Krieg und Frieden
Gerhard Schröders Kanzlerschaft prägt bis heute unsere Außenpolitik – und das ist auch gut so.
Geht es in der SPD um die großen Fragen der internationalen Politik, dann dauert es meist nicht lange, bis an Willy Brandt oder Helmut Schmidt erinnert wird. Beide Namen stehen für eine sozialdemokratische Ära in der deutschen Außenpolitik. Und zu Recht ist das weltweite Wirken der zwei SPD-Kanzler noch heute ein wichtiger Bezugspunkt: Sie fanden richtige Antworten auf große außenpolitische Herausforderungen ihrer Zeit. Die sozialdemokratische Entspannungspolitik gilt deshalb bis heute als beispielhaft. Weit weniger präsent ist hingegen die Zeit von 1998 bis 2005, obwohl die Schröder-Jahre bis heute unser auswärtiges Regierungshandeln prägen und der außenpolitische Kompass von Rot-Grün uns auch noch im Jahr 2019 als verlässliche Orientierungshilfe dienen kann.
Kaum im Amt, stand für die rot-grüne Regierung bereits die erste Bewährungsprobe an: die Entscheidung über eine deutsche Beteiligung an der NATO-Mission in Jugoslawien. Hier bewies das Duo Schröder/Fischer Entscheidungsstärke und Überzeugungskraft. Trotz einer heftigen innerparteilichen und gesellschaftlichen Debatte unterstützte die Regierung den auch aus heutiger Sicht noch immer notwendigen Einsatz, um eine humanitäre Katastrophe in unserer direkten Nachbarschaft zu verhindern. Hier – wie auch später mit ihrem „Ja“ zum Einsatz in Afghanistan infolge der Terroranschläge vom 11. September 2001 – bewies die Regierung, dass Deutschland ein NATO-Partner ist, auf den man zählen kann.
Damals wie heute gilt: Für unsere Verbündeten ist Deutschland ein verlässlicher Partner. Daran sollten sich auch all jene erinnern, die Bündnistreue nur auf das 2-Prozent-Ziel der NATO reduzieren. Aufgrund der veränderten Sicherheitslage in Europa – vor allem durch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland und den Krieg im Osten der Ukraine – war es richtig, dass wir die Trendwende eingeleitet haben und wieder mehr in unsere Verteidigung investieren. Wer Solidarität allerdings nur in Euro bemisst, der verkennt unser weitreichendes Engagement: So ist Deutschland nicht nur zweitgrößter Truppensteller in der NATO, sondern auch ein Partner, auf den man sich langfristig verlassen kann, wie wir heute noch immer im Kosovo und in Afghanistan unter Beweis stellen.
Nach fast zwei Jahrzehnten militärischer Stabilisierung im Kosovo und in Afghanistan sind zwar unzweifelhaft Fortschritte beim Aufbau staatlicher Institutionen zu verzeichnen. Doch steht in beiden Fällen der Exit aus dem Bundeswehreinsatz aus. Zuverlässigkeit bei der Truppenbereitstellung auch über Regierungswechsel hinweg zeichnet die deutsche Politik im Gegensatz zu anderen NATO-Staaten aus. Jedoch zeigt sich gerade in Afghanistan, dass das militärische Zurückdrängen des Gegners stets nur vorübergehend Wirkung entfalten kann, wenn nicht gleichzeitig zivile staatliche Strukturen in den eroberten Gebieten aufgebaut werden und eine politische Konfliktlösung erreicht wird. Wenn der Staat nicht ein Mindestmaß an Sicherheit, Verwaltungspräsenz, sozialen Dienstleistungen und Bildung anbietet und dies mit Maßnahmen zur politischen Teilhabe marginalisierter Bevölkerungsgruppen verknüpft, haben terroristische Gruppen ein leichtes Spiel; militärische Unterstützung von außen hilft nur begrenzt.
Von Anfang an hat die Schröder-Regierung daher auf eine politische Begleitung der Afghanistan-Mission gesetzt, die schon Ende November 2001 in den sogenannten Petersberg-Prozess mündete. An diese Tradition knüpft das Auswärtige Amt unter Heiko Maas an, indem es den innerafghanischen Dialog zwischen den Taliban und der Regierung fördert, wie es zuletzt bei der Konferenz im Juli 2019 in Doha geschah.
