Die Gasölmedienbankkolchose
Außen- und Innenansichten eines russischen Energiegiganten
Gasprom ist das neue Herzstück des russischen Staatspatriotismus. Faktisch im Besitz des Kremls, setzt der Konzern nicht nur Wirtschafts-, sondern auch russische Staatsinteressen durch. Das wirkt nicht nur im Westen manchmal bedrohlich. Auch in Russland selbst wächst die Kritik an den bisweilen mafiösen Praktiken des Gasriesen.
Fremde Riesen machen Angst. Von dem russischen Staatskonzern Gasprom wusste die deutsche Öffentlichkeit bisher kaum mehr, als dass er beängstigend groß ist. Man war unangenehm berührt, als der Gasgigant Anfang Dezember verkündete, er habe Exkanzler Gerhard Schröder als Aufsichtsratsvorsitzenden der von Gasprom kontrollierten Betreibergesellschaft der Nordeuropäischen Gaspipeline verpflichtet. Aus Irritation wurde Unruhe, als im Laufe des Dezembers Gasprom die Ukraine unter Druck zu setzen begann, um einen Preisschub von 50 auf 230 Dollar pro 1000 Kubikmeter Gas durchzusetzen. Die Unruhe wuchs, als der Gasriese der Ukraine zu Neujahr sogar den Gashahn zudrehte. Gasprom erschien plötzlich als Stoßstange eines neureichen, aggressiven, gas-, öl- und machtbewussten Russlands. „Gasprom ist auf Grund eines enormen Geldbergs längst dabei, sich in Banken und Volkswirtschaften einzukaufen. Ziel ist es, weltweit eine marktbeherrschende Position einzunehmen und so – wie im Energiebereich – die Preise zu diktieren“, warnt der Mafiaexperte Jürgen Roth. „Wir werden erpressbar, sobald eine deutsche Regierung mit Putins Politik aus irgendeinem Grund nicht zufrieden ist oder es massive Interessenkonflikte geben sollte.“1
- 1Jürgen Roth, Interview, Spiegel Online, 22.12.2005.
Russen sind laut, nicht nur bei Gasprom. Auch Moskauer TV-Kommentatoren wie der kremltreue Michael Leontjew taten das ihre, um wiedererwachte europäische Ängste vor der gasgetriebenen „Dampfwalze“ aus dem Osten zu schüren. „Sie werden es nicht überleben“, prophezeite Leontjew kurz vor dem Beginn des Gasembargos gegen die Ukraine genussvoll den Untergang der „orangenen“, prowestlichen Regierung in Kiew. „Die ,Orangenen‘ werden verschwinden, mit Schande, bespuckt vom eigenen Land.“2
Bedroht der Staatsmonopolist Gasprom die politische Souveränität seiner osteuropäischen Nachbarn? Bedroht er auch die Energiesicherheit der Bundesrepublik, die jährlich über 40 Milliarden Kubikmeter Gas aus Russland bezieht? Ist es ein Irrweg, wenn Deutschland mit dem gemeinsamen Bau der Ostsee-Pipeline (NEPG) „die strategische Partnerschaft mit Russland fortsetzen und weiterentwickeln“ möchte?3
