In 80 Phrasen um die Welt

25. Juni 2021

Die „Gewaltspirale“ – ein Sprachklischee unter der Lupe

Die IP-Kolumne zu Phrasen im Kontext der internationalen Politik.

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Bild: Illustration eines Spruckbandes das die Erde umkreist
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Das Bild ist vielleicht das beliebteste Nahost-Klischee. Journalisten ebenso wie Diplomaten greifen reflexhaft darauf zurück, wann immer der Konflikt zwischen Israel und militanten Gruppen sich zuspitzt, wie etwa zuletzt beim jüngsten Gaza-Krieg.



„Die Gewaltspirale dreht sich weiter“ hieß es gleichlautend in zahlreichen deutschen Zeitungen, in Radio- und TV-Berichten. Das Auswärtige Amt bekräftigte die Absicht zur „künftigen Vermeidung neuer Gewaltspiralen“. US-Außenminister Antony Blinken wurde mit dem Wunsch zitiert, bei seinem Besuch in der Region mit intensiver Diplomatie die „derzeitige Spirale der Gewalt“ („cycle of violence“) zu beenden.



Eigentlich kommt das Konzept der Gewaltspirale aus dem Bereich der sogenannten „häuslichen Gewalt“. Es bezeichnet eine Missbrauchsbeziehung – meist zwischen einem gewalttätigen Mann und seinem weiblichen Opfer –, die von zyklisch auftretenden, immer schlimmeren Angriffen gekennzeichnet ist. Das Opfer bleibt in emotionaler Abhängigkeit befangen und erduldet die Gewalttaten, unterbrochen von Entschuldigungen des Täters, auf die dann jeweils der nächste, noch krassere Übergriff folgt. Am Ende ist oft eine Intervention von außen notwendig, um die Macht der Gewalt zu brechen.



Auf die Beziehung zwischen Israel und der Hamas (oder anderen militanten Gruppen der Region wie der Hisbollah) passt die Gewaltspiralen-Metapher nicht. Diese Letzteren sind alles Mögliche, aber sicher keine armen Opfer (anders als die Zivilisten, hinter denen sie sich verschanzen). Die Suggestion einer einseitigen gewalttätigen Missbrauchsbeziehung zwischen Israel und den Palästinensern verdreht die historischen Fakten.



Das tiefere Problem dieser Phrase liegt aber darin, dass sie blind dafür macht, dass und wie Gewalt in diesem Konflikt von beiden Seiten gezielt als politisches Mittel eingesetzt wird. Es gibt zwar wiederkehrende Muster in allen vier Gaza-Kriegen der vergangenen 13 Jahre. Aber es lassen sich auch bedeutsame taktische Innovationen beobachten, die den Konflikt verändern und die Machtbalance kippen könnten.



Der jüngste Versuch der Hamas, das israelische Abwehrsystem Iron Dome durch massenhaften Beschuss zu überwältigen, war eine kühne neue Taktik, die Israel sichtbar in Schwierigkeiten brachte. Die Hamas feiert den Waffenstillstand als Erfolg über das hochgerüstete israelische Militär.



Die israelische Luftwaffe versucht ihrerseits, durch Vorwarntaktiken zivile Opfer zu minimieren, etwa durch Bomben, die „anklopfen“ und Zeit zur Evakuation geben, bevor Ziele mit scharfer Munition zerstört werden. Das geschieht nicht allein aus humanitären Gründen, sondern auch, um überhaupt handlungsfähig zu bleiben und einen asymmetrischen Luftkrieg im dichtbevölkerten Gaza unter globaler medialer Aufmerksamkeit durchhalten zu können. Dennoch waren u. a. Dutzende getöteter Kinder zu beklagen.



Das Bild einer steuerungslos selbstdrehenden „Gewaltspirale“ verstellt den Blick auf die Strategien beider Seiten. Es entpolitisiert und vernebelt den Konflikt, indem es die eine Seite als übermächtige Täter dämonisiert und die andere auf ein Dasein als Opfer reduziert. Es gehört – um ein weiteres  Klischee zu bemühen – auf den Müllhaufen der Geschichte.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2021, S. 15

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