Die große Verunsicherung
Vorschläge für die deutsche Außenpolitik nach Angela Merkel: Sie braucht die Partner in Paris, Peking und Washington; sie benötigt mehr Mut und viel mehr Klarheit – aber das ist noch lang nicht alles.
Der Abschied war lange angekündigt. Und doch spürt man jetzt, da er näher rückt, dass eine Zäsur bevorsteht. Angela Merkel hat Konrad Adenauers 5143 Tage im Amt längst überflügelt, und selbst Helmut Kohls Rekord (5869 Tage) könnte sie noch einstellen, wenn die Regierungsbildung nach der Bundestagswahl sich hinziehen sollte.
Diese Kanzlerin wollte sich weder aus dem Amt drängen noch abwählen lassen wie ihre großen Vorgänger. Nach der Wahl im September 2021 sollte endgültig Schluss sein. Die Merkel-Ära würde selbstbestimmt und kontrolliert enden.
Doch Monate vor dem Ende kann von Selbstbestimmung und Kontrolle keine Rede sein. Die Union kann nicht einmal mehr erwarten, die selbstverständliche Führungskraft einer neuen Regierung zu sein. Wechselstimmung liegt in der Luft, nur weiß niemand genau, wohin. Es ist unklar wie noch nie vor einer Bundestagswahl, wer auf die Amtsinhaberin folgen wird und in welcher Konstellation er oder sie regieren wird: Schwarz-Grün, Grün-Schwarz, (rote) Ampel, Jamaika – vieles ist denkbar, nichts zwingend.
Machtverlust auf offener Bühne
Weil die Außenpolitik einer Nation immer auch die Projektion ihres inneren Zustands in die Welt ist, schaut das Ausland gespannt auf die Neuausrichtung der politischen Kräfte im mächtigsten Land Europas. Das innenpolitische Beben bietet eine Chance, Deutschlands Rolle in der Welt angesichts von Pandemien, Klimakatastrophen, Digitalisierungsschüben und Großmachtrivalitäten neu zu bestimmen: Was muss sich dringend ändern, worauf lässt sich aufbauen?
Doch Deutschland hat keine Debatte auf der Höhe seiner zahlreichen strategischen Herausforderungen. Stattdessen überwiegen Schock und Verwirrung angesichts der kränkenden Erfahrung, dass die Bundesrepublik merkwürdig führungslos durch eine Krise stolpert, die doch für diese Kanzlerin wie gemacht schien.
Die Methode der beinahe geräuschlosen Krisenbewältigung, die Angela Merkel in 16 Jahren perfektioniert hat, funktioniert nicht mehr. Merkel hatte ihrer Entmachtung zuvorkommen wollen, nun erleidet sie einen Machtverlust auf offener Bühne.
Wann hat das begonnen? Viel spricht dafür, diesen Punkt deutlich vor der Bundestagswahl zu suchen, vielleicht im Herbst 2020, in einer der zahllosen Corona-Nachtsitzungen. Die Pandemie war die erste Krise, in der Angela Merkel ihren Kurs nicht durchsetzen konnte – nicht einmal mehr zuhause, im föderalen System der Bundesrepublik.
Der innenpolitischen Entmachtung entspricht ein außenpolitischer Rückzug. Auch er hat einen langen Vorlauf. Ende Mai 2019 fand einer der merkwürdigsten Auftritte in Merkels Amtszeit statt. Sie hielt die „Commencement Speach“ in Harvard, die traditionelle Rede zum Studienabschluss. Sie warb für Freihandel und Multilateralismus, argumentierte gegen die Leugnung des Klimawandels, für „unveräußerliche Werte“, gegen „Mauern“ und „Ignoranz“. Ein Vermächtnis, eine Art Credo der deutschen Außenpolitik als wohlwollende, moralische Großmacht in einer sich verfinsternden Welt. Die Rede wurde von den Trump-kritischen amerikanischen Medien erwartungsgemäß gefeiert.
In der Begeisterung ging unter, dass da ein verstörender Abschied auf der Nebenbühne stattfand: Die deutsche Bundeskanzlerin war für 24 Stunden in die USA geflogen – ohne überhaupt noch zu versuchen, den Präsidenten zu treffen. Angela Merkel sprach wie eine Dissidentin, die in dunklen Zeiten eine Flaschenpost hinterlässt, als wäre sie schon nicht mehr zuständig.
