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31. Aug. 2018

Die chinesische Herausforderung

Im Umgang mit Peking tun die Europäer gut daran, ihre Werte zu verteidigen

Aus europäischer Sicht ist China sowohl Partner als auch Wettbewerber und Gegenspieler, der den Westen als Systemkonkurrent fundamental herausfordert. Gegenüber der bald größten Volkswirtschaft der Welt ist deshalb eine Politik des kritischen Engagements gefragt, die auch schwierige Themen nicht ausklammert und auf Risiken hinweist.

Dem „amerikanischen Niedergang“, der längst nicht erst seit der Wahl Donald Trumps diskutiert wird, steht der vor vier Jahrzehnten begonnene Aufstieg Chinas gegenüber. Doch welche Konsequenzen ergeben sich aus dem (vermeintlichen) Abstieg der USA und dem scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg Chinas für uns Deutsche und Europäer?

Eines scheint klar zu sein: Das chinesische Modell hat wenig zu tun mit dem jahrzehntelang praktizierten amerikanischen Modell einer liberalen Ordnungsmacht. Dennoch scheint es derzeit sehr erfolgreich, und dies hat unmittelbare Auswirkungen auf den Westen und uns Europäer. Wenn wir künftig nicht nur Zaungäste dieser atemberaubenden Entwicklung sein wollen, wird es höchste Zeit, China nicht nur als ökonomischen Mitbewerber oder potenziellen politischen Partner (oder Gegner) zu betrachten, sondern die Totalität der chinesischen Herausforderung zu erfassen. Denn China fordert den Westen und die von ihm getragene liberaldemokratische Ordnung allumfassend heraus.

Während wir gebannt auf das Treiben Russlands und den islamistischen Terrorismus starren, gerät allzu leicht aus dem Blick, dass allein China das Potenzial hat, die Welt in allen Lebensbereichen zu prägen. Ökonomisch liegt dies auf der Hand: Das chinesische BIP wird in den nächsten zehn bis 15 Jahren das amerikanische überholen, China nicht nur nach Kaufkraftparität, sondern auch in absoluten Zahlen zur stärksten Wirtschaftsmacht der Welt aufrücken. Und diese wirtschaftliche Stärke wird konsequent ausgebaut.

Mit der Belt and Road Initiative (BRI) schafft China die Voraussetzungen dafür, seinen Güterüberschuss in die bevölkerungsreichen Nachbarregionen zu leiten, den Zugriff auf Rohstoffe und landwirtschaftliche Flächen zu erleichtern und wichtige Handelspartner in Europa schneller zu erreichen. Gleichzeitig erhöht die chinesische Wirtschaft ihr Innovationstempo. Mit dem 2015 beschlossenen Plan „Made in China 2025“ will die chinesische Regierung in zehn Schlüsselindustrien die Produktionsqualität erhöhen und die Digitalisierung der Fertigung vorantreiben. Bis 2049 soll China dann die führende Industrienation der Welt sein.

In der Internetökonomie und in der Entwicklung von digitalen Dienstleistungen spielen Konzerne wie Alibaba, Wechat und Tencent schon heute ganz vorne mit. Diese Beispiele zeigen zugleich, dass es chinesischen Unternehmen gelingt, globale Marken aufzubauen, die ähnliche Strahlkraft entfalten können wie die geläufigen Brands aus den USA und der EU – nur mit dem Unterschied, dass es nicht um Schokoriegel, SUVs oder zuckerhaltige Getränke geht. Vielmehr besetzt China wichtige Zukunftsfelder.

Chinesische Firmen investieren massiv auf allen Kontinenten. Das gilt nicht nur für Afrika, sondern, weniger beachtet, auch für Lateinamerika. Nur die USA – und im weitaus bescheideneren Umfang der schwäbische Mittelstand – haben einen ähnlich umfassenden „global footprint“.

Militärisch baut China systematisch seine Fähigkeiten zu Lande, zu Wasser und in der Luft (einschließlich des Weltraums) aus. Mit Prestigeprojekten wie dem ersten im Land gebauten Flugzeugträger oder einer ersten Militärbasis in Übersee (Dschibuti) will China deutlich die Fortentwicklung von einer landbasierten Armee hin zu einer maritimen Großmacht demonstrieren, die auch fernab der eigenen Grenzen unabhängig agieren kann. Auch technologisch rüstet China auf: Ein Tarnkappenbomber wird entwickelt, Drohnen und Cyberwarfare gehören selbstverständlich zum Arsenal. Bis 2050 soll die Volksbefreiungsarmee zu einer „Armee mit Weltrang“ werden.