Wer mit Gasprom Geschäfte machen will, sollte jedenfalls keine Angst haben, einem Koloss die Hand zu schütteln. Die „Offene Aktiengesellschaft Gasprom“, das sind 330 000 Angestellte, 460 000 Aktionäre und mehrere tausend Subunternehmen. Das firmeneigene Rohrleitungssystem wickelt sich mit einer Länge von 153 000 Kilometern fast viermal um den Erdball. Gasprom besitzt das Exportmonopol und Förderlizenzen für 28 006 Milliarden Kubikmeter Erdgas, 16 Prozent der Weltreserven. Insgesamt lagern in Russland 47 811 Milliarden Kubikmeter, über 30 Prozent der globalen Bestände. Außerdem gehören Gasprom Rohstofflager mit 0,65 Milliarden Tonnen Erdöl und 1,24 Milliarden Tonnen Kondensat, deren Wert der Konzern auf 84 Milliarden Dollar beziffert4 – beziehungsweise auf ein Öläquivalent von 108 Milliarden Barrel, das Fünffache der Reserven des Weltmarktführers Exxon Mobil.5 2004 förderte Gasprom 86 Prozent des gesamten russischen und etwa 20 Prozent des weltweit gewonnenen Gases: 541,1 Milliarden Kubikmeter im Jahr. Bis 2030 will Gasprom 610 bis 630 Milliarden jährlich fördern.6
Die Marktkapitalisierung der Firma beträgt 160 Milliarden Dollar, der Umsatz für 2005 wird auf 44,6 Milliarden Dollar geschätzt.7 Gasprom ist die mit Abstand kauffreudigste juristische Person Russlands, die Anfang Oktober allein 13,6 Milliarden Dollar für 72,6 Prozent Aktienanteile der Ölfirma Sibneft zahlte, die fünftgrößte russische Ölfirma. Mit dem Deal erweiterte der Staat seine Kontrolle auf über 30 Prozent der russischen Ölproduktion. In der westsibirischen Provinzhauptstadt Omsk brach Panik aus, weil Sibneft ankündigte, den Firmensitz von Omsk nach Sankt Petersburg zu verlegen: Die Steuerverluste würden den Omsker Gebietshaushalt glatt halbieren.
Gasprom expandiert. Der Konzern wird gemeinsam mit den deutschen Energiekonzernen BASF und E.ON Ruhrgas eine 1200 Kilometer lange Leitung durch die Ostsee bauen, die 2010 in Betrieb gehen und eine Kapazität von 55 Milliarden Kubikmeter jährlich haben soll. Dabei sind die Deutschen nur Juniorpartner, die gemeinsame Betreibergesellschaft gehört Gasprom zu 50 Prozent plus einer Aktie. Auch plant Gasprom bereits Abzweigungen nach den Niederlanden, Großbritannien und Skandinavien und lässt sich in Deutschland über die BASF-Tochter Wingas, an der Gasprom 36 Prozent Anteile hält, an der lukrativen Endvertreibung des NEPG-Gases beteiligen. Die deutsche Gasprom-Tochter ZMB GmbH hat im Januar in Berlin die erste Gastankstelle des Konzerns eröffnet. ZMB möchte sich außerdem an der Gassuche in der Nordsee beteiligen und deutsche Gasversorgungsunternehmen kaufen. „Wir wollen nicht nur als Lieferant von Erdgas funktionieren“, so Hans Joachim Gornig, Deutschlandchef von Gasprom, „sondern näher an den Verbraucher herankommen.“8 Andererseits gewährt Gasprom BASF-Firmen direkten Zugang zur Erdgasförderung im sibirischen Juschno Russkoje und verhandelt darüber auch mit E.ON Ruhrgas.
Allerdings erstaunt, dass E.ON Ruhrgas bei dem Deal bisher schlechter abschnitt als BASF, obwohl E.ON Ruhrgas über 6,4 Prozent der Gasprom- Aktien und sogar einen Sitz im Aufsichtsrat verfügt. Es stellt sich die Frage, welchen Einfluss bei Gasprom welcher Besitzer hat. Und wem gehört der Gasmonopolist überhaupt?
