Deutschlands Außenpolitik: Wider die Verstörung
Will sich Deutschland inmitten eines fragilen Westens selbst behaupten, braucht es mehr Mut und Entschlossenheit in allen Bereichen der eigenen Außenpolitik.
Ein Gefühl der Verstörung macht sich in der deutschen Politik breit. Es ist lange verdrängt worden. Wer will schon gerne in einer Welt voller äußerer Gefahren den Blick auch noch auf die inneren Gründe der eigenen Hilflosigkeit richten?
Aber den Gründen dieser Irritation nicht nachzuspüren, ist falsch, denn so kommt die Krise nie im Ganzen in den Blick. Es geht hier nicht um Probleme in einzelnen Themenfeldern. Die deutsche Außenpolitik ist an einer Art Nullpunkt angekommen. Fundamentale Ideen und Orientierungen stehen infrage. Am drastischsten zeigt sich dies am Verhältnis zu Russland, das sich binnen weniger Jahre vom Ostpolitik-Partner zum Feind entwickelt hat, der routinemäßig mit der atomaren Vernichtung deutscher Städte droht.
Aber die Russland-Politik ist nur der markanteste Fall. Es gibt fast kein außenpolitisches Feld, auf dem die Leitideen – und somit auch das deutsche Selbstbild – heute nicht herausgefordert werden. Am Tag des russischen Überfalls auf die gesamte Ukraine schrieb der Inspekteur des Heeres, Generalleutnant Alfons Mais, in einem viel beachteten Post auf Social Media, die Bundeswehr stehe „mehr oder weniger blank da“. Dasselbe ließe sich über die deutsche Außenpolitik sagen.
Die Verunsicherung rührt im Kern daher, dass ein positives deutsches Selbstbild, das sich in Jahrzehnten der Nachkriegszeit gebildet hatte, einer schier endlosen Reihe von Realitätsschocks ausgesetzt wird. Deutschland schien „von Freunden umgeben“ (Helmut Kohl), mit sich und den Nachbarn im Reinen.
Die gesamte außenpolitische Grundorientierung der Nachkriegszeit schien sich triumphal zu bestätigen: Westbindung, Ostpolitik, europäische Integration, Engagement für Israel (und einen Palästinenserstaat), Multilateralismus, Abrüstung und nicht zuletzt: ein für die Exportnation Deutschland hoch profitabler Freihandel in einer globalisierten Welt mit immer durchlässigeren Grenzen für Waren und Informationen.
Vom Avantgardisten zum Lobbyisten
Der Weltgeist wehte die wiedervereinigte Bundesrepublik voran. Deutschland, so schien es, war die Avantgarde – und der natürliche Profiteur – einer globalisierten, postnationalen Konstellation, in der alte geopolitische Konflikte durch Regeln und Institutionen überwunden wurden. Nationalismus, Imperialismus und das Denken in Einflusszonen waren auf dem Rückzug.
Welch ein Kontrast zur Gegenwart: Die Vorstellung, man lebe immer noch in einer „Nachkriegszeit“, wird von der Vorahnung überlagert, es könnte sich auch um eine Vorkriegszeit handeln.
Die Ostpolitik wurde von Wladimir Putin im Zuge seines neoimperialen Vernichtungskriegs gegen die Ukraine zerschossen. Die Nahost-Politik mit ihrer Hoffnung auf die Zweistaatenlösung wird zwischen der Hamas, dem Iran und der israelischen Rechten zerrieben. Die deutsche Fernost-Politik blickt mit banger Erwartung auf Chinas aggressive Positionierung gegenüber Taiwan und den Nachbarn im Südchinesischen Meer.
Noch beängstigender: Deutschlands wichtigster Handelspartner unterstützt Russland dabei, die Ukraine und damit die europäische Friedensordnung zu zerstören. So wurde es offiziell im Kommuniqué des diesjährigen NATO-Gipfels in Washington festgehalten: China sei ein „entschiedener Ermöglicher“ des Krieges in Europa.
Die Bundesregierung zögert, Konsequenzen daraus zu ziehen. Sie hält an der Wunschvorstellung fest, China könnte ein fairer Vermittler bei Friedensverhandlungen sein – denn Peking habe ja auch schon Putins Nuklearrhetorik eingedämmt.
