Deutschland, Europa und der Osten
Warum eine Re-Europäisierung des deutschen Interessensdiskurses nötig ist
Deutschlands Interessendiskurs hat sich just zu einer Zeit renationalisiert, in der die politischen Erfordernisse eigentlich eine EU-europäische Verbreiterung erfordern. Nirgends wird dies deutlicher als in der Politik gegenüber Russland. Die Ostpolitik der EU wird daher auch zum Testfall des Führungsgeschicks deutscher Außenpolitik.
Der außenpolitische Diskurs in Deutschland hat sich seit der Vereinigung beträchtlich gewandelt. Bemerkenswert (wenn auch nicht überraschend) ist vor allem die Renaissance der Rede von den „nationalen“ oder „deutschen Interessen“.1 Nicht dass diese Begriffe neu wären. Sie gehören seit vielen Jahrzehnten zum Standardrepertoire außenpolitischer Debatten in vielen Staaten der Welt. Und auch in der alten Bundesrepublik waren sie nie völlig vergessen worden. Bemerkenswert jedoch ist, in welchen Kombinationen und in welchen Kontexten diese Begriffe heute verwendet werden. Bis weit in die neunziger Jahre war für den deutschen Interessendiskurs ein eher defensiver Grundton kennzeichnend. So meinte etwa der frühere Bundeskanzler Schröder noch 1999, besonders betonen zu müssen, „dass auch die Deutschen ein Recht auf Vertretung ihrer Interessen haben“. Gleich danach fügte er jedoch hinzu, dass er dieses „Recht“ nicht nur wahrnehmen, sondern den Partnern Deutschlands auch „klarmachen“ wolle, „dass die Deutschen selbstbewusst ihre Interessen vertreten“.2 Gemessen an internationalen Maßstäben hat sich der außenpolitische Diskurs in Deutschland mittlerweile weitgehend „normalisiert“. Sowohl der defensive Grundton wie auch die pleonastische Übertreibung (wie müsste man sich eine Politik vorstellen, die selbstbewusstlos Interessen vertritt?) sind weitgehend verdrängt worden durch eine „nüchterne“ Interessenkalkulation.
Die Renaissance nationaler Interessen ist wenig überraschend, wenn man bedenkt, dass für das vereinigte Deutschland nach 1990 frühere Abhängigkeiten wegfielen und damit auch der Druck wuchs, eigenständig Positionen zu formulieren. Hinzu kommt, dass sich die machtpolitische Resozialisierung deutscher Außenpolitik3 in einem Umfeld vollzog, in dem die Wiederentdeckung des Nationalstaats und der Ausbau der Europäischen Union nicht nur nicht als Gegensätze, sondern manchmal geradezu als einander bedingend wahrgenommen wurden. Trotzdem ist die Renaissance nationaler Interessen in der Sache weder zwingend noch besonders förderlich. Sie ist nicht zwingend, weil über außenpolitische Ziele auch in anderer Weise gestritten werden kann, und sie ist nicht förderlich, weil die Rhetorik der nationalen Interessen schädliche Trennlinien schafft zwischen jenen, deren (nationale) Interessen (vermeintlich) vertreten werden sollen und anderen, nicht zur nationalen Gemeinschaft Gerechneten, denen etwas abgetrotzt werden muss, um diese nationalen Interessen zu befriedigen.