Unterklassebesitzer: die Aktionäre
Offiziell hält der russische Staat 38,37 Prozent der Aktien, russische Firmen 36,81 Prozent, ausländische Unternehmen 11,5 Prozent und russische Privatpersonen 13,32 Prozent. Tatsächlich sind unter den russischen Eignerfirmen diverse Gasprom-Töchter, Betriebe, an denen wieder der Staat Anteile hält. Indem die staatliche Rosneftegas im Juni vergangenen Jahres von vier Gasprom-Töchtern 10,74 Prozent der Gasprom-Aktien erwarb, sicherte sich der Kreml einen realen Anteil von knapp über 50 Prozent. Mit diesem in Zukunft auch gesetzlich festgeschriebenen Kontrollpaket in Händen hat die russische Regierung zum Jahresbeginn alle Beschränkungen für den Kauf von Gasprom-Aktien durch Ausländer liberalisiert. Bisher durften offiziell nur 3,6 Prozent der Anteile auf dem internationalen Markt gehandelt werden. Doch nach Ansicht von Analysten besitzen ausländische Portfolioinvestoren über russische Strohmänner schon jetzt 27 Prozent der Gasprom-Aktien.9 Und man rechnet mit steigender Nachfrage. Andererseits beklagen Vertreter der Minderheitenaktionäre wie der Hermitage Capital Management Fond schon jetzt fehlende Transparenz. Und Gasprom zahlt allen Aktionären zu niedrig angesetzte Dividenden, so ein Bericht des Russischen Rechnungshofs vom 11.11.2004.10
Besitzer der Oberklasse: der Kreml
Gasprom ist mehr als nur eine Aktienfirma, Gasprom ist das nationale Projekt des Kremls. Es ist kein Zufall, dass der Staat wieder die Aktienmehrheit hält, dass mit Alexej Miller ein alter Vertrauter des Präsidenten Chefmanager der Firma ist und dass mit Vizepremier Dmitrij Medwedew ein Favorit und Nachfolgekandidat Putins dem Aufsichtsrat vorsitzt. Gasprom gilt in Moskau als Chefsache, oder, wie es ein anonymer Gasprom-Mitarbeiter formulierte: „Du sagst Miller und meinst Putin.“11 Es heißt, Putin selbst habe schon 1998 mit dem Posten des Gasprom-Chefs geliebäugelt. „Ihm gefällt diese Firma, gefällt die Idee eines Supergasmonopols, das einen Supereinfluss auf Politik, Wirtschaft und internationale Beziehungen ausübt. Er scheint zum Gas so etwas wie ein erotisches Verhältnis zu haben“, urteilt der Branchenspezialist Wladimir Milow, früher stellvertretender Energieminister. „Alles, was im Gassektor passiert, bestimmt in wesentlichem Maß der Präsident persönlich.“12
Laut firmeneigener Propaganda ist Gasprom eine nationale Errungenschaft. „Russlands Siege multiplizieren!“ verkündet ein TV-Werbespot des Konzerns. Als Synonym für die vaterländische Wirtschaftspotenz nimmt Gasprom eine zentrale Position in der russischen Alltagsideologie ein. Mit der Sowjetunion brachen Militär und Schwerindustrie als Säulen der Weltmachtansprüche zusammen. Russland fand sich als industrieller Zwerg und reiner Rohstofflieferant wieder. Aber angesichts seit Jahren steigender Öl- und Gaspreise macht die politische Klasse aus dieser Not nun eine Tugend: Man propagiert sich als neue energetische Supermacht. „Wir versorgen sie störungsfrei mit Brennstoff, garantieren faktisch ihre Energiesicherheit, dafür müssen wir entsprechende Dividenden erhalten“, erläutert Grigorij Vygon von der Moskauer Beraterfirma 4D Consult den neuen Herrschaftsanspruch gegenüber den Europäern.13 Dem entspricht das Selbstverständnis, das bei Gasprom herrscht. „Jetzt sind wir cool ... Die Gaspreise sind sehr hoch, und wir können allen beliebige Bedingungen diktieren“, befindet ein Finanzmanager gegenüber Russkij Newsweek. Der Politologe Dmitrij Oreschkin bestätigt: „Gasprom ist ein ausgezeichnetes politisches Instrument, es kann als Peitsche oder als Zuckerbrot dienen.“14
