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01. Sep 2002

Der „deutsche Weg“

Eine außenpolitische Gratwanderung

Ein über alle Parteigrenzen hinweg gemeinsames Ziel deutscher Außenpolitik ist die Zivilisierung der internationalen Beziehungen. Machtbewusste Zielstrebigkeit auf der einen Seite und bescheidene Zurückhaltung auf der anderen markieren dabei zwei Abgründe, auf deren Grat deutsche Außenpolitik Standfestigkeit beweisen muss.

Die Kontinuität der Kontinuitätsrhetorik war bis weit in die Amtszeit der Regierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder hinein das herausragende Kennzeichen des außenpolitischen Diskurses in Deutschland. Mochte sich die Welt auch noch so sehr ändern, die Grundfeste deutscher Außenpolitik – die Orientierung am Multilateralismus im Kontext von EU und NATO – schienen davon unberührt. Was sich an unübersehbaren Veränderungen spätestens seit Mitte der neunziger Jahre abzeichnete (Stichwort Bundeswehreinsätze), wurde als nachgeordnete „Anpassung“ unter die vorherrschenden Kontinuitätsbeschreibungen assimiliert.

Spätestens mit dem Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan nach den Terroranschlägen des 11. Septembers 2001 hat sich jedoch auch der Diskurs verändert. Für Bundeskanzler Schröder wie auch für seinen Herausforderer Edmund Stoiber bei der Bundestagswahl am 22. September 2002hat sich Deutschlands Rolle in der Welt „grundlegend“ verändert. Auch wenn die Wahlkampfrhetorik eines „deutschen Weges“ (Schröder)übertrieben erscheinen mag, so enthält sie doch einen wahren Kern. Die nachfolgenden Thesen skizzieren, wie sich deutsche Außenpolitik seit der Vereinigung verändert hat, warum der außenpolitische Kompass neu justiert werden muss und wie ein „deutscher Weg“ aussehen könnte, der die anstehende Gratwanderung meistert.

Der beträchtliche Zugewinn an Macht und Sicherheit haben die deutsche Außenpolitik verändert. Die beiden zentralen Ziele früherer Politik – unmittelbar die Sicherung der Existenz unter den Bedingungen des Ost-West-Konflikts, mittelbar die Vereinigung der beiden deutschen Staaten – waren aus eigener Kraft nicht zu erreichen. Die Bundesrepublik war in hohem Maße sicherheitspolitisch abhängig und auch in politisch-rechtlicher Hinsicht nur eingeschränkt souverän. Nach der Vereinigung und dem Wegfall des Ost-West-Konflikts blieben zwar die wichtigsten Vehikel deutscher Selbstbehauptung, die EG/EU und die NATO, bestehen, ihre Funktion aber hatte sich gewandelt; „Stabilitätsexport“ verdrängte Wohlstands- und Überlebenssicherung. Deutsche Außenpolitik konnte erstmals gestaltend agieren statt lediglich auf Vorgaben anderer zu reagieren. Nicht die Neuausrichtung deutscher Außenpolitik überraschte, sondern wie lange sie unter dem Signum der Kontinuität firmierte.

Die Rede von der Kontinuität deutscher Außenpolitik erschien überzeugend, weil die rhetorische Begleitmusik zur Legitimierung ihrer Neuausrichtung im bewährten Vokabular der Bonner Republik intoniert wurde. „Verantwortung“ avancierte somit zum Schlüsselbegriff einer als notwendig erachteten „Neupositionierung Deutschlands in der internationalen Staatengemeinschaft“ (Schröder).Ein kurzer Blick auf zwei typische Verwendungsweisen Anfang der neunziger Jahre und zehn Jahre später verdeutlicht dies:

1991 umschrieb Außenminister Hans-Dietrich Genscher das „gewachsene Gewicht“ Deutschlands noch in bewusster Abgrenzung zur „Machtpolitik von gestern“ als „Auftrag zu größerer Verantwortung für Freiheit, Demokratie und Menschenwürde in einem europäischen Deutschland, das das nationalstaatliche Denken der Vergangenheit hinter sich gelassen hat“.1 Das Konzept der Zivilmacht brachte diese Sichtweise einer besonderen, weitgehend nichtmilitärischen deutschen Verantwortung dann treffend auf den Punkt.2

Neues Selbstverständnis

Wie sehr sich die Konnotationen von „Verantwortung“ seither verändert haben, zeigt die Forderung von Schröder vom vergangenen Jahr nach einem „neuen Selbstverständnis deutscher Außenpolitik“. In einer Regierungserklärung nach den Terroranschlägen des 11. Septembers reduzierte der Kanzler die Außenpolitik, für die Genscher wie kein anderer stand, auf „sekundäre Hilfsleistungen“: „Diese Etappe deutscher Nachkriegspolitik ist unwiderbringlich vorbei.“ Deutschland müsse seiner „neuen Verantwortung … umfassend gerecht“ werden, wozu er vor allem die Notwendigkeit rechnete, „den militärischen Aspekt zu enttabuisieren“3 – kurz: es müsse eine Politik betreiben, die einer „großen Macht“ entspreche.4 Der Teufel einer drohenden „Militarisierung deutscher Außenpolitik“, den SPD und Grüne nach der Vereinigung an die Wand malten, hatte mit der „neuen Verantwortung“ ein Engelsgewand angelegt. Nichts zeigt deutlicher, welch lange Wegstrecke die deutsche Außenpolitik seit 1990 zurückgelegt hat.