Olaf Scholz tritt bei seinen Peking-Reisen weiterhin als Lobbyist jener deutschen Großunternehmen auf, die ihr Engagement dort immer stärker ausweiten, wie etwa BASF mit einem Zehn-Milliarden-Investment in Südchina. Diese merkantilistische China-Politik der Bundesregierung steht im Gegensatz zu ihrer eigenen China-Strategie, die ein De-Risking fordert (siehe dazu auch den Beitrag von Dana Heide auf S.25 ff.). Eine chinapolitische Kollision mit der nächsten US-Administration – egal welcher politischen Ausrichtung – ist abzusehen. Denn die USA stellen im Konsens beider Parteien auf die Eindämmung Chinas um.
Das transatlantische Bündnis steht nicht nur im Fall einer befürchteten zweiten Trump-Präsidentschaft vor einem Reset. Wer auch immer Joe Biden nachfolgen mag: Er ist der letzte US-Präsident, der Europas Sicherheit als amerikanisches Kerninteresse definiert.
Ein neuer Eiserner Vorhang
Innerhalb Europas ringen derweil Nationalisten und Rechtsextremisten mit einer zusehends fragilen Mitte um die Deutungshoheit. Das alte „Kerneuropa“ um die beiden Schlüsselnationen Frankreich und Deutschland findet keine gemeinsame Stimme. Viktor Orbán wiederum richtet Ungarn als Dockingstation für Antiliberale und Autokraten in aller Welt her. Sollte Trump ins Weiße Haus zurückkehren, wird sich Orbán als eine Art Statthalter und Dolmetscher des globalen Illiberalismus inszenieren.
Ein neuer Eiserner Vorhang senkt sich im Osten herab. So harsch hatte man sich die neue Realität nicht vorgestellt, als Ursula von der Leyen vor fünf Jahren sagte, die EU müsse eine „geopolitische“ Macht werden: Außengrenzen sichern (mit Zäunen und Pushbacks), aus der „Europäischen Friedensfazilität“ Waffenkäufe für die Ukraine finanzieren, gegen hybride und konventionelle Angriffe resilient werden.
Biden ist der letzte US-Präsident, der Europas Sicherheit als amerikanisches Kerninteresse definiert
Die Europäische Union verändert ihren Charakter, weg von einem offenen Projekt auf der Grundlage von gemeinsamen Märkten, Regeln und geteilter Souveränität, hin zu einem defensiven Akteur unter anderen, konkurrierenden Großmächten.
Innerhalb Europas verschiebt sich dabei das strategische Gewicht von den großen Gründerländern Frankreich und Deutschland nach Mittel- und Osteuropa und in den Norden, wo der Konflikt mit Russland ausgetragen wird. Die dynamischsten außenpolitischen Stimmen Europas sind heute Radek Sikorski (Polen), Gabrielius Landsbergis (Litauen), Kaja Kallas (Estland) und Alexander Stubb (Finnland).
Wie weltfremd die Debatte über eine „strategische Autonomie“ Europas war, zeigt der Krieg in der Ukraine täglich: Die EU wäre ohne die NATO derzeit wehrlos; daher wäre es klug, das Bündnis europäischer zu machen, statt von europäischer Souveränität zu träumen.
Ein entscheidendes Land in diesem neuen Europa wird Polen, das unter der Koalition von Donald Tusk in die Reihen der freiheitlichen Demokratien zurückkehrt. Polen gibt Anlass zur Hoffnung, dass der Triumph des autoritären Nationalismus, der sich vielerorts fortsetzt, nicht irreversibel ist.
Deutschland hat jetzt die Chance, die Beziehung zum östlichen Nachbarn – wirtschaftlich schon jetzt so wichtig wie Frankreich – zu entgiften. Polen ist, was die Wehrhaftigkeit angeht, in Europa Vorreiter. Man könnte ein umfassendes Kooperationsangebot machen, vor allem in Rüstungsfragen – bildlich gesprochen: Kanonen (Panzer, U-Boote) statt Reparationen.
In Deutschlands Nachbarschaft zeichnet sich eine historische Umkehr der Einfluss- und Machtverhältnisse ab, eine Nord-Ost-Verschiebung des strategischen Schwerpunkts in Europa. Die von Russland attackierte europäische Ordnung muss daher von Paris, Berlin und Warschau gemeinsam stabilisiert werden – mit Polen als entscheidendem Frontstaat im neuen Kalten Krieg.