Kulturell verfügt China über erhebliche Soft Power und baut sie gezielt aus. Eine Jahrtausende umspannende Kultur, die für alle Lebensbereiche eigenständige Traditionen entwickelt und stets in die Nachbarschaft ausgestrahlt hat, und eine rund um die Welt präsente Diaspora sind die Basis für eine rege Kulturdiplomatie. Weltweit sind über 500 Konfuzius-Institute in Betrieb; und immer mehr Menschen lernen Chinesisch. Die chinesische Filmindustrie hat sich aufgemacht, den internationalen Markt zu erobern, wenn auch mit bislang mäßigem Erfolg. Schließlich gibt es erste Anzeichen für globale Bestsellerautoren aus dem Reich der Mitte wie Cixin Liu, die die Nachfolge von John Grisham oder Stephen King ­anstreben.

International wird China immer präsenter. Getrieben von wirtschaftlichem Erfolg, beschleunigt vom Rückzug des strategischen Rivalen USA aus Asien, hat sich das außenpolitische Selbstbewusstsein Chinas in den vergangenen Jahren immer stärker entwickelt. Spätestens in seiner zweiten Amtszeit hat Präsident Xi Jinping China als globale Macht positioniert und bietet ein facettenreiches Bild.

So engagiert sich China stärker für die bestehende multilaterale Ordnung und bringt sich in deren Institutionen ein. Xi machte sich zum Fürsprecher des Freihandels, immer mehr Chinesen nehmen Spitzenfunktionen in internationalen Organisationen wie der Weltbank ein, ­Chinas Streitkräfte ­beteiligen sich immer mehr an UN-Missionen. Auch zeigt sich das Land offen für internationale Zusammenarbeit bei Themen wie dem globalen Klimaschutz. Parallel dazu baut China eigene multilaterale Institutionen auf: schwerpunktmäßig auf dem eigenen Kontinent (Asian Infrastructure Investment Bank, Shanghai Cooperation Organization), aber auch darüber hinaus (New Development Bank der BRICS-Staaten).

Unterhalb der Schwelle der Gründung von internationalen Organisationen verstetigt und verbreitert sich das internationale Engagement ­Chinas: bilaterale Treffen Chinas mit Staatengruppen (16+1 in Europa, Afrika-Gipfel, Lateinamerika-Gipfel) und natürlich die Belt and Road Initiative, die neben ökonomischen auch handfeste strategische Interessen verfolgt – ist doch Infrastruktur immer auch militärisch nutzbar.

Diese auf der wirtschaftlichen Dominanz Chinas beruhenden Formate sind auch ein Indikator dafür, dass Peking Beziehungen zu anderen Ländern hierarchisch sieht. Dabei können Abhängigkeiten entstehen nach dem Muster: erst günstige Kredite für Infrastrukturinvestitionen, dann chinesischer Zugriff infolge Unrentabilität bzw. Überschuldung.

Dem allgemeinen Bekenntnis zur multilateralen, regelbasierten Weltordnung stehen eine selektive und interessengeleitete Akzeptanz internationaler Normen und das Beharren auf Ausnahmen aufgrund der besonderen Stellung des eigenen Landes in der Welt gegenüber. Insbesondere in seiner eigenen Nachbarschaft versucht die Volksrepublik, einseitig Interessen durchzusetzen (so im Südchinesischen Meer). Und ähnlich wie die USA nimmt China für sich in Anspruch, an bestimmten internationalen Vereinbarungen nicht teilzuhaben (Internationaler Strafgerichtshof, Landminenkonvention u.a.). So zeichnet sich ein „chinesischer Exzeptionalismus“ in den internationalen Beziehungen ab.

Schließlich verstärkt die chinesische Diplomatie ihre Anstrengungen, die internationale Ordnung und konkret das Völkerrecht mit eigenen Begriffen zu prägen. Vorstellungen von einer „harmonischen Welt“ oder die Lehre von den „Fünf Grundsätzen friedlicher Koexistenz“ haben es auf die Tagesordnung internationaler Verhandlungen geschafft. Und mit dem Konzept der „Cyber-Souveränität“ will China den Vorrang staatlicher Kontrolle im neu entstehenden internationalen Recht des Internets verankern. Damit geht die Volksrepublik von der ursprünglich defensiv angelegten Ablehnung der Universalität von Menschenrechten über in die offensive (Mit-)Gestaltung des internationalen Rechts.

Aus chinesischer Perspektive stellt sich die aktuelle Lage wie folgt dar: Während die Welt offenbar im Chaos versinkt, ist China dabei, wieder jene Weltstellung zurückzugewinnen, die es über Jahrhunderte einnahm.