Banalisierung nationaler Interessen
Zwei Missverständnissen ist vorzubeugen. Die Kritik an der Renaissance der Rede von den nationalen Interessen sollte nicht mit der rhetorischen Argumentationsfigur verwechselt werden, derzufolge die Deutschen vermeintlich „kein Recht auf Vertretung ihrer Interessen“ hätten. Solche unsinnigen Forderungen stellt niemand auf. Sie ist vielmehr ein Plädoyer für einen sorgsamen Umgang mit zentralen politischen Kategorien, deren Gebrauch weitreichende politische Folgen zeitigt. Dass Staaten Interessen haben, ist so trivial wie die Aussage, dass Menschen Ziele verfolgen. Es liegt in der Natur individueller und kollektiver Akteure zu handeln – d.h. Ziele zu verfolgen bzw. Probleme zu lösen. Entscheidend ist, wie Akteure und Ziele jeweils konzeptualisiert werden. Wenn der Staat lediglich als eine Form der politischen Vergemeinschaftung neben anderen – beispielsweise der Stadt, dem Bundesland oder dem Staatenbund – angesehen wird und daher (zumindest fürs erste) auch nicht mehr als diese für sich beanspruchen kann, „in Gesundheit und Kraft erhalten“ zu werden,4 dann ist dies für alle Betroffenen ein Gewinn, weil der rationale Diskurs darüber erleichtert wird, welche Ziele in welchen Vergemeinschaftungsformen aus welchen Gründen verfolgt werden sollen. Die Überhöhung des Nationalstaats durch die Banalisierung „nationaler Interessen“ zu unterwandern, ist daher auch ein Beitrag zur Beförderung demokratischer Willensbildung. So wie Bayern und Preußen gelernt haben, eine deutsche Demokratie nicht als Untergang ihrer spezifischen Identität zu begreifen, so können Polen und Deutsche lernen, dass eine europäische Demokratie mit der Bewahrung jener Eigenheiten vereinbar ist, die Polen und Deutsche legitimerweise für sich reklamieren.
Damit wäre auch einem zweiten Missverständnis vorgebeugt, das häufig mit der Kritik an „nationaler Interessen“-Rhetorik einhergeht. Solchen Kritikern wird vielfach vorgehalten, der Verzicht auf die Definition nationaler Interessen mache Deutschland zum Spielball der vehement vorgetragenen nationalen Interessen anderer. Diese Vorhaltung verfehlt jedoch die bedeutsame Differenz zwischen einer vermeidbaren Rhetorik im Tonfall „des“ oder „der“ nationalen bzw. deutschen Interesses/n und einer im politischen Diskurs letztlich unvermeidlichen Rhetorik der Formulierung und Durchsetzung politischer Ziele. Zu fordern, dass Deutschland (vertreten durch seine gewählten Repräsentanten) keine politischen Ziele verfolgen solle, käme der sinnlosen Forderung gleich, dass die Menschen aufhören sollten zu handeln. Kein Kritiker „nationaler Interessen“-Rhetorik stellt solch unsinnige Forderungen.
Habermas statt Bismarck
Welche Folgen spezifische Ausprägungen des Interessendiskurses zeitigen können, lässt sich besonders gut am deutschen Fall in seiner Wechselwirkung mit dem europäischen Integrationsprozess aufzeigen. Die Bundesrepublik galt zusammen mit Frankreich lange Zeit als der „Motor der europäischen Integration“. Dies äußerte sich nicht nur darin, dass wesentliche Integrationsfortschritte durch politische Initiativen dieses Gespanns angestoßen wurden. Es ging auch einher mit einer Europa-Rhetorik deutscher Eliten, die die Differenz zwischen deutschen und europäischen Interessen klein redete. Selbst von so „nüchternen“ Machtpolitikern wie Egon Bahr sind Aussagen von Anfang der neunziger Jahre verbürgt, in denen er „kein einziges außenpolitisches, nationales, deutsches Ziel“ auszumachen vermochte, sondern stattdessen darauf verwies, dass „die außenpolitischen Interessen dieses vergrößerten Deutschlands (…) europäisch“ seien.5 Wie immer man die Motive dieser weit in die Bonner Republik zurückreichenden Rhetorik beurteilen