Die Notwendigkeit, Konflikte nicht nur militärisch einzudämmen, sondern auch einer nachhaltigen politischen Lösung näherzubringen, ist deshalb besonders zu betonen, weil Deutschland aktuell an der Seite Frankreichs in Mali in ähnlicher Mission unterwegs ist und in Zukunft vergleichbare Einsätze nicht auszuschließen sind.
„Nein“ zu Abenteurertum
„Ja“ zu mehr internationaler Verantwortung, zu Solidarität und Bündnistreue hieß für Rot-Grün aber nicht blinde Gefolgschaft bei außenpolitischem Abenteurertum; deshalb das „Nein“ zum Irakkrieg 2003. Gerhard Schröder widersetzte sich damit dem Drängen des US-Präsidenten George W. Bush zu einer deutschen Beteiligung – die von der damaligen CDU-Chefin Angela Merkel befürwortet wurde. Die Entwicklungen nach der Intervention im Irak zeigten, wie richtig Schröder gelegen hat. In der deutschen Gesellschaft haben sich die Ereignisse von damals tief in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Insbesondere die falschen Aussagen über irakische Massenvernichtungswaffen führten zu einem tiefsitzenden Misstrauen bei vielen Deutschen gegenüber der US-Regierung, das nach einem vorübergehenden Vergeben und Vergessen zu Zeiten der deutschen Obama-Euphorie aufgrund des Verhaltens von Präsident Trump heute wieder weit verbreitet ist.
Das Säbelrasseln der USA gegenüber dem Iran hat die Spannungen im Nahen Osten massiv erhöht und lässt eine erneute US-Militärintervention befürchten. Auch wenn vieles an die Jahre 2002/03 erinnert, so gibt es doch unübersehbare Unterschiede: Trump war mit dem Versprechen angetreten, die US-Truppen nach Hause zu bringen. Dass genau von diesem Präsidenten ein neuer Krieg im Nahen Osten, inklusive eines Einmarschs von Bodentruppen, ausgehen wird, ist deshalb unwahrscheinlich. Doch auch bei nur begrenzten Militärschlägen droht immer die Gefahr einer regionalen Eskalation der Gewalt. Für uns ist deshalb klar: Solange wir Sozialdemokraten Teil der Regierung sind, wird sich Deutschland nicht an einem erneuten militärischen Abenteuer in der Region beteiligen. Klar ist aber auch, dass sich der Iran wieder an das Atomabkommen halten muss, sonst wird es zu einer Wiedereinsetzung der UN-Sanktionen kommen. Ein Ende des Nukleardeals würde zudem eine atomare Aufrüstungsspirale im Nahen Osten in Gang setzen. Weder daran kann der Iran Interesse haben – noch an einem umfassenden Sanktionsregime mit europäischer Beteiligung.
Ein Ende des Abkommens wäre nicht nur ein weiterer schwerer Schlag für die internationale Rüstungskontrolle, sondern auch für die Diplomatie. Die Unterzeichnung des Abkommens zwischen Iran, Deutschland und den fünf Ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats (China, Frankreich, Großbritannien, Russland, USA) im Jahr 2015 war das erfolgreiche Finish eines diplomatischen Marathons. Am Beginn der Strecke startete der deutsche Außenminister Joschka Fischer, der im Jahr 2003 mit seinen Amtskollegen aus Frankreich und Großbritannien für Gespräche nach Teheran flog. Sein Nachfolger Frank-Walter Steinmeier konnte an diese Bemühungen anknüpfen, und während der zwölf Jahre andauernden Vermittlungen spielte die EU eine tragende Rolle – das Nuklearabkommen ist auch eine europäische Erfolgsgeschichte. Deshalb ist es wichtig, dass wir gemeinsam mit unseren Partnern Frankreich und Großbritannien weiterhin politisches Kapital investieren und darauf hinwirken, dass sich sowohl die USA als auch die Iraner wieder an den Verhandlungstisch setzen, um eine weitere Eskalation der Lage zu verhindern – und der Diplomatie wieder eine Chance zu geben.