Dabei feiern das Firmenmanagement und der Kreml das russische Gas als geradezu teleologische Ressource: „Unter Berücksichtigung zusätzlicher Erkundungen kann man sagen, dass die Gasreserven von Gasprom in vernünftiger historischer Perspektive unerschöpflich sind“, erklärt Alexej Miller.15 Was fraglich ist: Wenn Russland weiter jährlich 630 Milliarden Kubikmeter Gas fördert, dann werden seine zurzeit bekannten Vorräte von 47 811 Milliarden Kubikmeter Gas in 75 Jahren erschöpft sein. Die Gasprom-Vorräte von 28 006 Milliarden reichen nur für gut 61 Jahre. Sollte Gasprom seine Jahresförderung von 445 Milliarden Kubikmetern allerdings wie geplant auf bis zu 630 Milliarden Kubikmeter steigern, geht der blau flammende Reichtum wesentlich früher zur Neige. Aber das mag auch Wladimir Putin nicht glauben: „Die Vorräte sind größer als wir denken, sie werden für uns und die künftigen Generationen ausreichen.“16
Der Kreml nutzt diesen Reichtum längst für alle möglichen politischen Zwecke. Zu Anfang von Putins Präsidentschaft kaufte die Firmentochter Gasprom-Media klammheimlich Aktien der liberalen Mediamost-Gruppe auf. Deren Zeitungen, vor allem aber sein Fernsehsender NTW, schossen immer wieder kritische Breitseiten gegen den Kreml. Als Gasprom-Media schließlich das Kontrollpaket in der Tasche hatte, feuerte man die Redaktion der Zeitschrift Itogi komplett, bei NTW warf man alle opponierenden Mitarbeiter hinaus. Diskussionssendungen und politische Magazine wurden abgesetzt, was blieb, wird gründlich zensiert. Gasprom-Media kontrolliert heute außer NTW zwei weitere Fernsehsender und zahlreiche Zeitungen und hat erst vergangenen Juni die Iswestija erstanden. Die Holding wacht auch über das letzte pluralistische Feigenblatt im russischen Äther, den Radiosender Echo Moskwy. Dort kommen neben Kremlpropagandisten auch russische Oppositionelle ausgiebig zu Wort. Jedenfalls bis auf weiteres.
Auch außenpolitisch macht der Kreml mit Gasprom Politik. So einigte sich die Firma mit ihrem weißrussischen Pendant Beltransgas auf einen Vorzugspreis von 46,7 Dollar für 1000 Kubikmeter Gas. Nicht nur, weil Minsk Gasprom für 49 Jahre die weißrussische Transitpipeline verpachtete, sondern auch als Anerkennung für die Loyalität des Diktators Lukaschenko. Dagegen sollte die Ukraine ab 2006 statt 50 Dollar 230 Dollar für 1000 Kubikmeter zahlen. Kiew weigerte sich, und Gasprom drehte den Gashahn zu. Der Kriegsgrund: In der Ukraine regiert Viktor Juschtschenko, der vergangenen Winter durch eine friedliche Revolution die moskautreue Korruptokratie gestürzt hatte. Juschtschenko will sein Land dem Westen öffnen und in die EU führen. Für Moskau offenbar Verrat am großen Bruder. Wie beleidigt der Kreml war, enthüllte ein Putinberater russischen Fernsehjournalisten: „Wenn deine Geliebte dich sitzen lässt, gibst du ihr auch nicht deine Kreditkarte mit.“17
Besitzer der Mittelklasse: die Manager
