Weltspiegel

02. Jan. 2023

Die große Sprachlosigkeit

Warum in Deutschland der Dialog zwischen Politik und Rüstungsindustrie nicht klappt – und wer am meisten darunter leidet.

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Bild: Ein F 35 Bomber, frontal fotografiert
Amerikanische F35-Bomber sollen die altersschwachen deutschen Tornados ersetzen und die nukleare Teilhabe sicherstellen. Um die milliardenschwere Bestellung gibt es Streit.
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Können Sie sich folgendes Szenario vorstellen? Ein grüner Minister setzt sich vor die blaue Wand der Bundespressekonferenz und verkündet salopp: „Wenn wir mehr militärisches Gerät in die Ukraine liefern, müssen wir unsere Lager wieder auffüllen. Das kostet und – das geht nicht ohne zusätzliche Anreize für die Industrie.“ Grüne Wehrhaftigkeit, mal ganz neu gedacht. Vor ein paar Monaten noch wäre die Szene absurd erschienen. Doch jetzt sprechen selbst Koalitionäre von Grünen und SPD im Vertrauen von einer „Kriegswirtschaft“, die man in Deutschland denken müsse. Natürlich sprechen sie nicht so offen davon, wie der französische Präsident Emmanuel Macron dies schon Mitte Juni 2022 getan hat.



Allein der Begriff „Kriegswirtschaft“ ist eine Formulierung, die in deutschen Debatten nicht vorkommt. Bislang mit gutem Grund, denn die deutsche Rüstungsindustrie und ihr „Premiumkunde“, die Bundeswehr, waren in den vergangenen 30 Jahren auf eine „Versorgungskapazität“ getrimmt, wie es der Politikwissenschaftler Bastian Giegerich vom International Institute for Strategic Studies in London formuliert: „Es war eine kleine Armee und eine kleine Industrie, die auf Reparatur und teure Einzelprodukte konzentriert war.“ Die jetzt so viel beklagte Vernachlässigung der Einsatzfähigkeit der Bundeswehr war politisch gewollt, und zwar über alle Parteigrenzen hinweg. Mit allen auch in Friedenszeiten unerwünschten Nebenwirkungen, die der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Alfons Mais, nur einen Tag nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine nüchtern so beschrieb: „Ich hätte in meinem 41. Dienstjahr im Frieden nicht geglaubt, noch einen Krieg erleben zu müssen. Und die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da.“



Doch plötzlich sind Debatten möglich, die Jahrzehnte unmöglich erschienen. Der Krieg in der Ukraine hat ein Fenster geöffnet, das die Deutschen gern geschlossen gehalten hätten: die Diskussion über die Produktion und mögliche Verwendung von Kriegswaffen als Teil der „Aufrechterhaltung eines glaubwürdigen Abschreckungspotenzials“, wie es im Koalitionsvertrag heißt. Und dies auch noch auf heimischem Boden mit heimischen Konzernen, gern als „Kriegsgewinnler“ bezeichnet und als vermeintliches „Schmuddelkind“ links liegen gelassen. Übrigens nicht nur von der Politik, auch von der Finanzwelt, die sich scheut, Kredite an Rüstungsunternehmen auszureichen. Drei „lessons learned“ lassen sich exemplarisch für die Diskussion ableiten.



Rüstungspolitik ist Industriepolitik

Wie Industriepolitik nicht funktioniert, sieht man am Beispiel fehlender Munition. Nie wurde in den vergangenen Jahrzehnten ein Krieg mit einer Intensität wie in der Ukraine geführt: „Russland hat an manchen Kriegstagen 60 000 und die Ukraine 20 000 Artilleriegranaten verschossen. Für die Bundeswehr wäre somit bereits an einem Tag alles vorbei gewesen“, schrieb das Medienhaus Table.Media.