Das Primat des Zivilen
Auch wenn unter Rot-Grün der Einsatz von militärischen Mitteln als letzter Ausweg akzeptiert wurde, ließ die Regierung keine Zweifel daran aufkommen, dass für sie stets das Primat des Zivilen galt. Hier hat Rot-Grün wichtige Grundlagen geschaffen: Unter Schröder wurde nicht nur der ressortübergreifende Aktionsplan „Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“ verabschiedet, sondern auch der Zivile Friedensdienst, die Deutsche Stiftung Friedensforschung und das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze gegründet. Darauf aufbauend wurden im Außenministerium unter Frank-Walter Steinmeier und Sigmar Gabriel die Expertise und die Fähigkeiten bei der Verhinderung von Krisen, der Bewältigung von Konflikten und der Förderung von Frieden stetig weiterentwickelt. Beispielhaft für diese Bemühungen steht der Aufbau der Abteilung für Krisenprävention, Stabilisierung, Konfliktnachsorge und humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt.
Heiko Maas schreitet diesen Weg nun konsequent weiter voran. Er setzte im April 2019 ein wichtiges Zeichen, als er den deutschen Vorsitz im UN-Sicherheitsrat ganz der Krisenprävention widmete. Auch die EU-Ratspräsidentschaft 2020 soll genutzt werden, um den Bereich zivile Krisenprävention weiter auszubauen. Als wichtigen Beitrag dazu treibt der Außenminister die Gründung eines Europäischen Kompetenzzentrums für Ziviles Krisenmanagement in Berlin voran. Gerade im Lichte der Finanzierungslücken in der Haushaltsplanung sollten wir nicht vergessen, dass sich Investitionen in Krisenprävention auch finanziell auszahlen. Denn von jedem Euro, den wir heute in die Vorbeugung investieren, profitieren wir in der Zukunft, da wir sonst für die Eindämmung und Lösung von gewaltsamen Konflikten ein Vielfaches ausgeben müssten.
Auch beim Thema Rüstungsexporte wurden die Weichen bereits in den Jahren von Rot-Grün gestellt. So brauchte es eine rot-grüne Regierung, um überhaupt restriktive Rüstungsexportrichtlinien einzuführen. Erst kürzlich wurden die Richtlinien geschärft und an die heutigen Bedingungen angepasst. Nach langem Ringen zwischen den Koalitionären war es ein Erfolg für die SPD, dass die überarbeiteten Regelungen eine restriktivere Genehmigungspraxis für Rüstungsexporte vorschreiben. Konkret wurde beispielsweise durchgesetzt, dass Kleinwaffen grundsätzlich nur noch an EU-Mitgliedstaaten, NATO-Mitglieder oder gleichgestellte Länder exportiert werden dürfen, wobei es sich bei den letztgenannten um Australien, Japan, Neuseeland und die Schweiz handelt. Darauf aufbauend brauchen wir nun eine Einigung mit unseren europäischen Partnern. Denn eines ist klar: Wir brauchen mehr europäische Kooperationen und unterstützen deshalb auch gemeinschaftliche Projekte, wie die Entwicklung eines neuen Kampfjets, dem Future Combat Air System, und einer neuen Generation von Panzern, dem Main Ground Combat System.
Menschenrechte und Europa als Leitlinien
Menschenrechte wurden im Koalitionsvertrag von 1998 erstmalig als Leitlinien für die gesamte internationale Politik der Bundesregierung verankert und fortan durchgesetzt. So wurden unter Gerhard Schröder das Amt des Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung eingerichtet, das Deutsche Institut für Menschenrechte gegründet und der Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu einem ordentlichen Ausschuss des Bundestags aufgewertet. Auch auf bilateraler Ebene wurden Strukturen geschaffen, dank derer wir auch heute noch den Austausch zu Menschenrechtsthemen mit schwierigen Partnern führen können. Gute Beispiel sind der Rechtsstaatsdialog und der Menschenrechtsdialog zwischen Deutschland und China, die beide unter Schröder entstanden. Dank ihnen ist Deutschland heute das einzige EU-Land, das mit China regelmäßig über Menschenrechte spricht – auch wenn die Volksrepublik immer zögerlicher wird und es deshalb häufig des Einsatzes höchster Regierungsstellen bedarf, damit dieses Format fortgesetzt werden kann. Gerade in Zeiten eines anwachsenden Illiberalismus, der von Autokraten wie Putin, Xi und Erdogan vorangetrieben wird, sollten wir uns auf unser Grundgesetz besinnen, das zu Recht die Menschenrechte als Grundlage für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt anerkennt, und an unserer normenorientierten Außenpolitik festhalten.