Jetzt weiß jeder europäische Zeitungsleser, wie sehr Gasprom dem Kreml gehört. Weniger bekannt sind die vielen stillen Teilhaber an dem Konzern und seinem Reichtum. Angefangen mit Viktor Tschernomyrdin, dem letzten Sowjetminister für Gasindustrie und dem ersten Chef des 1998 aus dem Ministe-rium hervorgegangenen Monopols. Als Tschernomyrdin 1992 Ministerpräsident wurde, folgte ihm sein Stellvertreter Rem Wjachirew. Beide galten als legendäre Geschäftemacher; von Tschernomyrdin hieß es, er halte insgeheim Gasprom-Aktien in Höhe von vier Milliarden Dollar. Wjachirew wiederum ernannte seinen Sohn zum Chef von Gasexport, der umsatzträchtigsten Verkaufsfirma des Konzerns. Seine Tochter wurde, wie zwei Tschernomyrdin-Söhne, Großaktionär der Gasprom-Tochter Strojtransgas, die für den Bau und die Wartung des firmeneigenen Pipelinenetzes jährlich Milliarden Dollar ausgeben durfte.18 Um die Melkkuh Gasprom herum sammelte sich ein Schwarm parasitärer Vertriebsfirmen, die für Spottpreise Gas bekamen und dieses teuer weiter verkauften. Oder umgekehrt überteuerte Ausrüstung lieferten. Am berüchtigsten war die in Florida registrierte Firma Itera, die Gas in die ehemaligen Sowjetrepubliken vertrieb. Gasprom überließ Itera unter anderem die Förderfirma Rospan, mit besten Lagerstätten im Gebiet Tjumen – für 286 Dollar. Gasprom hatte vorher 50 Millionen Dollar in Rospan investiert.19 „Gasprom, das ist kein Wirtschaftsunternehmen“, schimpfte die Nowaja Gaseta, „sondern eine Wohltätigkeitsveranstaltung für dubiose Firmen, die Wjachirew und seinen Freunden sympathisch sind.“20
Tschernomyrdin ist inzwischen Botschafter in der Ukraine. Wjachirew wurde als Verwaltungschef im Mai 2001 von Putins Vertrautem Alexej Miller abgelöst. Zum Abschied verlieh Präsident Putin Wjachirew den Orden „Für Verdienste um das Vaterland“, allerdings nur vierten Grades.21 Gegen seinen Sohn Jurij, der im Januar 2002 seinen Abschied als Gasexportchef nahm, soll sogar die Staatsanwaltschaft ermittelt haben. Aber bisher wurde kein einziges Strafverfahren gegen ehemalige Gasprom-Manager eröffnet.
Seitdem Miller Gasprom leitet, ist es ruhiger um die Firma geworden. Das mag an der allgemeinen Pressezensur liegen, aber auch daran, dass seine Topmanager weniger korrupt sind. Andererseits sind sie kaum kompetenter. „Früher hatte Gasprom einen richtigen Hausherrn – Rem Wjachirew. Heute einen Kommissar – Alexej Miller“, schreibt Sowerschenno Sekretno.22 Ein ehemaliger Kollege aus Millers Petersburger Zeit charakterisiert ihn als „idealen Stellvertreter. Völlig ohne Eigeninitiative, versucht er keine eigenen Entscheidungen zu fällen, auf keinen Fall Verantwortung zu übernehmen.“23
Miller reformiert Gasprom genauso wenig wie seine Vorgänger. Er erhöhte die Gehälter für die Stammfirma bereits mehrfach, nach Aussagen von Mitarbeiter können Hochschulabgänger mit einem Anfangsgehalt von 1500 Dollar rechnen, das Doppelte von dem, was die Moskauer Privatwirtschaft zahlt. Schon unter Wjachirew baute Gasprom komfortable Wohnanlagen für seine Angestellten. Das 35-Etagen-Hauptquartier im Süden Moskaus hat ein eigenes Hotel, eine Poliklinik, ein Schwimmbad, einen sehr gut sortierten Supermarkt, wo die Buchhalterinnen für umgerechnet knapp 30 Euro italienische Lederhandschuhe kaufen können, die in anderen Geschäften das Doppelte kosten würden.24 Ein post-sowjetisches Angestelltenparadies, wo