Gleichwohl – der Posten „Munition“ taucht im 100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr nicht auf. Diese Summe soll allein der Beschaffung dienen und nicht für sogenannte Verbrauchsgüter wie Munition herangezogen werden, die aus dem laufenden Etat finanziert werden müssen. Wie daraus über die nächsten Jahre allein 20 Milliarden Euro aufgebracht werden können, um die Bundeswehr überhaupt in die Lage zu versetzen, ihren Verpflichtungen in der NATO nachzukommen, blieb unbeantwortet.



Genaue Zahlen über fehlende Munition in den Beständen der Bundeswehr werden aus Sicherheitsgründen nicht bekannt gegeben (eine strategisch nachvollziehbare Entscheidung, will man dem Gegner keine Schwächen offenbaren). Die Mängel hingegen sind nicht erst seit dem Krieg in der Ukraine bekannt. Ende 2022 wurde öffentlich, dass die Beschaffung von Munition für Panzer und gepanzerte Fahrzeuge wie den Gepard, der in die Ukraine geliefert werden soll, zwei bis drei Jahre dauern wird. Nicht nur Produktionslinien müssen neu aufgelegt werden; es fehlt auch an Sprengstoff und Pulver für die Fertigung von Artilleriegranaten. Die größten Hersteller kommen aus China und haben die Lieferungen eingestellt oder drastisch reduziert. Der Rheinmetall-Konzern, Hersteller von Munition für Granaten unter anderem für den Gepard, hat als Reaktion darauf den spanischen Marktführer Expal gekauft, um so über 250 000 bis 300 000 zusätzliche Artilleriegranaten pro Jahr zu verfügen. Rheinmetall selbst komme auf eine Kapazität von rund 80 000.



Hinzu kommt, dass auch die US-Rüstungsbranche ihre Produktion im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine erheblich gesteigert hat. Mit massiver staatlicher Unterstützung, wie der Chef-Waffenkäufer des Pentagons, Bill LaPlante, im November erklärte. Er gehe davon aus, dass der Kongress über Parteigrenzen hinweg ausreichende Mittel zur Verfügung stellen werde: „Sie werden uns Garantien für mehrere Jahre geben, um wirklich in die industrielle Basis zu investieren – und ich spreche von Milliarden von Dollar – um diese Produktionslinien zu finanzieren.“



Noch im November antwortete dagegen das Verteidigungsministerium auf eine Kleine Anfrage der CDU im Bundestag, ob man mit der Industrie über die Fertigung von Munition spreche: „Nein, zurzeit bestehen keine derzeitigen Planungen“. Im Kanzleramt schien man den sprichwörtlichen Schuss gehört zu haben. Am 20. November lud das Kanzleramt Staatssekretäre aus dem Verteidigungs- und Außenministerium sowie Vertreter der Rüstungsindustrie zu einem Krisengipfel. Das Thema Munitionsmangel schien nun endlich zur Chefsache geworden zu sein. Stand Anfang Dezember waren aus diesen Beratungen keine konkreten Aufträge für die Industrie hervorgegangen. Man wollte sich weiter treffen.



Das große Schweigen

Das als „Munitionstreffen“ bekannt gewordene Gespräch zwischen Politik und Waffenproduzenten macht ein weiteres – deutsches – Defizit deutlich: die Sprachlosigkeit zwischen Politik und Verteidigungsbranche. Nach der „Zeitenwende“-Rede von Bundeskanzler Scholz am 27. Februar 2022 gab es zwei Videokonferenzen im Verteidigungsministerium mit Unternehmen der deutschen Rüstung. Es ging unter anderem um die unmittelbare Verbesserung der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr. Der Bundesverband der deutschen Sicherheits- und Verteidigungsindustrie (BDSV) fragte darauf seine Mitglieder im Sommer nach Resultaten: Vier von 60 Unternehmen erhielten  eine konkrete Interessensbekundung der Amtsseite; 23  immerhin ein allgemeines Feedback.



