Die digitale Evolution
Wie junge Kubaner das Informationsmonopol des Regimes unterlaufen
Die Gesten im hauptstädtischen Parque Central und auf der Uferpromenade des Malecón sind eindeutig: Kopfschütteln, Stirnrunzeln und unwirsche Handbewegungen, als verscheuche man eine Fliege. Die Ablehnung ist habituell, bleibt jedoch aus Sicherheitsgründen wortlos.
Kein einziges Spottwort also trifft die bejahrten Verkäufer von Kubas Parteizeitung Granma, die das achtseitige Propagandablatt anbieten. Zwanzig Centavos würde das auf graugrieseligem Papier gedruckte Verlautbarungsorgan kosten, das ist umgerechnet nicht einmal ein Cent. Doch zeigen die jungen Kubaner, beschäftigt mit ihren Handys und Smartphones, geradezu ostentativ Missbilligung und Desinteresse. Die ohnehin konfliktbeladene Beziehung zwischen analogen und digitalen Medien erhält in der hiesigen Parteidiktatur eine zusätzliche Dimension.
Inzwischen nämlich sind die Warteschlangen vor den Büros der staatlichen Telekommunikationsbehörde ETECSA genauso lang wie die vor der spanischen Botschaft, wo man Visa beantragen kann. Reale oder virtuelle Abkehr von Kubas Gegenwart, während in beiden Fällen das Regime die finanziellen (Un-)Möglichkeiten als Hebel einsetzt.
Denn wer könnte sich bei einem durchschnittlichen Monatsverdienst von umgerechnet 25 Euro so etwas Kostspieliges wie Auslandsflüge oder Smartphones leisten? Lediglich jene, deren Freunde oder Verwandte bereits außerhalb Kubas leben. Schätzungen gehen von zwei Millionen Exil- oder Auslandskubanern aus.
„Was aber geschieht mit jenen Hiesigen“, fragt der kubanische Romancier Leonardo Padura, „die weder über Auslandsbeziehungen noch über nützliche Kontakte zu Funktionären verfügen? Sie sind die Abgehängten.“ So gesehen, sind die Wartenden vor den ETECSA-Schaltern beinahe eine privilegierte Minderheit. Ebenso wie Touristen müssen jedoch auch sie für SIM-Karten und dergleichen ihren Ausweis kopieren lassen und sich teuren, zeitraubenden bürokratischen Prozeduren unterziehen, ehe sie online sein dürfen. Das wiederum nur an staatlich eingerichteten Wifi-Spots, die leicht kontrollierbar sind.
Über die Hintergründe und Chancen der digitalen Evolution spricht man deshalb nicht hier an den zugewiesenen Plätzen, an denen man lediglich verächtlich in Richtung der Granma-Verkäufer blickt. Im Schutz von Großraumdiscos und Clubs, in denen weniger leicht mitgehört werden kann, teilt man jene Informationen, die sich weder in der Parteizeitung noch im Staatsfernsehen finden.
„Vielleicht wird man später mal sagen“, heißt es da, „dass es mit dem schrecklichen Tornado begann, Anfang 2019. Der Wirbelsturm war apokalyptisch, forderte Todesopfer und Verletzte, Häuser wurden wie Streichholzschachteln zerdrückt. Noch ehe jedoch der schwerfällige Staatsapparat reagierte, hatten sich hier in Havanna bereits ad hoc Facebook-Gruppen gegründet, die Neuigkeiten über die Lage im Landesinneren austauschten und Fahrgemeinschaften organisierten.“ In klapprigen Shigulis und Moskwitschs aus sowjetischer Autoproduktion oder in ratternden Dodges aus vorrevolutionärer Zeit hatte man sich auf den Weg gemacht – mit Lebensmitteln, Medizin und Baumaterialien. Mit dabei auch viele Besitzer der „Paladares“ genannten Privatrestaurants. Genug Gründe fürs Regime, solch effizienter Hilfsbereitschaft zu misstrauen.
„Irgendwann“, erzählen die jungen Kubaner, „setzte dann im Fernsehen und Radio wieder das erwartbare Propaganda-Getrommel ein: ‚Das vereinte kubanische Volk im heldenhaften Kampf gegen Naturunbilden.‘ Natürlich kein Sterbenswort über die Existenz der Facebook-Gruppen.“ Stolz wird dem auswärtigen Besucher gezeigt, für was man sich sonst noch zusammenschließt: Geschlechtergleichheit, Umwelt- und Tierrechte – all das jedoch mit geradezu affirmativem Bezug auf Kubas neue Verfassung.
Keine vordergründig „dissidentischen“ Inhalte sind das, weshalb die Staats- und Parteimaschinerie im Frühjahr schließlich auch einer allerersten nichtoffiziellen Demonstration die Genehmigung erteilte. Kaum bemerkt von ausländischen Medien, deren Radar vermutlich noch nicht präzise genug ist, waren danach im Stadtteil Vedado Menschen auf die Straße gegangen – für die verfassungsgemäßen Rechte ihrer Vierbeiner.
Das Lächeln, mit dem das erzählt wird, hat allerdings so gar nichts Triumphierendes. Verschmitzt ist es, ein wenig ängstlich auch. Aber da erzählen bereits andere von Facebook-Freunden, die öffentlich gepostet hatten, beim Februar-Referendum für jene neue Verfassung mit Nein gestimmt zu haben – wie offiziell 13 Prozent ihrer Landsleute. („Wenn die da oben bereits 13 Prozent nennen müssen, kannst du Gift darauf nehmen, dass es mindestens doppelt so viele waren.“) Denn obwohl nun erstmals das Recht auf Privatbesitz anerkannt ist, bleibt auch in der neuen Konstitution die Alleinherrschaft der Kommunistischen Partei festgeschrieben.
Wer den Wettlauf zwischen dem Regime und einer sich (vorerst ostentativ „apolitisch“) entwickelnden Zivilgesellschaft gewinnt, ist allerdings keineswegs gewiss.
Marko Martin lebt, sofern nicht auf Reisen, als Schriftsteller in Berlin. Im Juli erscheint sein Essayband „Dissidentisches Denken“ (Die Andere Bibliothek).
Internationale Politik 4, Juli/ August 2019, S. 132-133