Ukraine: aus der Grauzone in die EU
Die Ukraine-Frage steht in diesem größeren Zusammenhang. Die EU, Deutschland voran, hat sich richtigerweise der Integration des Landes in die EU verschrieben. Das hat gravierende strategische Folgen: Es geht bei der Beendigung des Konflikts nicht nur um die Ukraine, sondern um die künftige Grenze zwischen der EU und Russland, um den wichtigsten Teil des neuen Eisernen Vorhangs.
Im deutschen Interesse muss diese Grenze möglichst weit östlich verlaufen, idealerweise dort, wo sie 1991 zwischen der Ukraine und Russland festgelegt wurde. Kann das vorerst militärisch nicht erreicht werden, muss im deutschen Interesse die Aufmerksamkeit auf die Stabilisierung möglichst großer Teile der souveränen Ukraine gelegt werden.
Das Scheitern der deutschen (und europäischen) Politik der letzten Jahre hat gezeigt, dass es nicht funktioniert, die Ukraine in einer geopolitischen Grauzone zu stabilisieren. Die De-facto-Anerkennung einer russischen Einflusssphäre war deutsche Politik seit dem Nein zur NATO-Mitgliedschaft von 2008 – über die Minsker Abkommen von 2014/15 bis zum russischen Angriff im Februar 2022.
Deutschland könnte Polen ein umfassendes Kooperationsangebot machen, vor allem in Rüstungsfragen – bildlich gesprochen: Kanonen statt Reparationen
Wenn nun die Ukraine heraus aus der Grauzone und in die westlichen Gemeinschaften von EU und NATO integriert werden soll, ist die vollständige und sofortige territoriale Integrität der Ukraine dabei weniger entscheidend als die Qualität der Sicherheitsgarantien. Deutsche wissen das aus der Geschichte ihrer Teilung, bei der die NATO-Mitgliedschaft der Wiedervereinigung um 35 Jahre vorausging.
Olaf Scholz’ richtige Formel, es dürfe in der Ukraine „keinen Diktatfrieden“ geben, könnte bald schon auf die Probe gestellt werden, wenn sich eine künftige US-Administration das Konzept des „Einfrierens“ des Konflikts zu eigen machte. Im Fall einer Trump/Vance-Regierung wäre damit sogar sehr bald zu rechnen. Deutschland müsste dann im eigenen Interesse auf Abschreckung und Eindämmung Russlands bestehen – also auf harte Sicherheitsgarantien, die von einer NATO-Mitgliedschaft kaum zu unterscheiden wären.
Hier liegt der Kern der außenpolitischen Verstörung Deutschlands. Die deutsche Wiedervereinigung markierte, anders als erhofft, keinen Wendepunkt hin zu einer postnationalen Welt der Vernetzung und Offenheit, der Demokratie und des Wohlstands. Im Gegenteil: Der Nationalismus ist wieder da; Großmächte sichern sich Einflusszonen; eine Tendenz zur Entflechtung, Abschottung und Fragmentierung ist an die Stelle der Globalisierung getreten. Wir sind keine welthistorische Avantgarde, wir sind nicht „die Guten“, wir sind nicht mal mehr das „Modell Deutschland“ in Europa. In der Ost-, Nahost- und Fernost-Politik operieren wir mit Konzepten, die nicht mehr funktionieren.
Erlernte Hilflosigkeit in Berlin
Die beiden wichtigsten Partnerschaften Deutschlands sind in der Krise. In Europa blockieren Paris und Berlin sich gegenseitig: In beiden Hauptstädten sind „Lame-Duck-Regierungen“ am Hebel, deren interne Uneinigkeit ihre politische Energie aufzehrt. Und das ausgerechnet, während der Krieg in der Ukraine die sicherheitspolitische Abhängigkeit von den USA noch einmal drastisch gesteigert hat.
Das deutsche Sicherheitsdilemma ist selbst produziert. Psychologen haben einen Begriff dafür: erlernte Hilflosigkeit. Transatlantisch gesinnte Präsidenten interpretierte man in Berlin als Einladung zum Sparen an der Verteidigung, man war ja sicher. Donald Trump hielt man für einen verteidigungspolitischen Freak, den man durch moderate Steigerungen hinter die Fichte führen konnte – ohne je ernsthaft das Zwei-Prozent-Ziel der NATO anzustreben.
