Die G-8 und die „Bottom Billion“
Die Ärmsten der Erde brauchen Anschluss an die Globalisierung
Es ist nicht die Globalisierung, sondern gerade die Abkoppelung von ihr, die der ärmsten Milliarde Menschen ein Leben in Elend beschert. Diese Kluft wird stetig tiefer. Sie ist mit Entwicklungshilfe allein nicht zu schließen. Gebraucht werden 1. eine aktive Handelspolitik, 2. internationale Standards und Regeln sowie 3. externe Sicherheitsgewährleistung.
Seit den sechziger Jahren ist eine Gruppe von Ländern mit einer Gesamtbevölkerung von rund einer Milliarde Menschen in zunehmendem Maße von der Entwicklung des Restes der Welt abgekoppelt worden. Wenn dieser Trend sich ungebremst fortsetzt, wird er mit Sicherheit bald eine unlösbare soziale Konfliktsituation produzieren, die den gesamten Globus in Mitleidenschaft ziehen wird. Die meisten dieser Länder sind Staaten in Afrika; deshalb ist es richtig und wichtig, dass diese Region auch wieder auf der Agenda des diesjährigen G-8-Gipfels steht. Auf dem Gipfel von Gleneagles im Jahr 2005, wo Afrika auf Drängen Tony Blairs ebenfalls thematisiert wurde, hat die G-8-Gruppe zum Thema Afrika noch mehr Theaterdonner erzeugt, als tatsächlich substanzielle Initiativen zu verabschieden: Entwicklungshilfe und Schuldenerlass mögen ja der Öffentlichkeit gefallen und sind als Instrumente sicherlich auch Teil der Lösung, doch sie sind völlig unzureichend, wenn es darum geht, die grundsätzlichen Probleme Afrikas zu lösen. Es gibt andere Instrumente, etwa jene, die vor 60 Jahren beim Wiederaufbau Europas eingesetzt wurden; diese müssen wir jetzt wieder benutzen. Afrika ist mit drei unterschiedlichen wirtschaftlichen Problemen konfrontiert, die mit jeweils verschiedenen politischen Mitteln gelöst werden können.
Das erste Problem ist, dass der Kontinent es nicht geschafft hat, eine arbeitsintensive Produktionsstruktur aufzubauen. Auch wenn viele Länder der Region – vor allem die Binnenstaaten, solche mit vielen Bodenschätzen oder ohne jeg-liche Ressourcen – kaum Aussicht darauf haben, sich auf dem globalen Markt durchsetzen zu können, sind doch Staaten wie Kenia, Ghana oder Senegal in vielerlei Hinsicht dafür geeignet, Industriewaren für den Export zu produzieren. Leider haben sie die Abfahrt des Globalisierungszugs verpasst: Asiatische Städte haben in der Zwischenzeit vernetzte exportorientierte „Fertigungszentren“ aufgebaut, die sich durch entscheidend niedrigere Produktionskosten auszeichnen. So werden beispielsweise heute 60 Prozent der Weltproduktion von Knöpfen in einer einzigen chinesischen Stadt hergestellt! Wie sollte da Afrika irgendwie hoffen, in den weltweiten Wettbewerb der Knopfproduktion einsteigen zu können? Dazu müssten die afrikanischen Küstenstädte finanziell so unterstützt werden, dass sie das von diesen -Produktionszentren geschaffene Niveau übertreffen können; dafür müsste ihnen aber in den OECD–Märkten eine vorübergehende Bevorzugung gegen-über Asien gewährt werden.
In gewisser Weise haben Europa und die Vereinigten Staaten dies durch die Vereinbarungen „Everything-But-Arms“ (EBA – Alles außer Waffen) und „Africa Growth and Opportunity Act“ (AGOA – Abkommen über das Wachstum und die Entwicklung Afrikas) schon geleistet; darin ist festgelegt, dass die EU und die USA zwar Zoll auf diese Produkte aus Asien verlangen, sie hingegen zollfrei importiert werden können, wenn sie aus Afrika kommen.
Aber gerade für den Handel gilt, dass der Teufel im Detail steckt. Und beide Abkommen sind fehlerhaft, das EBA sogar in einem solchen Maße, dass es de facto ineffektiv ist. Das AGOA hingegen hat, trotz all seiner Mängel, immerhin dazu geführt, dass der Textilexport aus Afrika in die Vereinigten Staaten sich in den letzten fünf Jahren verzehnfacht hat. Das heißt: Afrika benötigt einen alle Aspekte der OECD betreffenden Plan, der auch die einzelnen Details klar definiert. Dieser sollte alle Bereiche der OECD umfassen, somit klar definiert sein. Heute sind afrikanische Produzenten immer noch mit unterschiedlichen Bestimmungen für die verschiedenen Märkte konfrontiert. So entsprechen Hemden, die nach US-amerikanischen Bestimmungen in die USA importiert werden können, nicht den Bedingungen, die sie erfüllen müssten, damit sie auf dem europäischen Markt angeboten werden können. Eine Gesamt-OECD-Regelung würde auch noch andere wichtige Märkte – z.B. Japan – für die afrikanischen Produkte öffnen. Die Einzelheiten müssen in angemessener Sorgfalt auf der Grundlage der guten Aspekte von AGOA und EBA entwickelt werden. Wenn wir so vorgehen, könnte aus unserer Handelspolitik das Potenzial für die Entwicklung von Millionen Arbeitsplätzen in Afrika entstehen.