mag – die Interpretationsangebote reichen hier von genuiner deutscher Integrationsbegeisterung bis hin zu sinisterem Vormachtstreben in der EU – weitgehend unstrittig scheint, dass ein gewichtiger Effekt darin bestand, im deutschen Diskurs viel stärker Europa als Deutschland zur zentralen Projektionsfläche zukünftiger politischer Vergemeinschaftung zu machen. Nicht zu unterschätzen ist der mit dieser diskursiven Grundhaltung einhergehende Effekt, in der EU zumindest perspektivisch jenen „Übergang zu einer postnationalen Bewusstseinsformation“ zu befördern, den man aus guten Gründen nicht nur für wünschenswert und möglich, sondern auch für geboten halten kann.6
Die Ironie der erfolgreichen „Normalisierung“ Deutschlands und des parallel vorangetriebenen Ausbaus der EU (in der Form einer beschleunigten Erweiterung um neue Mitglieder bei zaghafter institutioneller Vertiefung) besteht heute aber gerade darin, dass die Renationalisierung des deutschen Interessendiskurses die Probleme der Union eher verschärft hat als sie zu lindern. Denn in dem Maße, wie Deutschland („so wie die anderen auch“) seine nationalen Interessen in den Mittelpunkt seiner Politik rückt, akzentuiert es die Trennlinien in einer Europäischen Union, die nach der Erweiterung ohnehin beträchtlich ins Straucheln geraten ist. Wie der starke Kontrast im außenpolitischen Stil von Bundeskanzlerin Merkel im Vergleich zu ihrem Vorgänger zeigt, geben solche diskursiven Verschiebungen nicht zwangsweise einen bestimmten außenpolitischen Kurs vor. Allerdings haben sich in den vergangenen 17 Jahren sowohl die Gestaltungsmöglichkeiten als auch die Möglichkeitshorizonte deutscher und europäischer (Außen-)Politik so weit verschoben, dass auf absehbare Zeit weder eine deutsche „Motor“-Rolle alten Typs noch eine Rückkehr zur Europa-Begeisterung früherer Jahrzehnte realistisch erscheint. Die EntEuropäisierung deutscher Außen- und Europa-Politik wie auch die in der zweiten Amtszeit der Regierung Schröder/Fischer generell forcierte machtpolitische Selbstbehauptung sind in diesem Sinne der sichtbarste Ausdruck der Renationalisierung des deutschen Interessendiskurses.7
Nicht wenige Beobachter halten diese Entwicklung für begrüßenswert. In der Formel „Mehr Bismarck, weniger Habermas“ von Christian Hacke8 findet sie ihre pointierte Zuspitzung. Weil, so das Argument, Deutschland sich außenpolitisch eben nicht nur in der verlässlich befriedeten („postmodernen“) EU bewegen, sondern auch in der klassisch-machtpolitischen Sphäre der Staatenkonkurrenz behaupten müsse, habe es gar keine Alternative. Dies gelte vor allem deshalb, weil die „klassische Moderne“ (als Großmachtkonkurrenz) wie auch die „Prämoderne“ (in der Form von Staatszerfall und Terrorismus) sogar wieder näher an Europa heranrücke. Am Beispiel dessen, was üblicherweise „deutsche Ostpolitik“ genannt wird, werde ich im Folgenden versuchen zu zeigen, warum diese Sichtweise nicht nur kurzsichtig, sondern kontraproduktiv ist.
Alte und neue „Ostpolitik“
Der Begriff der Ostpolitik weckt starke Assoziationen an eine Zeit, in der „Normalisierung“ noch für das Gegenteil dessen stand, was sie im außenpolitischen Diskurs Deutschlands heute bedeutet. Nicht machtpolitische Selbstbehauptung stand damals im Vordergrund westdeutscher Bemühungen, sondern eine Politik, die auf Ausgleich und Verständigung, auf „Entspannung“ und „menschliche Erleichterungen“ in den Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und den Staaten des Warschauer Paktes abzielte. Wie sehr sich die Rahmenbedingungen deutscher Außenpolitik in östlicher Richtung verändert haben, wird sehr schnell deutlich, wenn man sich einige Parameter der damaligen und der heutigen Situation genauer ansieht.