allerdings auch postsowjetische Regeln herrschen: Junge Spezialisten beklagen sich, ohne Beziehungen hätten sie kaum Aufstiegschancen; sie wechseln deshalb oft in schlechter zahlende, aber „demokratischer“ organisierte Betriebe – während Sergej Iwanow, der 24-jährige Sohn des russischen Verteidigungsministers, im vergangenen Januar bei der Gasprom-Bank gleich als stellvertretender Direktor einstieg.25 Wjachirews Mannschaft wird von Firmeninsidern als hilfloser Kindergarten verspottet: Ein 24-jähriger führender Mitarbeiter wurde vorgestellt, der die Leitung eines Milliardenbetriebs übernehmen sollte. Der neu ernannte Chef erkundigte sich schüchtern: „Kriege ich ein Mobiltelefon?“26
Der Apparat gilt als behäbig, bisweilen schlampig und nach wie vor korruptionsumwittert. So blüht die Firma Strojtransgas aus der Ära Wjachirew weiter. Wie Wadim Klejner vom Hermitage Capital Management Fonds ausgerechnet hat, bezahlt Gasprom Strojtransgas für den Pipelinebau drei bis viermal so viel wie in anderen Ländern üblich. Und wie unter Wjachirew wenden Gasprom-Einkäufer sich lieber an windige Zwischenhändler als an den Produzenten. Laut Klejner erstand Gasprom bis Ende 2002 ukrainische Röhren direkt beim Charyzskij-Röhrenwerk. Inzwischen hat man einen Vermittler dazwischen geschaltet, der dieselben Röhren 35 Prozent teurer liefert.27 Vor allem im mittleren Management gelten postsowjetische Regeln: Kontakte sind alles. Und: Nicht dein Gehalt zählt, sondern der Gewinn, den du aus deinem Posten schlägst. „Alle Einkäufe von Gasprom beruhen auf persönlichen Beziehungen und laufen über Firmen, die den Mitarbeitern des Monopols nahe stehen“, so ein Energieexperte gegenüber Russkij Forbes.28 Die dabei erwirtschafteten Schwarzgelder wandern zum großen Teil auf westliche Banken. „Mir liegen Geldwäscheverdachtanzeigen des deutschen Zolls vor. Darin notierten die Beamten Aktivitäten von Kurieren, die im Namen von Gasprom unter anderem in der Schweiz Millionen US-Dollar deponiert haben“, sagt Jürgen Roth.29 All das ist kriminell, aber eine Kriminalität, die sich gegen Gasprom selbst richtet.
Monopol und Misswirtschaft
Es erstaunt nicht, dass Gasprom seinen Kernbereich vernachlässigt. Wladimir Milow rechnet damit, dass der Gasmonopolist im Jahr 2005 6,27 Milliarden Dollar in so genannte Downstream-Bereiche investierte, die nichts mit Gasförderung zu tun haben – aber nur 2,45 Milliarden „upstream“ in die arbeits- und kostenintensive Gasförderung.30 Während die Gasprom-Förderung seit 1999 praktisch stagniert, fördern die wenigen privaten Förderfirmen Russlands gegenüber 45 Milliarden Kubikmetern Gas im Jahr 1999 inzwischen fast 100 Milliarden Kubikmeter.31 Nach dem bereits zitierten Rechnungshofbericht benötigen die Privaten trotz schlechterer Bohrbedingungen für 1000 Kubikmeter geförderten Gases zwei Dollar, Gasprom vier bis fünf Dollar.32 Außerdem schiebt Gasprom die teure Erschließung neuer Lagerfelder auf der Jamal-Halbinsel vor sich her.33