Afrika und die Welthandelspolitik stehen beide auf der G-8-Agenda. Aber wenn die G-8-Staaten es ernst damit meinen, dass sie Afrika helfen wollen, muss klar sein, dass – selbst wenn die Doha-Runde doch noch realisiert werden sollte – ein Bestehen auf Doha im Zusammenhang mit dem Welthandel noch keine Lösung der afrikanischen Probleme sein wird. Für die G-8-Staaten wäre es ein Leichtes, die Abkommen AGOA und EBA zusammenzufassen und in ein einheitliches und verbessertes System münden zu lassen. Da beide Abkommen schon bestehen und anerkannt sind, kann eine solche Zusammenfassung auch keine Konflikte mit den herrschenden WTO-Prinzipien hervorrufen. Im Gegenteil ist eine solche Vereinfachung und Harmonisierung der Meistbegünstigungsregelung sicherlich gut vereinbar mit dem Geist der Liberalisierung des Welthandels.
Der zweite Problemkreis betrifft die Tatsache, dass fast alle Länder Afrikas, die über große Vorkommen an Bodenschätzen verfügen, es nicht geschafft haben, aus diesem Vorteil eine Quelle kontinuierlichen Wachstums zu machen. In einer neueren Untersuchung über die Frage, wie sich ein hohes Preisniveau auf dem Rohstoffmarkt auf die Binnenwirtschaft der Exporteure auswirkt, wurde festgestellt, dass die Auswirkungen nach einem langjährigen Boom sogar katastrophal sind, solange es keine positive Regierungspolitik gibt. Angesichts der aktuell hohen Rohstoffpreise und der Entdeckung neuer Rohstoffvorkommen bieten sich Afrika enorme Entwicklungsmöglichkeiten, angesichts derer es eine Tragödie wäre, wenn die Geschichte sich wiederholen würde. Doch die Geschichte wird sich wiederholen, wenn es nicht gelingt, die Anreize, gegen das Bestehende zu agieren, durch institutionelle Reformen zu verändern. Da diese Entwicklungsmöglichkeiten unausweichlich in der Regierungsverantwortung enden, liegt der Schlüssel zur Lösung in einer verbesserten Offenlegung der öffentlichen Ausgaben. Demokratie allein reicht nicht aus; gerade erst haben schließlich die Wahlen in Nigeria gezeigt, welches Maß an Manipulation möglich ist. Rechungsoffenlegung hängt von einem gewissen Grad der effektiven Buchführung und Bilanzierung ab, der aber zurzeit ebenfalls nicht vorhanden ist, da niemand Interesse daran hat. Gefordert ist also eine Politik neuer internationaler Maßstäbe und Verhaltensregeln. Die Extractive Industries Transparency Initiative (EITI – Initiative zur Verbesserung der Transparenz in der Rohstoffindustrie) ist ein erster, wenn auch zaghafter Anfang. Noch immer sind unter dem Vorwand der Wahrung des Bankgeheimnisses die internationalen Banken ein sicherer Hort für aus Korruption generiertes afrikanisches Geld. Zwar sind die internationalen Geldinstitute per Gesetz gezwungen, die Quellen offenzulegen, wenn der Transfer mit terroristischen Aktivitäten verbunden ist – geht es aber lediglich um Gelder, die aus den ärmsten Ländern der Welt gestohlen wurden, können sich die Banken wieder auf ihre Geheimhaltung berufen.