Obwohl Gerhard Schröder im Wahlkampf 2002 von einem „deutschen Weg“ sprach, war die Außenpolitik unter Rot-Grün doch grundsätzlich europäisch und dem Multilateralismus verpflichtet. Schröder und Fischer unterstützten erfolgreich die Osterweiterung, dank der die Europäische Union im Jahr 2004 zehn neue Mitgliedsländer gewann. 15 Jahre später setzt Heiko Maas nun auf die Stärkung der Beziehungen zu den damals beigetretenen Ländern, um dem inzwischen eingetretenen Gefühl der Vernachlässigung innerhalb der EU entgegenzutreten. Auch trieb die rot-grüne Regierung mit der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen die Annäherung der Türkei an die EU voran – ein politischer Zugang zu einem schwierigen Partner, auf den gerade nach den Rückschritten bei Demokratie und Menschenrechten ganz viele in der Türkei ihre Hoffnungen setzen und der deshalb keinesfalls aufgegeben werden sollte.
Die Entscheidung auf dem Gipfel von Thessaloniki 2003, den West-Balkan-Staaten zum ersten Mal eine konkrete Beitrittsperspektive zu geben, ist auch aus heutiger Sicht noch richtig, wie die Beispiele Nordmazedonien und Albanien zeigen. Die beiden Staaten haben in den vergangenen Jahren gezeigt, dass bereits die Aussicht auf Beitrittsverhandlungen mit der EU dazu beitragen kann, dass umfassende und auch schmerzhafte Reformen umgesetzt werden. Durch die Namensänderung beendete Nordmazedonien sogar den fast 30-jährigen Konflikt mit Griechenland. Bis Herbst müssen nun die Skeptiker innerhalb der Unionsfraktion und in der EU überzeugt werden, den Weg zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen für Nordmazedonien und Albanien freizumachen. Sonst verspielen wir nicht nur unsere Glaubwürdigkeit, sondern brauchen über „Weltpolitikfähigkeit“ der EU an anderer Stelle erst gar nicht mehr sprechen.
In dem schwieriger gewordenen Verhältnis zu Russland kann Heiko Maas auf von Rot-Grün geschaffene Gesprächsformate aufbauen. So hat Schröder die Stelle eines Koordinators für zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland geschaffen und zusammen mit Wladimir Putin den jährlich stattfindenden Petersburger Dialog ins Leben gerufen. Gerade in diesen schwierigen Zeiten ist es wichtig, dass wir über bewährte Gesprächskanäle verfügen. Darauf aufbauend sollten wir mehr Zusammenarbeit mit Russland auf ausgewählten Gebieten gemeinsamen Interesses wagen. So sollte die EU den Dialog mit der Eurasischen Wirtschaftsunion auf regulatorischer und technischer Ebene verstärken und langfristig institutionalisieren. Sonst bestimmen bald andere die Regeln unserer Nachbarschaft, wo vor allem China immer mehr Einfluss gewinnt. Eine solche Kooperation steht nicht im Widerspruch zu den gegenwärtigen Sanktionen und könnte dazu beitragen, verloren gegangenes Vertrauen wieder herzustellen.
Die Außenpolitik unter Rot-Grün stand vom ersten Tag an vor noch nie da gewesenen Herausforderungen. Die Regierungsjahre hatten deshalb nicht nur goldene Tage und auch nicht alles, was aus heutiger Sicht noch glänzt, war alleiniger Verdienst von Sozialdemokraten – keine Frage. Zieht man allerdings einen Strich unter die Zeit von 1998 bis 2005, so muss man doch bilanzieren, dass die dritte Ära sozialdemokratischer Außenpolitik unter Kanzler Schröder viele Weichen gestellt hat, die uns auch heute noch verlässlich den richtigen Weg weisen – und damit ganz in der Tradition von Brandt und Schmidt steht.