In den beiden Jahren danach ist die Weltpolitikerin Merkel abgetaucht. Sie ignorierte Trump und nahm die Zeitlupenkatastrophe des Brexit reglos hin. Sie ließ die wiederholten Impulse des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zur Reform Europas und der NATO verpuffen. Sie verkniff sich jede öffentliche Freude über Joe Bidens Ankündigung, Amerika sei „zurück“. Die Kanzlerin, die einst für die Außenpolitik gebrannt hatte und zu Beginn der Trump-Jahre enthusiastisch als „Führerin der freien Welt“ gefeiert worden war, setzte keinen Impuls mehr.
Handlungsfähig, aber wozu?
Die ambitionslose Dämmerungsphase überschattet Merkels Bilanz: Denn in vier existenziellen Krisen, die sich um die Währung, das Recht, die Grenzen und die Souveränität Europas drehten, hat Angela Merkel die Führung übernommen und die Selbstbehauptung des Kontinents gesichert.
In der Finanz- und Eurokrise half sie (mit dem sozialdemokratischen Koalitionspartner) Wohlstand und Zusammenhalt des Kontinents zu bewahren; im Ukraine-Konflikt fror sie (mit dem französischen Präsidenten) den Krieg am Rande Europas ein, schob der russischen Aggression einen Riegel vor und hielt das europäische Sanktionsregime beieinander; in der Migrationskrise schloss Merkel, nach einem Ausflug in den deutschen Unilateralismus namens „Willkommenskultur“, mit Erdoğan den Türkei-Deal und machte so die Grenzen des Kontinents wieder beherrschbar (um so bemerkenswerter, als sie vorher behauptet hatte, das sei nicht möglich).
Dann die langfristig vielleicht folgenreichste Entscheidung ihrer Amtszeit: Angela Merkel gab angesichts der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie Deutschlands Segen zur erstmaligen gemeinsamen Schuldenaufnahme der EU („Hamilton-Moment“) und auch zu direkten Zuschüssen in den Haushalt von Mitgliedstaaten. Ob diese letzte Kehrtwende, der Bruch mit dem deutschen Tabu „Transferunion“, nicht zu spät kam, darüber werden Historiker streiten. Fest steht: Zum Ende hin hat diese ikonoklastische Kanzlerin nach Atomkraft, Wehrpflicht und Homoehe auch noch das heiligste Idol christdemokratischer Solidität und Sparsamkeit gestürzt – die schwarze Null.
Ihr Handeln in all diesen unterschiedlichen Krisen hat einen gemeinsamen Nenner: Angela Merkel hat in vielen langen Nächten geduldig, flexibel und entschlossen die außenpolitische Handlungsfähigkeit Deutschlands (und der EU) erhalten.
Doch jetzt stellen sich Fragen, die Merkel nie beantworten wollte: Handlungsfähig wozu genau? Soll Deutschland dem neuen US-Präsidenten zur Seite stehen beim Versuch, den Westen zu revitalisieren? Oder lieber Distanz halten zwischen seiner unverzichtbaren Schutzmacht USA und seinem ebenso unersetzlichen Wachstumsmarkt China? Mit den EU-Partnern, Frankreich voran, „europäische Souveränität“ anstreben?
Außenpolitische Identität
Die Bundesrepublik, anfangs ein halbsouveränes Gebilde unter Patronage der Siegermächte, hat über Jahrzehnte eine außenpolitische Identität ausgebildet – im heftigen inneren Streit. Man fetzte sich über die Wiederbewaffnung, den NATO-Beitritt, die Entspannungspolitik, die Nachrüstung, die Wiedervereinigung, die ersten Auslandseinsätze der Bundeswehr, den Irak-Krieg und die Euro-Rettung. Man schimpfte sich vaterlandsloser Geselle, Verräter, Kriegshetzer, Kalter Krieger. Immer ging es dabei auch um die Macht. Aber eben nicht nur: Angetrieben wurden diese Debatten von unterschiedlichen Überzeugungen, wo Deutschland hingehört.
Weil die Westbindung von Adenauer klar gesichert worden war, konnte Willy Brandt die Ostpolitik in Angriff nehmen. Die Wiedervereinigung erntete Helmut Kohl erst, nachdem er das Ergebnis der von ihm zuvor bekämpften Entspannungspolitik akzeptierte. Die Mitgliedschaft im westlichen Bündnis brachte Auslandseinsätze mit sich, ausgerechnet für Rot-Grün.