Neue Systemkonkurrenz

Wenig beachtet wird, dass die Volksrepublik China den liberaldemokratisch verfassten Westen auch politisch-gesellschaftlich herausfordert. Seit dem Ende der Systemkonkurrenz mit dem Ostblock sieht sich der Westen zum ersten Mal mit einer alternativen Ordnungsform konfrontiert, die sich umfassend – politisch, gesellschaftlich und ökonomisch – abhebt und dabei innenpolitische Stabilität und gesellschaftliche Entwicklung dauerhaft zu garantieren scheint.

Die Kommunistische Partei ­Chinas formuliert eindeutig ihren Anspruch, eine ideologisch fundierte Systemalternative zu bieten. Das übergeordnete Narrativ des 19. Parteitags im Herbst 2017 lautete: Nach 40 Jahren unter dem Motto „Reform und Öffnung“ erfolge nun der Eintritt in die „Neue Ära des Sozialismus chinesischer Prägung“. Untergliedert werden die kommenden 30 Jahre in konkrete Entwicklungsschritte vom „Aufbau eines bescheidenen Wohlstands“ bis 2021 über die „Entwickelte sozialistische Gesellschaft“ bis 2049 hin zum Erreichen eines „großen, modernen, sozialistischen Landes, das reich, stark, demokratisch, kultiviert, harmonisch und schön“ sein soll. Gleichzeitig wurde die Stellung von Präsident Xi Jinping gestärkt. Dies zeigt sich darin, dass die so genannten „Xi-Gedanken“ in die Parteisatzung und die Verfassung eingeflossen sind. Dass die Amtszeitbegrenzung für den Staatspräsidenten aufgehoben wurde, erscheint vor diesem Hintergrund konsequent.

Kurz: Die innere Ordnung ­Chinas ist dauerhaft gefestigt. Offensichtlich ist der immer wieder beschworene Zusammenhang von marktwirtschaftlicher Entwicklung und politischer Freiheit/Demokratie im Falle Chinas aufgehoben – mit mindestens zwei praktischen Auswirkungen. Erstens: Trotz zahlreicher Dialogformate auch zu Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit spielen diese Themen bei offiziellen Begegnungen mit westlichen Regierungen eine eher untergeordnete Rolle und beschränken sich auf die Behandlung von Einzelfällen politischer Gefangener. Zweitens: In Asien und Afrika beziehen sich autoritäre Regimes vermehrt auf das chinesische Entwicklungsmodell. Auch hier lohnt sich ein differenzierter Blick.

Politisch ist die Volksrepublik eine Ein-Parteien-Diktatur. ­Gleichzeitig hat sie es vermocht, in ihr Herrschaftssystem Elemente von „checks and balances“ mit Elitenrotation, Amtszeitbegrenzung, leistungsorientierter Auswahl und Rekrutierung einzubauen und eine Art kompetitiver Bürokratie zu erschaffen, die in beschränktem Maß Transparenz, Regelgebundenheit und Rechenschaftspflicht ermöglicht. Die sonst zu erwartende Verknöcherung des Systems wurde bislang vermieden.

Wirtschaftlich ist die Volksrepublik nur eingeschränkt als Marktwirtschaft einzuordnen. Gleichzeitig hat sie es vermocht, eine Mischung aus dezentraler Flexibilität und staatlicher Steuerung zu etablieren. So wurde der Kardinalfehler der klassischen zentralen Planwirtschaft, nämlich die Überforderung des Staates als Detailplaner von Angebot und Nachfrage, nicht begangen. Das Primat des Staates wird vom Privatsektor und auch in der Internetwirtschaft nicht infrage gestellt. Vielmehr hat der chinesische Staat vollen Zugriff auf die von Alibaba und anderen verarbeiteten Daten. Mit den neuen Möglichkeiten der Datenverarbeitung könnte der Staat in seiner allwissenden und wirtschaftslenkenden Rolle sogar gestärkt werden. Zugespitzt gesagt, könnte in China der Staat das tun, was in der westlichen Marktwirtschaft Google, Facebook und Co. machen. Dystopisch gewendet hätte die Welt dann die Wahl zwischen einer etatistisch-­totalitären und einer privat-totalitären Wirtschaftsordnung.

Gesellschaftlich ist China das Land in der Welt, das die Möglichkeiten der technologischen Entwicklung zur staatlichen Kontrolle sozialer Beziehungen am meisten nutzt. Mit dem „Social Scoring“ wird das individuelle Verhalten im wirtschaftlichen, sozialen, aber auch privaten Leben umfangreich erfasst und bewertet und der persönliche Handlungsspielraum entsprechend verringert oder erweitert. George Orwell lässt grüßen!

