von Joe Biden zwar zumindest dem Anschein nach geändert. Biden ist ein bekennender Multilateralist, und die US-Handelsbeauftragte Katherine Tai hat sich mehrmals zur Reform der WTO bekannt. De facto sieht die amerikanische Handelspolitik jedoch nicht viel anders aus als unter der Vorgängerregierung: Die USA kritisieren weiterhin die jetzige Konstruktion des Streitschlichtungsmechanismus und die ungenügend ausgestalteten Regeln zur Bekämpfung von unfairen Handelsmaßnahmen durch China. Um die WTO tatsächlich zu reformieren und zu modernisieren, ist eine sehr viel größere Führungsrolle der USA notwendig als bisher.



Ein positiver Impuls für die WTO war der erfolgreiche Abschluss der zwölften Ministerkonferenz (MC12) vom Juni 2022, der der Organisation neuen Schwung gebracht hat. Der wichtigste Punkt dabei war, dass überhaupt eine Einigung zwischen den 164 WTO-Staaten zustande kam und die Organisation somit vor der Bedeutungslosigkeit gerettet werden konnte. MC12 verabschiedete ein Abkommen über Fischereisubventionen, das erste multilaterale Abkommen, das die Nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen im Zentrum hat. Es kam zwei Jahre zu spät (Ziel war 2020), kann aber nicht hoch genug eingeschätzt werden. MC12 brachte zudem eine befristete Verlängerung des E-Commerce-­Moratoriums (keine Zölle auf digitalen Handel) und eine vorläufige ­Einigung beim Export von Nahrungsmitteln sowie beim „Waiver“ von Patentrechten für Impfstoffe.



Diese Abkommen sind nur ein Anfang, Konflikte sind vorprogrammiert. So fehlt ein Arbeitsprogramm für den Agrarhandel, das besonders den Entwicklungs- und Schwellenländern am Herzen liegt. Gleichzeitig gibt es noch keine Antworten auf die aktuellen globalen Probleme: Wie erleichtert man den Handel mit Gesundheitsprodukten? Wie kann man den digitalen Handel durch globale Regeln fördern? Und wie kann Handel helfen, den Klimawandel zu bekämpfen? Multilaterale Einigungen sind hier nicht in Sicht.



Schlüsselrolle der EU

Zumindest aber ist ein Voranschreiten über plurilaterale Abkommen (sogenannte Koalitionen der Willigen) nötig, und hier muss die EU eine Führungsrolle spielen. Keiner der großen Player im Handel ist zurzeit bereit, diese Rolle einzunehmen.



Denn allgemeine Bekenntnisse zum Multilateralismus reichen nicht mehr aus. Es müssen Wege gefunden werden, wie Länder mit verschiedenen wirtschaftlichen Systemen zusammenarbeiten können. Dafür muss geklärt werden, wie in Zukunft Handelsstreitigkeiten gelöst werden sollen, wie moderne Handelsregeln erstellt und umgesetzt werden können und wie man das Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten wiederherstellen kann.

Hier muss die EU mehr tun, um die USA und auch China zu bewegen, sich kon­struktiv am WTO-Reformprozess zu beteiligen. Darüber hinaus sollte sie bestehende Koalitionen nutzen, um weitere Modernisierungen anzustoßen. Ein Beispiel ist die „Ottawa-Gruppe“, die neben der EU auch Industrie- und Schwellenländer wie Australien, Kanada, Brasilien, Chile, Japan und Kenia umfasst und genutzt ­werden sollte, um verstärkt Handelsinitia­tiven in die WTO einzubringen.



Neue Bedeutung von Abkommen

Fortschritt in der WTO bleibt wichtig, aber die bestehenden Regeln entsprechen in vielen Bereichen nicht mehr den Anforderungen des modernen Handels. In der Folge haben WTO-Staaten immer stärker regionale und bilaterale Handelsabkommen geschlossen. Am 1. Dezember 2022 waren laut WTO 355 präferenzielle Handelsabkommen in Kraft. Dies entspricht 577 Notifizierungen von WTO-Mitgliedern, wobei Waren, Dienstleistungen und sowie neue Beitritte getrennt gezählt werden.



Sogenannte präferenzielle Abkommen dienen der Förderung von Wohlstand, dem Anschluss an internationale Wachstumspole und tragen dazu bei, Globalisierung zu gestalten, indem sie moderne Handelsregeln festlegen. Gerade im jetzigen geoökonomischen Umfeld und vor dem Hintergrund des russischen Angriffskriegs sind Handelsabkommen auch ein Trumpf, um Allianzen mit gleichgesinnten Partnern zu schließen, die über wirtschaftliche Fragen hinausgehen.



Die EU setzt seit 15 Jahren (mit der „Global Europe“-Strategie von 2007) auf neue bilaterale und regionale Abkommen. Insgesamt hat die EU über 40 Handelsabkommen mit mehr als 70 Ländern abgeschlossen; dazu zählen unter anderem Freihandels-, Wirtschaftspartnerschafts- und Assoziierungsabkommen. Mit dem endgültigen Scheitern des ambitionierten transatlantischen Handels- und Investitionsabkommens (TTIP), das europaweit von Protesten begleitet wurde, nahm jedoch zunächst der Wunsch nach einer aktiven Handelspolitik in Europa ab.