Ostpolitik in der Bonner Republik vollzog sich vor dem Hintergrund einer bipolaren Konfrontation, die geprägt war durch klare Freund- und Feindbilder, eine eindeutige, wenn auch stark asymmetrische Machthierarchie mit zwei „Supermächten“ an der Spitze und den mit dieser Konstellation einhergehenden eingeschränkten, aber auch übersichtlichen Wahlmöglichkeiten für alle anderen Staaten. Für die damalige E(W)G in ihrer Gesamtheit war der Schutzschirm Amerikas von existenzieller Bedeutung. Dies galt angesichts der Massierung sowjetischer Truppen auf ostdeutschem Territorium noch weit mehr für den westdeutschen Teilstaat im geopolitischen Zentrum des Ost-West-Konflikts. Eine der „Ostpolitik“ vergleichbare „Westpolitik“ gab es vor diesem Hintergrund schon deshalb nicht, weil die Gleichsetzung der politischen Beziehungen mit den USA bzw. den westeuropäischen Verbündeten mit den Beziehungen zur Sowjetunion und ihren Satelliten im Warschauer Pakt für überwältigende gesellschaftliche Mehrheiten in Westeuropa nicht akzeptabel war. Die Bonner Republik war aus existenziellem Überlebensinteresse fest im „Westen“ verankert, drang angesichts der belastenden Teilung der Nation aber zugleich auf einen Ausgleich mit dem Osten. Keines der beiden Kernziele Existenzsicherung und Entspannung war aus eigenen Mitteln zu gewährleisten, die Abhängigkeit von der Kooperationsbereitschaft anderer daher entsprechend groß.
Deutsche Ostpolitik im Jahr 2007 stellt sich vor dieser Hintergrundfolie grundlegend anders dar. Das Ende der Ost-West-Konfrontation, die Vereinigung Deutschlands, der nachfolgende doppelte Rückzug von USA und Russland aus dem Zentrum Europas und die zügige Füllung der entstandenen machtpolitischen Lücken durch die EU haben für Deutschland eine völlig neue Situation geschaffen. Östliche Nachbarstaaten, die früher als Aufmarschgebiet für die Rote Armee dienten, sind heute – mit denselben weitreichenden Rechten und Pflichten wie die alten westeuropäischen Partner – aufs engste mit Deutschland verflochten. In mancherlei Hinsicht ist dieses Deutschland heute durchaus die „Zentralmacht Europas“9 – eingebettet allerdings (wie seine Nachbarn auch) in übergreifende Strukturen europäischen Regierens, die den klassischen europäischen Nationalstaat gravierend verändert haben. Unübersehbar ist trotzdem, dass viele Nachbarn Deutschlands nunmehr von deutscher Unterstützung abhängig sind, wie es die Bundesrepublik früher ihrerseits war.
Zwang zu europäischer Eigenständigkeit
Was folgt aus dieser neuen Lage? Die Grundlinien der Ostpolitik der Regierungen Schröder und Merkel zeichnen vor, was möglich ist. Unabhängig von spezifischen Präferenzen individueller Führungspersönlichkeiten oder Koalitionskonstellationen stechen zwei Parameter hervor. Erstens ist die EU heute weit mehr als ihre Vorläufer in den Jahren 1990 oder 1970 der zentrale Handlungsrahmen jeglicher deutschen Außenpolitik. Damit ist in der Binnendimension zum einen umschrieben, dass rechtliche Bindungen und institutionelle Verfahren einer Bilateralisierung deutscher Ostpolitik engere Fesseln anlegen als dies früher der Fall war. Wie der Gaspipeline-Deal zwischen Schröder und Putin über die Köpfe der Polen und Balten hinweg zeigt, ist ein ostpolitischer Unilateralismus Deutschlands zwar nach wie vor möglich, aber sowohl die Hürden als auch die potenziellen Folgekosten einer solchen Politik sind heute um einiges höher als dies früher der Fall war.10 Zum anderen kommt der EU derzeit auch deshalb eine weit größere Bedeutung für die deutsche Außenpolitik zu, weil ihre ausgereifteren Mechanismen (wie GASP und ESVP) echte Alternativen bzw. sinnvolle Ergänzungen zu unkoordinierten einzelstaatlichen Initiativen darstellen. In manchen Fällen werden ambitionierte deutsche Initiativen sogar erst dadurch plausibel, dass sie als Teil einer mit den Partnern in der EU koordinierten Politik präsentiert werden können.