Spätestens hier dürfte klar werden, dass das chinesische System staatlich gelenkter Wirtschaft und Gesellschaft liberaldemokratische Ordnungsvorstellungen fundamental herausfordert.

Selbstbewusst für eigene Werte

Die Schlussfolgerung sollte sein, diese Systemherausforderung anzunehmen, ohne in die militärisch imprägnierten Denkkategorien des Kalten Krieges zurückzufallen.

Selbstbewusst für die eigenen Werte eintreten: Da es im Kern um eine Auseinandersetzung um Werte und Ordnungsvorstellungen geht, ist der wichtigste Ansatzpunkt das offensive Eintreten für die eigenen Werte und die Festigung der liberaldemokratischen Ordnung nach innen und nach außen. Für Deutschland und die EU bedeutet dies, gleiche Rechte und Chancen für alle Bürger auch tatsächlich umzusetzen. Denn nichts ist erfolgreicher als ein gutes Vorbild. Mehr noch als über Bündnisse und länderübergreifende Kooperation wird diese Auseinandersetzung in der eigenen Gesellschaft entschieden.

Geschlossenheit ist unsere Stärke: Es gilt, den Zusammenhalt des Westens unabhängig vom Gezwitscher des amtierenden US-Präsidenten zu bewahren. Neben der Aufrechterhaltung enger Beziehungen zu den USA wird die EU eigenständiger agieren müssen – auch in Richtung nichtatlantischer Verbündeter und gleichgesinnter Länder wie Indien, Australien, Japan und Südkorea. Die Festigung der multilateralen, regelbasierten internationalen Ordnung wird weniger von den USA und stärker von der EU und einer Koalition aus Anhängern dieser Ordnung abhängen.

Mit China kooperieren, wo möglich: Trotz aller Differenzen darf nicht übersehen werden, dass Europa und China sehr voneinander profitieren, manche politischen Vorhaben teilen und gelegentlich ähnliche Ziele anstreben und über eine ganze Reihe gemeinsamer Interessen verfügen, die weit über die engen Handelsbeziehungen hinausgehen. Dazu gehört das Festhalten am Pariser Klimavertrag und am Atomabkommen mit Teheran.

Beim 20. EU-China-Gipfel im Juli 2018 machten beide Seiten selbst in festgefahrenen Handelsfragen wieder Fortschritte. Erstmals seit drei Jahren gab es eine gemeinsame Erklärung am Ende des Gipfels, die die strategische Partnerschaft bekräftigte.

Wie Deutschland und die EU hat auch China großes Interesse an der Wahrung globaler Stabilität. Europa und China wollen beide Chaos in den internationalen Beziehungen verhindern. Die gleichberechtigte Einbindung Chinas in die globale Ordnung sollten Deutschland und die EU deshalb nach Kräften befördern.

China entschieden entgegentreten, wo nötig: Es bleibt offen, inwiefern China global zu jener unilateralen oder gar hegemonialen Machtpolitik übergeht, wie sie sich in Asien abzeichnet. Dort verfolgt Peking unterschiedliche Ziele, die miteinander immer wieder in Konflikt geraten. Zum einen die Demonstration von Stärke, zum anderen gutnachbarschaftliche Beziehungen. Eine klare Linie ist bislang nicht erkennbar, die langfristig Souveränitäts-, Territorial- und Nachbarschaftsinteressen kohärent verbindet. Der ungelöste Zielkonflikt führt von Fall zu Fall zu Taktikwechseln. Das erschwert den Aufbau von strategischem Vertrauen als Grundlage von friedlicher Konfliktlösung.

Auch muss offen bleiben, ob China die EU als Machtfaktor in der Weltpolitik akzeptiert. Daher muss sich die EU bei allen notwendigen freundschaftlichen und kooperativen Beziehungen zu Peking zunächst an ihren eigenen Interessen orientieren. Diese sind die Verteidigung der demokratischen Werte und die Fortschreibung der pluralistischen, marktwirtschaftlich orientierten und regelbasierten internationalen Ordnung.

China ist Partner, Wettbewerber und Gegenspieler zugleich. Das erfordert eine Politik des kritischen Engagements, die auch schwierige Themen nicht ausklammert und auf die Risiken der chinesischen Politik hinweist, sowie das Bewusstsein um die fundamentale Dimension der chinesischen Herausforderung.

Dr. Nils Schmid, MdB ist Außen-politischer Sprecher der SPD-Bundestags­fraktion.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September-Oktober, 2018, S. 84 - 89

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