In Debatten, die mal die Rechte, dann die Linke gewann, entstand das außenpolitische Selbstbild der Bundesrepublik. Fest im Westen verankert, doch zunehmend selbstbewusst gegenüber den USA; eingebunden in Europa und erst dadurch souverän; mit einer ausgestreckten Hand gegenüber Russland, aber nicht auf Kosten der Menschenrechte und der kleineren östlichen Nachbarn; wirtschaftlich eng verflochten mit China, aber nicht taub gegenüber Hilferufen aus Xinjiang, Tibet, Hongkong und Taiwan.
Das Selbstbild ist nicht ganz falsch, nur heftig mit dem Weichzeichner bearbeitet. Deutschland handelt durchaus nicht immer so multilateral, europäisch und prinzipienfest, wie es glauben machen will, sondern (wie jeder Staat mit beträchtlicher Macht) unilateral, egoistisch und opportunistisch, wenn es gerade passt. Mit etwas weniger Heuchelei wäre das auch gar nicht weiter schlimm.
Niemand will sie mehr hören, die feierlichen Bekenntnisse zu „mehr Verantwortung“. Pompöse Angebote, den USA mit einem „Marshall-Plan“ beziehungsweise „New Deal“ (Heiko Maas) aus der Demokratiekrise zu helfen, sind eher peinlich. Ebenso die Äußerung des Kanzlerkandidaten der SPD, Olaf Scholz, er sei für eine „europäische Armee“ unter Kontrolle der EU-Kommission und des Parlaments sowie für „Mehrheitsentscheidungen“ in der europäischen Außenpolitik. Er vertritt eine Partei, nur so zur Erinnerung, die selbst nach einer Dekade endloser Debatten nicht in der Lage ist, über die Bewaffnung der Bundeswehr mit Kampfdrohnen zu entscheiden. Bekenntnisse zur europäischen Verteidigung sind nicht glaubwürdig, solange die eigenen Streitkräfte mangelhaft ausgestattet sind.
Heilsame Verunsicherung
Die alte Frage, wo Deutschland hingehört, schien geklärt. Und doch geht es nun wieder um Grundsätzliches. Alle drei Denkrichtungen der deutschen Außenpolitik sind durch verstörende Entwicklungen der vergangenen Jahre aus der Bahn geworfen worden: Transatlantiker erkennen, dass die Krise der Weltmacht USA mit Trump weder begonnen hat noch endet; Entspannungspolitiker finden keine Antwort auf die aggressive Wende Russlands und Chinas; Europapolitiker müssen sich eingestehen, dass die EU – weit entfernt vom Anspruch, „die Sprache der Macht“ zu lernen – schon an der vergleichsweise einfachen Aufgabe scheitert, ausreichend Masken und Impfstoff zu beschaffen (letzteres unter deutscher Ratspräsidentschaft und einer deutschen EU-Kommissionspräsidentin).
Am Ende der Ära Merkel steht eine große Verunsicherung, auch in der Außenpolitik. Denn so ist die deutsche Lage: auf absehbare Zeit abhängig von den Sicherheitsgarantien der USA, angewiesen auf den Energielieferanten Russland und den wachsenden Ambitionen des Handelspartners China ausgesetzt, während die EU bei der Verteidigung der gemeinsamen Interessen schwächelt.
Neue, selbstkritische Töne gefordert
In den Beziehungen zu unseren wichtigsten Partnern ist ein klarerer, aber auch selbstkritischer Ton gefordert. Wer Bundeskanzler werden will, sollte jetzt schon über erste Anrufe in Paris, Washington und Peking nachdenken.
Frankreich wählt im April 2022, und in manchen Umfragen liegt Marine Le Pen mit Emmanuel Macron gleichauf. Eine ethno-nationalistische Präsidentin in Paris wäre für Deutschland schlimmer als Trump und der Brexit zusammen. Hier schon mal einige Ideen für ein erstes Gespräch:
Sorry, dass wir so lange nicht zurückgerufen haben, lieber Emmanuel. Deine Kritik an der NATO war richtig. Sie bleibt für uns dennoch unverzichtbar, schon um nicht über deutsche Atomwaffen reden zu müssen. Und um der Polen und Balten willen, die weder euch noch uns ihre Verteidigung gegen Russland zutrauen. Du hast auch recht damit, dass „Europa schützen muss“. Lass uns jetzt sofort mehr zusammen machen, bei der gemeinsamen Verteidigung, bei der Rüstung, bei digitalen Technologien, in Sachen Künstlicher Intelligenz und Klimapolitik. Wir wollen mit dir eine gemeinsame Haltung gegenüber China formulieren. À propos, auch wir streben strategische Autonomie für Europa an, was denn sonst!