Zweitens ist unübersehbar, dass die EU-Europäer mehr denn je gezwungen sind, sich in der Weltpolitik eigenständig zu positionieren. Die Alternativen stellen sich dabei immer seltener als eine Wahl zwischen nationaler, EU-europäischer oder transatlantischer Alternative. Vielmehr spitzen sie sich auf eine Entscheidung zwischen nationalem Alleingang oder EU-europäischer Koordination zu. Dies liegt weniger an einem mangelnden Interesse der meisten EU-Staaten, mit den USA weiterhin engste Beziehungen zu pflegen. Im Gegenteil, für viele Ostmitteleuropäer hat dieses Kooperationsinteresse nach wie vor sogar existenziellen Charakter. Europa hat allerdings seinen Status als herausragendes Handlungsfeld US-amerikanischer Außenpolitik verloren. Die Einschränkung der Wahlmöglichkeiten wird aber auch durch die Multipolarisierung der Weltpolitik erzwungen. So langwierig, ineffizient oder „postmodern“ die Entscheidungsabläufe in der EU durch die Brille einer traditionellen Großmachtkonkurrenz auch anmuten mögen, zahlreiche Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit (von der orangenen Revolution in der Ukraine bis zum Libanon-Krieg) zeigen, dass in wichtigen weltpolitischen Ordnungsfragen weder die USA noch Russland an der EU vorbeikommen, die Europäer aber auch nur dann Gehör finden, wenn sie koordiniert auftreten (siehe Iran-Atomkrise).
Wenn diese Analyse richtig ist, dann steht es den außenpolitischen Entscheidungsträgern in Berlin gut an, nicht nur ihre Ostpolitik punktuell EU--europäisch zu koordinieren, sondern die „Europäisierung“ nationaler Außenpolitiken ganz allgemein voranzutreiben. Gemeint ist damit nicht nur die Verlagerung außenpolitischer Entscheidungskompetenzen aus den nationalen Hauptstädten auf eine EU-europäische Koordinierungs- und Entscheidungsebene, sondern generell die Beförderung der Solidarität unter den Bürgern einer demokratisch verfassten Union.11 Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg besteht darin, immer mehr die EU-europäische Öffentlichkeit zum Adressaten der politischen Auseinandersetzung über europäische Interessen/Ziele zu machen. Dies ist gerade für Deutschland nicht nur verfassungspolitisch und moralisch, sondern auch unter Klugheitserwägungen geboten. Verfassungspolitisch, weil sich der Grundgesetzauftrag, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“, mit der Vereinigung nicht erledigt hat. Moralisch, weil die EU-Staaten als Bundesgenossen untereinander in einem anderen wechselseitigen Verpflichtungsverhältnis stehen, als dies für ihr Außenverhältnis gilt – und zwar unabhängig davon, wie sehr das machtpolitische Gewicht von Großmächten wie den USA oder Russland „strategische Partnerschaften“ mit ihnen angeraten erscheinen lässt.