Während BDSV-Geschäftsführer Hans Christoph Atzpodien noch von einem „Zeichen der Wertschätzung“ für seine Branche sprach, wurde Präsident Armin Papperger, gleichzeitig Rheinmetall-Vorstandschef, deutlicher: „Die 100 Milliarden reichen nicht aus!“ Starke Worte, die aus der SPD gern gekontert werden. „Das, was ich jetzt erwarte von der Rüstungs­industrie, ist, dass man Kapazitäten aufbaut. Ich hätte erwartet, dass man das schon mit der Rede des Bundeskanzlers am 27. Februar getan hätte“, sagte SPD-Chef Lars Klingbeil im „Bericht aus Berlin“ Ende November.



Über mangelnde Fürsorge vonseiten der Politik beschwerte sich jedoch Ende 2022 die deutsche Luftfahrtindustrie. Sie kritisierte die Bestellung von 35 amerikanischen F-35-Bombern im geschätzten Wert von 8,5 Milliarden Dollar, die die altersschwachen Tornados ersetzen und die nukleare Teilhabe sicherstellen sollen. Es habe kein Signal gegeben, dass die deutsche Luftfahrtbranche an der Wartung oder Instandsetzung beteiligt werden sollte. Die deutsche Branche müsse auf Augenhöhe mit am Tisch sitzen „und nicht alles den Freunden in den USA überlassen“, sagte Martin Kroell vom Präsidium des Bundesverbands der Deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie.



„Hier sprechen zwei Riesen aneinander vorbei“, analysiert Heiko Borchert, der als Unternehmensberater auf sicherheitsstrategische Beratung spezialisiert ist. Obwohl die Rüstungsindustrie in Deutschland weitgehend in privater Hand ist, reguliert die Bundeswehr die Produktlinien. Ein Geschäftsmodell, das über Jahrzehnte relativ gut funktioniert hat, allerdings nicht 1:1 übersetzbar in Zeiten des Krieges ist. Jetzt müssten beide „Riesen“ ihre Kernaufgaben neu definieren, denn der Krieg in der Ukraine hat dieses angenehme Agreement infrage gestellt. „Die große Frage, die sich schon seit Monaten stellt: Wer organisiert den Dialog?“, sagt Borchert, der an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg ein Forschungsprojekt über den Einsatz Künstlicher Intelligenz in Streitkräften leitet. Es gebe hierzulande keine Kultur, rüstungsindustrielle Vorhaben politisch vorzubereiten und zu unterstützen – siehe USA. Bislang haben anscheinend weder der Staatssekretär für Rüstung im Verteidigungsministerium – immerhin ein General a.D., der diesen Posten schon seit vier Jahren innehat – noch der Abteilungsleiter Ausrüstung im Verteidigungsministerium diesen Dialog moderiert. Borchert plädiert für einen überparteilichen Rüstungsbeauftragten – angesiedelt im Wirtschaftsministerium und nicht im Kanzleramt.



Problem drei: die Klassifizierung

Die Finanzierung von Rüstungsgütern ist nicht allein eine nationale Angelegenheit. Die sogenannte Taxonomie, die Klassifizierung von Objekten nach bestimmten Kriterien, ist ein weiteres Problem für die Rüstungsindustrie.



Als Bestandteil des European Green Deal 2020 diskutiert die Europäische Kommission mit dem Rat und dem Parlament bestimmte Vorschläge zu Umwelt-, Sozial- und Governance-Kriterien (ESG). Diese entscheiden, ob eine Anlage als nachhaltig, sozial oder gut geführt gilt. Die ESG sind also eine Art „Gütesiegel“ für den Finanzmarkt. Die Sozial-Taxonomie, so die Planungen, soll für Rüstungsgüter gelten, die damit wie die Tabak- oder Glücksspiel­industrie eingestuft werden: Sie sollten als nicht nachhaltig gelten und damit als „schädliches“ Investment. Seit Russlands Überfall auf die Ukraine ist das hoch umstritten. Dazu Jirí Sedivy, Chief Executive Officer der Europäischen Verteidigungsagentur: „Wir können nicht einerseits die ­europäische Verteidigung stärken und gleichzeitig Rechtsnormen verabschieden, die die Verteidigungsindustrie von den Finanzmärkten ausschließt und ihre allgemeine Wettbewerbsfähigkeit gefährdet.“