Gegen Putins Kriegswirtschaft wird Deutschland nicht mit der Schuldenbremse ankommen
Nach Joe Bidens Amtsübernahme sanken die Verteidigungsausgaben im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt wieder – von 1,37 Prozent 2020 auf 1,32 Prozent 2021. Es bedurfte Putins Angriffs auf die Ukraine, um die provokante deutsche Säumigkeit zu beenden. Doch just in dem Moment, in dem Deutschland das Ziel erreicht, wird dieses von der NATO zum neuen Minimum umdefiniert.
Wer auch immer demnächst im Weißen Haus regiert: Die Verteidigungsausgaben werden in einer Dimension ansteigen müssen, die neues Denken in der Haushalts- und Finanzpolitik erfordert. Allen staatstragenden Parteien in Deutschland verlangt die Lage Umdenken ab.
Die Sozialdemokratie erlebte den Zusammenbruch ihrer Ostpolitik. Die Losung lautet nun: erst Warschau und Kiew, dann Moskau. Die Grünen schalteten auf maximale Waffenlieferungen um und besorgten in Gestalt des Wirtschaftsministers Robert Habeck fossile Energie bei den Autokraten in Katar. Den Liberalen und den Christdemokraten steht nun bevor, ihre eigene Lebenslüge abzuräumen: Die Finanz- und Haushaltspolitik der „schwarzen Null“ ist mit Deutschlands Sicherheitsinteressen nicht vereinbar.
Gegen Putins Kriegswirtschaft wird Deutschland nicht mit der Schuldenbremse ankommen. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz zu Beginn des Jahres legte J. D. Vance, der spätere Kandidat für das Amt des US-Vizepräsidenten, genüsslich den Finger in die Wunde: Wenn Putins Krieg tatsächlich eine existenzielle Gefahr ist, warum müssen wir euch dann zu 2 Prozent Verteidigungsausgaben zwingen? Wenn es in der Ukraine um die Zukunft der Demokratie und der europäischen Friedensordnung geht, warum liefert ihr so halbherzig?
Verkehrte Welt: Die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang erklärte dem konservativen US-Senator, warum es im amerikanischen Interesse sei, eine starke NATO in Europa vorzuhalten, warum man Putin einhegen müsse, um Xi abzuschrecken. Vance konterte sarkastisch, Europa müsse sich auf eine „Welt der Knappheit“ einstellen, in der die USA andere außenpolitische Prioritäten setzen, weg vom euro-atlantischen Raum, mit China im Zentrum der Aufmerksamkeit, weiterhin an der Seite Israels.
Deutsche Nahost-Politik im Umbruch
Auch Deutschland steht nach dem Hamas-Massaker vom Oktober 2023 fest an der Seite des jüdischen Staates. Doch die deutsche Nahost-Politik ist unterdessen im Umbruch, auch wenn sie sich weiter an zwei vertrauten Begriffen festhält: „Zweistaatenlösung“ und „Staatsräson“. Die kanonische Formel von Angela Merkel aus dem Jahr 2008 ist heute omnipräsent. Dabei ist immer ungewisser, was eigentlich aus dem Bekenntnis folgt.
Der Begriff, 2005 vom Sozialdemokraten Rudolf Dressler (damals Botschafter in Israel) erfunden, sollte Israel gegen einen in jener Zeit um sich greifenden neuen deutschen Antisemitismus in Schutz nehmen. Das deutsche Engagement für das Existenzrecht des jüdischen Staates, so verstand es auch Bundeskanzlerin Merkel, war bedingungslos („nicht verhandelbar“). Die Israel-Politik rückte in einen vorpolitischen Raum des Unhintergehbaren, jenseits der üblichen interessengeleiteten Abwägung.
Nun ist aber fraglicher denn je, was es eigentlich heißt, die Sicherheit Israels zu stärken. Die von Deutschland bevorzugte „Zweistaatenlösung“ hintertreibt die israelische Rechte seit Jahren bereits durch forcierte und von der breiten Mehrheit geduldete Siedlungsaktivität, durch Repression in den Palästinensergebieten und den Umbau des israelischen Rechtsstaats.