Zwischen Einbindungs- und Entspannungspolitik
Ratsam ist eine solche Europäisierung aber auch aus reinen Klugheitserwägungen. Die jüngere und die ältere Geschichte zeigen nämlich zuhauf, dass die Lähmung oder gar Spaltung der EU vor allem ihr selbst schadet, ein geschlossenes Auftreten aber langfristig Erfolge verspricht. Die Irak-Krise ist das prominenteste Beispiel der letzten Jahre für europäisches Versagen. Die gegenwärtigen wechselseitigen Blockaden der EU-Staaten im Hinblick auf eine gemeinsame Energiepolitik gegenüber Russland illustrieren denselben Punkt in Richtung Osten. Außenminister Frank-Walter Steinmeier hält vor diesem Hintergrund zu Recht „so etwas wie eine neue Ostpolitik“ für erforderlich.12 Strittig ist allerdings, von welchem strategischen Grundkonzept diese geprägt sein sollte. Dass Russland der Dreh- und Angelpunkt ist, versteht sich dabei von selbst. Die in der außenpolitischen Rhetorik häufig aufscheinende Leerformel der „strategischen Partnerschaft“ ist hierbei aber nicht besonders hilfreich, lässt sie doch weitgehend offen, worin das Ziel bestehen und auf welchem Weg es erreicht werden sollte.
Zwei Unterscheidungen könnten bei der Klärung hilfreich sein. Die erste betrifft die strategische Ebene, auf der sich eine entspannungspolitische von einer einbindungspolitischen Strategie unterscheiden ließe. Zentrale Prämisse der Entspannungspolitik ist es, dass grundsätzliche Spannungen zwar vorhanden sind, ein „Ausgleich gegensätzlicher Ziele und Interessen“ aber möglich ist und das wechselseitige Bemühen auch darauf gerichtet werden sollte, „zunehmend Gebiete gemeinsamen Interesses und der Zusammenarbeit zu finden“.13 Einbindungspolitik hingegen zielt auf enge wechselseitige Verflechtung, wie sie etwa von jenen Staaten der EU betrieben wird, die eine Vertiefung der Zusammenarbeit anstreben. Der konzeptionelle Unterschied ist bedeutsam, weil Entspannungspolitik auf Kooperation (im Sinne eines punktuellen Interessenausgleichs), Einbindungspolitik hingegen auf Integration (im Sinne der bewussten Schaffung, zumindest aber der Akzeptanz wechselseitiger Abhängigkeitsverhältnisse) setzt.14 Die zweite Unterscheidung betrifft den Weg, auf dem Interessenausgleich bzw. Verflechtung erreicht werden sollen. Die Entscheidungsträger in Berlin haben hier prinzipiell die Wahl zwischen einer Bilateralisierung der Beziehungen zu Russland (wie sie ansatzweise Gerhard Schröder betrieben hat) oder einer (primär über die EU vermittelten) Multilateralisierung.
Die Beziehungen zu Russland als strukturell spannungsgeladen (und deshalb entspannungsbedürftig) zu charakterisieren, gilt in Berliner Regierungskreisen wohl nicht zuletzt deshalb als wenig opportun, weil diese Charakterisierung allzu starke Assoziationen an jenen „Kalten Krieg“ heraufbeschwören könnte, an den jüngst der russische Präsident mit seiner harschen Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz erinnerte. Dies ändert aber nichts daran, dass sich sowohl die gegenwärtige Lage als auch die Perspektiven der europäisch-russischen Beziehungen etlichen Außenpolitikern im atlantisch gepolten Kanzleramt genau so darstellen dürfte. Im AA hingegen wird das Verhältnis nicht als spannungsgeladen, sondern als so weitgehend komplementär beurteilt, dass eine „irreversible“ wechselseitige „Verflechtung“ zur politischen Zielvorgabe gemacht wird.15 Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder meinte Ende letzten Jahres sogar, „dass nur eine strategische Bindung zwischen dem Europa der Union und Russland uns befähigt, ökonomisch, politisch, kulturell standzuhalten gegenüber konkurrierenden Mächten wie Amerika [sic!] und gegenüber aufstrebenden Mächten wie Indien und China.“16
Eurasisch versus atlantisch?