Gasprom aber managt Fernsehsender, Banken, Schreinereien, Jachthäfen, Geschirrfabriken, Fischereibetriebe und Hühnerfarmen. Schon spottet der Volksmund: „Gaspromneftmediabankneftkolchos“: Gasindustrieölmedienbankkolchose. Währenddessen beziehen die Haushalte in zehntausenden russischen Dörfern ihr Gas noch immer aus der Flasche. Und das Pipelinesystem rostet. Laut Milow sind die Rohrleitungen mit einem Durchschnittsalter von 33 Jahren schrottreif,34 der russische Rechnungshof hält 57 Prozent der Produktionsmittel für abgenutzt.35 Wirtschaftsminister German Gref, der letzte Liberale in Putins Regierung, urteilte schon 2004: „Diese gewaltige, ineffektive Maschine kann im jetzigen Zustand nicht lange weiterexistieren.“36
Ist Gasprom gefährlich? Ein Dinosaurier mit gigantischer Magenerweiterung, von Parasiten befallen, aber mit scheinbar endlosen Fettreserven. Als Rohstofflieferant noch immer sehr attraktiv. Aber mit den Risiken behaftet, die Korruption, Misswirtschaft und technischer Zerfall mit sich bringen: überteuerte Preise, im schlimmsten Fall Lieferausfälle. Schon aus diesen Gründen sollte man sich nicht zu sehr auf ein Staatsmonopol aus einer nicht mehr funktionierenden Planwirtschaft verlassen, das sich auch nicht in Richtung Marktwirtschaft bewegen will. Und das von einer Staatsführung kontrolliert wird, deren Möchtegern-Machiavellismus auch in Zukunft zu Eklats führen kann.
Vorsicht ist angebracht, Angst aber fehl am Platz. Moskaus Gaskrieg gegen die Ukrainer endete schmachvoll: Als Gasprom ihnen das Gas sperrte, bedienten sie sich – juristisch durchaus nicht unproblematisch – aus russischem Transitgas, das für Europa bestimmt war. Und der Westen stimmte nicht in die russischen Diebstahlvorwürfe gegen die Ukrainer ein, sondern erinnerte Moskau höflich an seine Lieferverpflichtungen. Gasprom drehte den Gashahn wieder auf. Denn auch im Kreml weiß man, dass die Abhängigkeit zwischen Lieferanten und Abnehmern durchaus gegenseitig ist. Zwar verhandelt Gasprom mit Amerikanern und Kanadiern über künftige Flüssiggaslieferungen, und seine Manager kokettieren gegenüber europäischen Partnern gerne mit dem Energiehunger Chinas und anderer asiatischer Volkswirtschaften. Tatsächlich existiert seit 2002 ein Projekt zur Förderung und zum Transport der ostsibirischen Gasfunde mit Option auf den Export nach China. Aber nur auf dem Papier. Laut Milow scheiterten alle Verhandlungen daran, dass sich die Chinesen weigerten, 75 Dollar für 1000 Kubikmeter zu zahlen, ein Drittel des in Europa üblichen Preises.37 Gasprom braucht den Großkunden Europa, wenn auch nicht in alle Ewigkeit. Das gilt allerdings angesichts der Endlichkeit der Rohstoffreserven auch umgekehrt.
Schon am 4. Januar einigte sich Gasprom mit der Ukraine. Laut Friedensvertrag verkauft Gasprom 2006 den Ukrainern tatsächlich Gas zu 230 Dollar für 1000 Kubikmeter. Die Ukrainer aber zahlen nur 95 Dollar. Kein Paradox, ein typischer Gasprom-Vertrag: Man schaltete einen Zwischenhändler ein, die Firma Rosukrenergo. Sie kauft Gasprom-Gas zu 230 Dollar, aber zusätzlich so viel – von Gasprom kontrolliertes – Billiggas aus Zentralasien, vor allem aus Turkmenistan, so dass sich als Endpreis für die Ukraine 95 Dollar ergeben. Laut Kommersant halbieren sich dadurch die Gasprom-Gewinne beim Weiterverkauf zentralasiatischen Gases. Um diese Schlappe zu bemänteln, brauchte Gasprom mal wieder einen Zwischenhändler: die zwei Jahre alte Offshorefirma Rosukrenergo, zu deren Gründern auch der vom FBI gesuchte Geschäftemacher Semjon Mogilewitsch gehört.38 Gasprom scheint sich auch diesmal gründlich selbst betrogen zu haben.