Auch die Amerikaner wählen bald schon wieder – im November 2022 finden in den USA die Zwischenwahlen (Midterms) statt. Niemand weiß, ob Joe Biden danach noch Prokura haben wird. Er wirbt um Deutschland im gemeinsamen Kampf gegen den Klimawandel und den Autoritarismus. Wie könnte eine Antwort aus Berlin lauten?
Herr Präsident, wir sind hocherfreut, endlich wieder als Partner gesehen zu werden. Die demokratische Nahtoderfahrung der Trump-Jahre steckt jedoch selbst den treuesten Atlantikern unter uns noch in den Knochen. Ist es da klug, eine „Allianz der Demokratien“ anführen zu wollen? Die Idee ist sympathisch, aber kontraproduktiv. Sollen Ungarn und Polen dabei sein, die wir in der EU gerade wegen ihrer Attacken auf den Rechtsstaat mit Prozessen überziehen? Westliche Nationen sollten lieber die Demokratie zuhause stärken und auf einen Leuchtturmeffekt hoffen. Und sich wechselseitig bei Angriffen durch autoritäre Regime wie Russland und China stützen.
Wir können und wollen uns aber nicht von China entkoppeln. Bitte zwingt uns also nicht zu einer Entscheidung. Ihr müsst überhaupt, lieber Joe Biden, lieber Tony Blinken, runter von der Kalte-Kriegs-Rhetorik. Starke Sprüche – Putin einen „Killer“ zu nennen, die Behandlung der Uiguren als „Völkermord“ zu bezeichnen – sind kein Ersatz für eine prinzipienfeste, aber gesprächsbereite Politik. Für die stehen wir gegenüber Russland und China bereit. Es war falsch, mit Peking noch schnell ein Investitionsabkommen zu schließen. Wo wir schon bei eigenen Fehlern sind: Nord Stream 2 war ein Rohrkrepierer, und es tut uns leid, wider besseres Wissen jahrelang behauptet zu haben, das Ganze sei ein kommerzielles, kein geopolitisches Projekt. Wir werden das in Sachen Huawei besser machen. Die politische Frage, wer 5G in Deutschland bauen darf, kann man nicht nach technischen Kriterien entscheiden. Geopolitik lässt sich nicht an den TÜV delegieren.
Womit die heikelste Aufgabe für jeden Nachfolger, jede Nachfolgerin im Kanzleramt in den Blick kommt – einen neuen, klareren Ton im Umgang mit China zu finden. Etwa so:
Deutschland will keinen neuen kalten Krieg. Wir sind überzeugt, dass der Wettbewerb zwischen Autoritarismus und Demokratie mitten durch die verschiedensten Systeme der heutigen Welt hindurchgeht. Wir wollen keine neue Blockbildung. Doch mit eurer Politik in Hongkong, Xinjiang und Taiwan sowie mit euren Attacken gegen unsere Partner wie Kanada, Schweden und Australien befördert ihr genau dies.
Wir stehen für Freihandel, gegen Entkopplung und Protektionismus. Wenn ihr aber westliche Firmen boykottiert, weil euch deren Haltung zu Xinjiang nicht passt, werden wir im Gegenzug unsere beträchtliche europäische Marktmacht anwenden müssen. Wir haben ein Investitionsabkommen mit euch abgeschlossen – gegen den Wunsch aus Washington, ein hohes Risiko für uns. Jetzt unterminiert ihr es durch Sanktionen gegen Politiker, Wissenschaftler und Think-Tanks, deren Kritik euch nicht passt. Wolfskrieger-Diplomatie und Fake-News-Kampagnen nehmen wir nicht länger hin. Sollen staatsnahe Konzerne wie Huawei bei uns eine Chance haben, muss das aufhören. Wir fürchten euren Aufstieg nicht, wir glauben nicht an Eindämmungspolitik, sondern wollen zusammen die größte Bedrohung der Menschheit bekämpfen, den Klimawandel.
Wer auch immer Angela Merkel nachfolgt, hat zu Verzagtheit keinen Grund. Die Welt sortiert sich neu, und dabei kommt es mehr denn je auf Berlin an. Das ist auch das Verdienst dieser Kanzlerin, die Deutschlands Einfluss vermehrt hat. Ihr Abgang bietet die Chance, neu zu bestimmen, wofür er eingesetzt werden soll – und wofür nicht.
Jörg Lau ist Außenpolitischer Koordinator im Ressort Politik der ZEIT.
Internationale Politik 3, Mai-Juni 2021, S. 18-23
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