Wenn man einmal unterstellt, dass die Entscheidungsträger in Berlin im Hinblick auf eine neue EU-Ostpolitik zwischen einer atlantischen Grundausrichtung mit einer entspannungspolitischen Russland-Strategie oder einer eurasischen Ausrichtung mit einer Einbindungsstrategie gegenüber Russland wählen müssten – welcher Konzeption würde man derzeit aus welchen Gründen bessere Realisierungschancen einräumen? Aus heutiger Sicht erscheinen die Eurasier nicht zuletzt deshalb am kürzeren Hebel zu sitzen, weil nicht nur höchst zweifelhaft ist, inwieweit sich Russland auf die Empfehlung Gerhard Schröders einlassen und eine strategische Verbindung mit der EU gegenüber China und Indien eingehen würde. Sie haben auch deshalb die schlechteren Karten, weil man im Westen der EU (geschweige denn in Mittelosteuropa) für eine „irreversible Verflechtung“ mit Russland (z.B. über staatlich gelenkte Energieunternehmen wie Gazprom) oder gar eine strategische Positionierung mit Russland gegen die USA nicht allzu viele Freunde finden wird. Und dabei wäre noch gar nicht berücksichtigt, dass es für Deutschland auch verfassungspolitische und vertragliche Bindungen gegenüber den EU-Partnern, aber auch den USA gibt, die einer eurasischen Strategie deutliche Grenzen setzen.
All dies klingt sehr danach, dass die Atlantiker in Berlin (wie auch in Brüssel) auf absehbare Zeit die Oberhand haben sollten. Dies unterstellt allerdings, dass die USA mit dem zurückliegenden Pendelausschlag unter George W. Bush die äußere Zumutungsgrenze für ihre Verbündeten erreicht haben und die US-Außenpolitik in den kommenden fünf Jahren weniger spannungsträchtig ausfällt als in den vergangenen fünf. Für eine solche Prognose spricht derzeit einiges. Für Deutschland wie auch die EU als Ganzes könnte ein neuer Atlantizismus mit entspannungspolitischer Russland-Komponente daher auch eine gewinnbringende Strategie sein. Zudem müsste das weder für die Beziehungen zwischen der EU und Russland noch für Russland selbst von Nachteil sein. Denn wenn Russland, beispielsweise, als Energielieferant bereits zu Kalten-Kriegs-Zeiten ein verlässlicher Partner war und dies, wie seine Freunde immer behaupten, auch in Zukunft bleiben wird, dann wird eine „irreversible Verflechtung“ für eine gedeihliche Zusammenarbeit auch nicht notwendig sein. Ganz abgesehen davon ist es auch denkbar, dass der Kontrast zwischen Atlantikern und Eurasiern allzu stilisiert ist und in Wirklichkeit die Gemeinsamkeiten der Berliner Entscheidungsträger viel größer sind. Wenn dieser denkbar glücklichste Fall einträfe und sich die außenpolitische Ziellinie irgendwo zwischen Atlantikern und Eurasiern zu einem außenpolitischen Konsens verdichten würde, würde nicht nur die Chance wachsen, die EU-Europäer für eine solche Linie zu gewinnen, sondern auch Russland in die gewünschte Richtung zu lenken – zumindest solange die historische Lehre gilt, dass in einer längeren Perspektive zumeist „Deutschland für die russische Entwicklung wichtiger gewesen (ist) als umgekehrt“.17