Erst durch die wachsende geoökonomische Rivalität zwischen den USA und China sowie den russischen Angriffskrieg wurde auch die geopolitische Bedeutung von Handelsabkommen deutlich. Diese sind ein wichtiges Instrument für die EU, um Partnerschaften zu schließen und Abhängigkeiten von Autokratien wie China abzubauen. Somit wird nun nach längerer Pause wieder mit neuem Elan über Abschlüsse mit Chile, Mexiko, Australien, Neuseeland, Indonesien und möglicherweise Mercosur verhandelt.



Die USA haben mit 20 Ländern Freihandelsabkommen geschlossen. Das wichtigste Abkommen ist das „United States Mexico Canada Agreement“ (USMCA), das Nachfolgeabkommen von NAFTA. Gerade am USMCA zeigt sich, dass die USA in den Verhandlungen ihre Marktmacht und die wirtschaftlichen Abhängigkeiten der Handelspartner Kanada und Mexiko genutzt haben, um beide Länder zu zahlreichen (auch teilweise WTO-widrigen) Zugeständnissen zu zwingen, vor allem im Automobilsektor. Während Handelsabkommen unter Präsident Barack Obama strategisch genutzt wurden, um auch Chinas Einfluss zurückzudrängen (vor allem mit der Trans­pazifischen Partnerschaft, TPP), haben die USA unter Biden den Fokus auf reine Dialogformate gelegt.



Im Zentrum stehen dabei der Trade and Technology Council (TTC) mit der EU und das Indo-Pacific Economic Framework (IPEF) in Asien. Es geht dabei für die USA um Themen wie nachhaltige Lieferketten, grüne Transformation und digitale Regeln, während Marktzugang – entgegen den Interessen der Partnerstaaten – keine Rolle spielt.



Dynamisches Zentrum Asien

Asien ist mittlerweile zum Zentrum der dynamischen Freihandelsbestrebungen geworden. Nachdem die Region lange Zeit nur auf die multilateralen Regeln der WTO gesetzt hat, sind in jüngster Zeit neue Mega-Abkommen abgeschlossen worden, die aufgrund ihrer Größe neue Standards im Welthandel setzen. Dazu zählt die TPP-Nachfolgerin Comprehensive and Progressive Transpacific Partnership (CPTPP), ein Abkommen von elf Staaten, das unter der Führung von Japan und Australien nach dem von Trump verfügten Ausscheiden der USA erfolgreich abgeschlossen wurde und 2018 in Kraft trat. Dieses Abkommen setzt neue Maßstäbe unter anderem in Sachen Subventionen und Staatsunternehmen, digitalem Handel, der Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen sowie bei der Korruptionsbekämpfung.



Dies macht die CPTPP, die auch weiteren Mitgliedern offensteht, sehr attraktiv. So haben bislang Großbritannien, Süd­korea, China und Taiwan ihren Wunsch nach einem Beitritt mitgeteilt. Häufig wird aufgrund des zu langsamen Fortschritts bei der WTO auch der EU nahegelegt, dem Abkommen als „Ersatz-WTO mit modernen Regeln“ beizutreten. Die EU bleibt jedoch ablehnend, da das Anspruchsniveau niedriger ist als bei den Abkommen, die die EU mit einzelnen CPTPP-Ländern unterhält, und die Handelskapitel häufig auch nicht EU-Standards entsprechen und sehr von den USA geprägt waren.



Der zweite große Megadeal ist die Regional Comprehensive Economic Partnership (RCEP), die zwischen den zehn ASEAN-Staaten sowie China, Japan, Südkorea, Australien und Neuseeland verhandelt wurde und im Januar 2022 in Kraft trat. Auch wenn die Zollsenkungen teilweise nicht sehr ambitioniert sind und lange Übergangsfristen gelten, hat das Abkommen einen entscheidenden Vorteil: Die 15 RCEP-Mitgliedstaaten werden als eine Wirtschaftsregion behandelt. Wenn ein Mitglied Waren aus einem anderen RCEP-Staat verarbeitet, werden diese als Ursprungserzeugnisse des verarbeitenden Landes angesehen. Diese kumulativen Ursprungsregeln erleichtern die Anwendung des Abkommens, gerade auch für kleinere und mittlere Unternehmen. Dieser Ansatz könnte langfristig auch bei EU-Abkommen angedacht werden.



Fazit: Heute wird der Welthandel immer stärker unter geoökonomischen und sicherheitspolitischen Aspekten betrachtet. Globale Arbeitsteilung gilt nicht mehr eindeutig als Vorteil, sondern auch als Angriffsfläche. Unter diesen Umständen leiden globale Organisationen wie die WTO und der offene Welthandel. Mit dem russischen Angriffskrieg stehen – gerade seitens der EU – die Zeichen wieder stärker auf Abschluss neuer Abkommen mit gleichgesinnten Handelspartnern, auch als Weg der Allianzbildung. Dieser Weg muss weitergegangen werden. Aber auch die WTO muss erneut als wichtiges Forum anerkannt werden, in dem unterschiedliche Systeme zusammenarbeiten, um den globalen und regelbasierten Handel zu fördern. Hier muss die EU stärker auf die USA und China einwirken, sich konstruktiv am Reformprozess zu beteiligen.   

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2023, S. 26-31

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Dr. Claudia Schmucker leitet das Geoökonomie-Programm der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).