In der Zeit vor dieser Entscheidung scheuten viele Geldinstitute davor zurück, ihren Anlegern Investitionen in die Sicherheits- und Verteidigungsindustrie zu empfehlen. Doch es gibt Bewegung: Die schwedische SEB Bank änderte schon im März 2022 ihre Nachhaltigkeitskriterien, um auch Investitionen in Rüstungsgüter zu ermöglichen. Andere Banken sind nach wie vor zurückhaltend, darunter auch die Bayrische Landesbank. Sie rühmt sich mit dem Satz: „Wir finanzieren Fortschritt.“



Schwierige Finanzierung

Wie schwierig es für Start-ups ist, Kredite für Innovationen in der Rüstung zu bekommen, zeigt das Beispiel von 21strategies aus Hallbergmoos bei München. Das junge Unternehmen ist im Dual-Use-Business unterwegs, das Technologien sowohl für den zivilen als auch militärischen Bereich entwickelt. Ihr Kerngeschäft ist die KI-gestützte Abschätzung von Risiken auf dem Währungsmarkt und für Lieferketten. Zusammen mit der Helmut-Schmidt-Universität und dem Rüstungskonzern Hensoldt, der sich auf elektronische Kampfführung spezialisiert hat, entwickelt 21strategies das Forschungsprojekt „GhostPlay“.



Ziel ist es, ein Gefechtsfeld zu simulieren „für taktische militärische Entscheidungen im höchsten Einsatztempo – bei Maschinengeschwindigkeit“. Die Bundeswehr, so Yvonne Hofstetter, Ko-Gründerin des Deep-Tech-Unternehmens, „ist überaus interessiert an unserer Technologie“.  Das Zentrum für Digitalisierungs- und Technologieforschung der Bundeswehr hat unter anderem für solche Projekte eine Fördersumme von 500 Millionen Euro vom Staat bekommen. In Bayern scheint man das anders zu sehen: 21strategies hat trotz eingehender Verhandlung – auch nach Ausbruch des Krieges in der Ukraine – kein Finanzierungsangebot der Bayern Kapital erhalten, die als Venture Capital-Gesellschaft des Freistaats Bayern (Landesbank) seit über 25 Jahren „innovative bayrische Gründer:innen“ fördert. Der Grund: „GhostPlay“. Ihnen sei mit Hinweis auf die Verwendbarkeit im militärischen Bereich gesagt worden, zitiert Hofstetter: „Das können wir nicht finanzieren.“ Kein Einzelfall unter Start-up-Unternehmen, die im Dual-Use-Bereich arbeiten.



Strategieberater Borchert ist ebenfalls an „GhostPlay“ beteiligt, das Gary S. Schaal an der HSU leitet. Er hält dieses Prozedere für „völlig unlogisch, gerade auch bei einer Landesbank“. Hier sei die Politik gefordert, dafür zu sorgen, dass die Finanzierung von Rüstungsgütern nicht als „schädlich“ gilt. Dass der BDSV als Lobbyverband der Rüstungsindustrie bei diesem Thema ebenfalls versucht, seinen Einfluss auf die Politik geltend zu machen, überrascht nicht. Der Druck auf die Politik kommt allerdings auch noch von anderer Seite. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg stellte Anfang Dezember im Hinblick auf die Beschaffung von Rüstungsgütern klar, dass die Politik hier in der Verantwortung stehe: „Wenn man Leben retten will, muss man Munition haben. Das ist die brutale Realität.“ Man muss dafür ja nicht gleich vor der Bundespressekonferenz von „Kriegsindustrie“ sprechen.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar/Februar 2023, S. 76-80

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Nana Brink ist freie Journalistin und Autorin und auf Themen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik spezialisiert.

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