Berlin unterstützte anfangs zu Recht das Vorgehen der israelischen Armee, der IDF, in Gaza als Akt der Selbstverteidigung. Auch als das Bombardement Gazas bereits Tausende Tote gefordert und enormes Leid unter palästinensischen Zivilisten angerichtet hatte, unterließ man deutliche Kritik. Im März 2024 versorgte die deutsche Luftwaffe (zusammen mit Jordaniern und Amerikanern) Gaza mit Hilfspaketen aus der Luft, weil Israels Blockade eine Hungersnot zu verursachen drohte. Fünf Menschen wurden von den Hilfspaketen (unklar welcher Provenienz) erschlagen – ein krasses Sinnbild gescheiterter westlicher Nahost-Politik.
Außenministerin Annalena Baerbock reiste oft in die Region und forderte humanitäre Erleichterungen. Den politischen Kern des Konflikts – dass Israel mit der Untergrabung der Zweistaatenlösung seine Zukunft als demokratischer jüdischer Staat zerstört –, spricht sie allerdings öffentlich nicht an.
Das Konzept der Staatsräson sollte das deutsch-israelische Verhältnis stärken, aber es hat Deutschland gegenüber einer israelischen Regierung politikunfähig gemacht, die aus deutscher Sicht die eigene Sicherheit untergräbt – nicht nur durch die Verwüstung Gazas, sondern auch durch die Duldung rechtsextremistischer Siedlergewalt im Westjordanland.
Politikwechsel gegenüber dem Iran
Nicht nur die Israel-Politik, auch die Iran-Politik muss neu aufgestellt werden, denn erstens macht der Iran sich das palästinensische Leid zunutze. Zweitens, und wichtiger: Iran ist Teil einer Achse der Autokratien, die weit über den Nahen Osten hinaus agiert. Teheran unterstützt Russlands Angriff auf die Ukraine. China wiederum stützt den Iran ökonomisch durch Ölimporte und diplomatisch durch Aufnahme in die BRICS-Staatengruppe.
Die Eindämmung des Regimes in Teheran kann ohne Fortschritte für die Palästinenser nicht gelingen
Das iranische Regime hat sich nach innen und außen radikalisiert und wird von der „Achse des Aufstands“ gegen die westlich dominierte Weltordnung getragen. Die historische Konstellation, in der das Atomabkommen JCPOA möglich war – damals mit russisch-chinesischer Patenschaft –, ist passé.
Der Entwurf der Unionsfraktionen vom Juli 2024 für eine neue Iran-Politik definiert das iranische Regime als „umfassenden Gegner“, dem gegenüber „wir unseren politischen Grundreflex […] entsprechend ändern müssen“. Das läuft sowohl auf eine Politik der Eindämmung mit noch mehr Sanktionen und Terrorlistungen für Teile des Regimes als auch auf die Unterstützung einer israelisch-arabischen Achse gegen den Iran hinaus.
Der Politikwechsel in Bezug auf den Iran liefe allerdings ins Leere, wenn nicht auch die rechtsextremen Ethno-Nationalisten in Israel gebremst werden. Denn die Entrechtung der Palästinenser gibt dem Iran die Möglichkeit, sich mit seinen Stellvertretermilizen als Schutzmacht der Vergessenen zu profilieren. Ohne Hoffnung für die Palästinenser werden die arabischen Staaten sich zudem nicht mit Israel gegen den Iran zusammenschließen. Diese unbequeme Wahrheit verschweigt die Union: Die Eindämmung des Regimes in Teheran kann ohne Fortschritte für die Palästinenser nicht gelingen.
Es fällt auf: Heute, wie im ersten Kalten Krieg, geht es wieder zentral um verdrängte Begriffe wie Abschreckung, Eindämmung und Wehrhaftigkeit. Die Selbstbehauptung Deutschlands in einem fragilen, von innen wie außen attackierten Westen, verlangt ein neues Maß an Mut und Entschiedenheit in der Außenpolitik. Auf Deutschland kommt es an. Und dieses Land, das sollte man bei aller Verstörung nicht vergessen, ist der Verteidigung wert.
Dieser Artikel ist in der gedruckten Version unter dem Titel „Wider die Verstörung" erschienen.
Internationale Politik 5, September/Oktober 2024, S. 18-24
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