1 Vgl. Rainer Baumann: Der Wandel des deutschen Multilateralismus. Eine diskursanalytische Untersuchung deutscher Außenpolitik, Baden-Baden 2006, S. 138–144. 2 Gerhard Schröder (SPD), Plenarprotokolle des Deutschen Bundestags, Debatte vom 24.2.1999 (14. Wahlperiode, 21. Sitzung), S. 1525 (Hervorhebung G.H.). 3 Vgl. Gunther Hellmann: Wider die machtpolitische Resozialisierung der deutschen Außenpolitik, WeltTrends 42, 2004, S. 79–88 sowie die in den nachfolgenden Heften 43–47 daran anknüpfende „Debatte ‚Großmächtiges Deutschland‘“. 4 Vgl. zu dieser auf den Staat bezogenen Formulierung Friedrich Meineckes die Diskussion über eine „wohlverstandene Staatsräson“ bei Hans-Peter Schwarz: Republik ohne Kompass. Berlins Außenpolitik ist orientierungslos: Eine Positionsbestimmung deutscher Interessen tut not, Internationale Politik (IP), Januar 2005, S. 46–53. 5 Zit. nach Timothy Garton Ash: Im Namen Europas. Deutschland und der geteilte Kontinent, -München, Wien 1993, S. 565–566. 6 Vgl. Jürgen Habermas: Ist die Herausbildung einer europäischen Identität nötig, und ist sie möglich?, in: ders.: Der gespaltene Westen, Kleine politische Schriften X, Frankfurt 2004, S. 68–82 sowie Ulrich Beck und Edgar Grande: Das kosmopolitische Europa, Frankfurt 2004. 7 Vgl. Gunther Hellmann: Lamed Power: Germany and European Integration, in: ders. (Hrsg.): Germany’s EU Policy on Asylum and Defence. De-Europeanization by Default? Houndmills, Basingstoke 2006, S. 156–184 sowie Hellmann: „... um diesen deutschen Weg zu Ende gehen zu können“. Die Renaissance machtpolitischer Selbstbehauptung in der zweiten Amtszeit der Regierung Schröder-Fischer, in: Christoph Egle und Reimut Zohlnhöfer (Hrsg.): Ende des rot-grünen Projekts. Eine Bilanz der Regierung Schröder 2002–2005, Wiesbaden 2007, S. 453–479. 8 Christian Hacke: Mehr Bismarck, weniger Habermas. Ein neuer Realismus in der deutschen Außenpolitik?, IP, Juni 2006, S. 68–76. 9 Hans-Peter Schwarz: Die Zentralmacht Europas. Deutschlands Rückkehr auf die Weltbühne, Berlin 1994; vgl. ferner Rainer Baumann: Deutschland als Europas Zentralmacht, in: Siegmar Schmidt, Gunther Hellmann und Reinhard Wolf (Hrsg.): Handbuch zur deutschen Außenpolitik, Wiesbaden 2007, S. 62–72. 10 Vgl. hierzu die Probleme im Zusammenhang mit der Finanzierung des Pipeline-Deals, die sich aus dem Widerstand einiger EU-Finanzminister gegen einen Kredit der Europäischen Investitionsbank ergaben: „Finanzierung der Ostsee-Pipeline umstritten“, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 9.2.2007, S. 14. 11 Zum Konzept der Europäisierung von Außenpolitik in der EU vgl. Reuben Wong: The Europeanization of Foreign Policy, in: Christopher Hill und Michael Smith (Hrsg.): International Relations and the European Union, Oxford 2005, S. 134–153. 12 Zit. nach Ralf Beste: Operation Ost, Der Spiegel, 4.9.2006, S. 32. 13 Vgl. die entspannungspolitische Grundsatzrede von Außenminister Willy Brandt vor dem Europarat am 24.1.1967, zitiert nach: Auswärtiges Amt (Hrsg.): Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Dokumente von 1949–1994, Bonn 1995, S. 306. 14 Vgl. hierzu die konzeptionellen Überlegungen des AA-Planungsstabs zur „Anbindung“ bzw. „Einbindung“ Russlands Mitte der 1990er Jahre, zit. nach Claus Gennrich: Vom Verhalten Moskaus soll es abhängen, ob und wieweit es sich selbst isoliert, FAZ, 9.7.1994, S. 3. 15 Vgl. Anm.12. 16 „Der deutsche Zeigefinger sollte nicht so groß sein“, Interview mit Gerhard Schröder, Süddeutsche Zeitung, 27.10.2006. 17 Angela Stent: Russland, in: Schmidt/Hellmann/Wolf (Anm. 9), S. 438.
Internationale Politik 3, März 2007, S. 20 - 29.
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