STEFAN SCHOLL, geb. 1962, lebt als freier Autor in Twer/Russland. Zuletzt erschien von ihm „Aus dem macht ihr keinen Menschen mehr“ (2004).
- 2Michail Leontjew, Interview, Radio Echo Moskwy, 30.12.2005.
- 3Wirtschaftsminister Michael Glos in seiner Rede auf dem Gasprom-Kolloquium Natural Gas: Secure Energy for Germany and Europe, Berlin, 13.12.2005.
- 4Angaben vom 1.1.2004, www.gazprom.ru.
- 5Gasprom Aktie – Ein Riese nach allen Maßstäben, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.1.2006.
- 6www.gazprom.ru.
- 7Igor Popow, Russkij Forbes, Januar 2006.
- 8Gasprom will deutsche Stadtwerke kaufen, Spiegel, 15.12.2005.
- 9Michail Tulskij, Versija, 13.6.2005.
- 10Maxim Sipjagin, Nowostej, 12.5.2005.
- 11Jewgenija Pismennaja, Russkij Newsweek, 1/2006.
- 12Wladimir Milow, Nowaja Gaseta, 26.12.2005.
- 13Jewgenija Pismennaja, Russkij Newsweek, 1/2006.
- 14Ebd.
- 15Rede vor der Jahreshauptversammlung der Gasprom-Aktionäre, Moskau, 24.6.2005, www.gasprom.ru.
- 16Wladimir Putin, RIA Nowosti, 27.11.2005.
- 17Laura Mandeville, Le Figaro, 26.12.2005, zitiert nach: Kreml ugroschaet perekryt gas Ukraine, www.inopressa.ru.
- 18Tschernomyrdin i Sinowja,Itogi, 30.1.2001.
- 19Alexander Wasiljew, Nowaja Gaseta, 19.4.2001.
- 20Alexander Wasiljew, Nowaja Gaseta, 22.1.2001.
- 21Kommersant, 21.4.2002.
- 22Galina Sidorowa, Sowerschenno Sekretno, Juni 2004.
- 23 Boris Wishnewskij, Moskowskije Nowosti, 24.09.2004, vgl. Gaseta, 19.2.2004.
- 24Jewgenija Pismennaja, Russkij Newsweek, 1/2006.
- 25Russkij Forbes, März 2005.
- 26 Alexander Budberg, Moskowskij Komsomolez, 4.4.2003.
- 27Igor Popow, Russkij Forbes, Januar 2006.
- 28Ebd.
- 29Jürgen Roth, Interview, Spiegel Online, 22.12.2005.
- 30Wladimir Milow: Russian Gas Sector developments and new European Projects, Präsentation, London, 20.09.2005.
- 31Wladimir Milow, Nowaja Gaseta, 26.12.2005.
- 32Maxim Sipjagin, Wremja Nowostej, 12.5.2005.
- 33Vladimir Milov: Status and challenges of the Russian Gas sector. The endless wait for reform, Präsentation, Moskau, 5.9.2005.
- 34Ebd.
- 35Maxim Sipjagin, Wremja Nowostej, 12.5.2001.
- 36German Gref, Auftritt vor dem Kollegium des Föderativen Zolldienstes Russlands, Rosbalt, 17.12.2004.
- 37Wladimir Milow, Interview, Echo Moskwy, 22.12.2005.
- 38Dmitrij Butrin: Koktejl Milera, Kommersant, 10.10.2005.
Internationale Politik 2, Februar 2006, S. 24 - 31
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