Es gibt auch keine international anerkannten Regeln für den angemessenen Umgang mit Extra-Gewinnen aus der Rohstoffproduktion. So musste Ngozi Okonjo Iweala bei ihrem Amtsantritt als nigerianische Finanzministerin zunächst eigene Sparregeln entwickeln. Es gibt z.B. keine feststehenden Regeln dafür, wie Konzessionen für die Ausbeutung von Rohstoffressourcen erworben werden können bzw. dürfen. Ebenso wie inzwischen allen Unternehmen aus dem OECD-Bereich Bestechung verboten ist, sollten sie auch verpflichtet sein, den Zuschlag für Verträge auf dem Gebiet der Rohstoffproduktion nur auf öffentlichen, kontrollierten Auktionen zu gewinnen und nicht durch Geheimgeschäfte. Es gibt keine allgemeingültigen Richtlinien für den Umgang der öffentlichen Hand mit den Einnahmen aus der Rohstoffproduktion. Der Mindeststandard sollten klare Regeln für die Ausschreibung öffentlicher Investitionen sein. Als Nigeria solche Regeln vor kurzer Zeit eingeführt hat, fielen die Preise sofort um 40 Prozent. Sicherlich ist die Frage, wie garantiert werden kann, dass die Einkünfte aus der Rohstoffproduktion buchhalterisch korrekt für die Entwicklung des Landes eingesetzt werden, zunächst ein innerafrikanisches Problem, aber die Vorgabe internationaler Standards kann hilfreich sein – als gemeinsamer Nenner und Vorlage für interne Reformziele. Die nigerianischen Reformer haben die tatsächlich nur sehr begrenzten Vorgaben des EITI sehr gerne als Grundlage für ihr Programm der Wende übernommen.
Diese ganze Problematik steht vollkommen zu Recht wieder auf der Agenda des G-8-Treffens. Doch die Frage ist, ob es wie bisher wieder nur bei sanftmütigen Ermahnungen zu gutem Verhalten bleiben wird, oder ob die Regierungschefs es diesmal ernst meinen und die internationalen Institutionen dazu -verpflichten, einen auf die Probleme der rohstoffexportierenden Länder bezogenen umfassenden Regelkatalog zu erarbeiten.
Der dritte Problemkreis umfasst das permanente Risiko von Revolten und Staatsstreichen, die extreme innerstaatliche Unsicherheit vieler afrikanischer Staaten. Dies ist die Folge jahrzehntelanger Misswirtschaft, liegt teilweise aber auch daran, dass die typischen Länder einfach zu klein sind, um relevante wirtschaftliche Ressourcen aufzubauen. Afrika braucht eine stärkere internationale Sicherheitsgewährleistung; das bedeutet langfristige Peacekeeping-Mandate für Post-Konflikt-Situationen ebenso wie grenzüberschreitende Sicherheitsgarantien. Beides muss eindeutigen Governance-Standards unterliegen, die von der Afrikanischen Union (AU) festgelegt werden sollten. Vorbild dafür sollte die externe Sicherheitskontrolle sein, die in Sierra Leone geleistet wurde – die effektivste Hilfe, die Europa jemals in Afrika zustande gebracht hat.
Es liegt auf der Hand, dass dieses Afrika-Problem auf dem G-8-Gipfel zuallerletzt eine Rolle spielen wird. Wahrscheinlich wird man sich zu einer Erklärung zu Darfur aufraffen, nur um sich um eine Auseinandersetzung mit oder die Bereitstellung von Sicherheitsgarantien in den sehr instabilen Post-Kon-flikt-Regionen Afrikas herumdrücken zu können. Und während wir zwischen Angst und Kriegsbereitschaft hin und her schwanken, machen wir weiter einen Fehler nach dem anderen: Somalia 1993, Ruanda 1994 und Irak im Jahr 2003. Ist es wirklich so schwer, den Unterschied zwischen Irak und Sierra Leone zu erklären?
Zollfreiheit, moralische Spielregeln und Sicherheitsbedingungen lassen sich auf den Straßen Europas wahrscheinlich nicht so gut verkaufen wie eine hundertprozentige Erhöhung des Entwicklungshilfeetats, für die so äußerst werbewirksam von Popstars auf Live-8-Konzerten gekämpft wird – aber in den Straßen Afrikas werden sie sehr viel mehr bewirken. Nur zur Klarstellung: Diese Maßnahmen sind keine Alternative zur Entwicklungshilfe, aber sie werden dazu dienen, diese sehr viel effektiver zu machen. Bevor Sie das als Phantasmen abtun, erinnern Sie sich daran, wie Europa wieder aufgebaut worden ist! Inhärente Bestandteile des Marshall-Plans waren eine klar definierte Handelspolitik (GATT), Standards und Regeln (OECD und EWG) und Sicherheit durch die NATO. In meinem neuen Buch „The Bottom Billion: why the poorest countries are failing and what can be done about it“, das während des G-8-Gipfels erscheinen wird, beschreibe ich, wie die Führer der G-8-Nationen endlich über das Niveau der Proklamationen hinausgehen und wirklich etwas bewirken können. Ich hoffe, sie werden das Buch lesen.
Prof. Dr. PAUL COLLIER, geb. 1949, lehrt Volkswirtschaft und ist Direktor des Centre of the Study of African Economies an der Universität Oxford.
Internationale Politik 6, Juni 2007, S. 78 - 83.