Der Begriff der „Militarisierung“ hätte jedoch nur dann eine gewisse Berechtigung zur Charakterisierung neuer deutscher Außenpolitik, wenn er die systematische Einbeziehung militärischer Instrumente zur Erreichung außenpolitischer Ziele beschriebe und nicht (wie er normalerweise verstanden wird) die Unterordnung der Außenpolitik unter das Diktat des Militärs. Davon ist die deutsche Außenpolitik weit entfernt. Bis in das rot-grüne Regierungslager hinein wird nicht die Militarisierung deutscher Außenpolitik als das Problem gesehen, sondern die Amputierung des Militärs bei gleichzeitiger Überdehnung der verfügbaren Ressourcen. Die Bundeswehr bereitet sich nicht mehr in Manövern und Simulationen auf den unwahrscheinlichen Extremfall der Landesverteidigung vor, sondern findet sich real und weit entfernt von deutschen Grenzen im Dauereinsatz zur Stabilisierung zerbrechlicher politischer Systeme, die einen Minimalbestand von Rechtsstaatlichkeit gewährleisten sollen. Sie avancierte damit zum parteiübergreifenden Symbol einer neuen Prioritätensetzung: Stabilitätsexport und Befriedung entfernter Regionen in multinationalen Koalitionen statt Existenzsicherung im NATO-Bündnis.

Akzentverschiebung

Durch diese weit reichende Akzentverschiebung präsentiert sich eines der Schlüsselkonzepte deutscher Außenpolitik, der Multilateralismus, in neuem Licht: So wie der im Windschatten der Großmächte und in den Verhandlungsforen des Ost-West-Konflikts betriebene alte „Abnutzungsmultilateralismus“ (Timothy Garton Ash)die internationale Kehrseite der auf Existenzsicherung bedachten Außenpolitik der Bonner Republik war (Stichworte: Rüstungskontrolle, KSZE, Zwei-plus-Vier), so wird der neue Multilateralismus, der die Deutschen immer öfter als Fürsprecher des Präventionsgedankens im Zentrum fluider Ad-hoc-Koalitionen internationaler Krisendiplomatie findet, zur internationalen Kehrseite einer zwischen Führung und Zurückhaltung balancierenden neuen Berliner Außenpolitik (Stichworte: Fischer-Pläne für Kosovo und Nahost, Mazedonien, Petersberger Afghanistan-Konferenz).

Damit trägt die deutsche Außenpolitik auch einer weit reichenden Veränderung der internationalen Rahmenbedingungen Rechnung. An die Stelle einer internationalen Ordnung, die sich auf zwei Himmelsrichtungen reduzieren ließ, ist ein neues Arrangement getreten, in dem die alte Klarheit (Bipolarität) durch eine neue Unübersichtlichkeit (Uni-/Multipolarität) verdrängt wurde. An die Stelle der Rigidität und Berechenbarkeit festgefügter Blockstrukturen ist nicht jene „Weltverantwortungsgemeinschaft auf der Basis des Rechtes“ getreten, von der 1991 noch Genscher und der damalige amerikanische Präsident George Bush schwärmten. Vielmehr dominiert zunehmend die Flexibilität und Unkalkulierbarkeit fluider Arrangements.

Im Sog dieser Strukturveränderungen ändert sich auch der Charakter diplomatischer Instrumentarien. Bipolarer Multilateralismus gestaltet sich anders als uni-/multipolarer Multilateralismus. Die Bonner Republik war im alten System sozialisiert und heimisch geworden; wie kein anderer Staat hatte sie von seinen Vorzügen profitiert. Dieses System war wie geschaffen, um „das deutsche Problem“ zu lösen. Mit seiner Lösung löste sich allerdings auch die Struktur auf, in der Deutschland gut aufgehoben war. Es bleibt die Frage, ob der neue Multilateralismus mehr leisten kann als das, was eine moderne Variante bismarckscher diplomatischer Kunst in einer uni-/multipolaren Welt zu bewegen vermag – die Frage, ob er auch unter den neuen Bedingungen internationaler Herrschaft jene strukturellen Integrationsleistungen erbringen kann, die jenseits bloßer Ad-hoc-Kooperation neue Strukturen wechselseitiger Erwartungsverlässlichkeit schaffen.

Auf den ersten Blick scheinen die Voraussetzungen nicht schlecht. Die beiden Kerninstitutionen der Bonner Außenpolitik, die NATO und die EU als Zusammenschlüsse von reifen Demokratien, scheinen jene erforderliche Kraft zur Anpassung an die neuen Rahmenbedingungen zu besitzen, die vergleichbaren Institutionen in früheren Zeiten fehlte. Nimmt man Beitrittsanträge und internationale Mandate als Attraktivitätsausweise, führen NATO und EU noch vor den Vereinten Nationen die Rangliste multilateraler Ordnungsinstrumente an. Aus deutscher Sicht kommt hinzu, dass heute unauffällige Normalität ist, was noch Ende der achtziger Jahre unvorstellbar schien: das vereinigte Deutschland ist fest in beiden Institutionen verankert, und es gibt niemanden, der sich etwas anderes wünscht oder auch nur vorzustellen vermag.

Bedeutungswandel der NATO

Ein zweiter Blick stimmt allerdings nachdenklich. Die Flexibilisierung zwischenstaatlicher Bindungen, die sich etwa in der neueren Vertragspolitik der Vereinigten Staaten und Russlands im Bereich der Rüstungskontrolle widerspiegelt, hat spätestens nach dem 11. September 2001 auch die NATO erfasst. Die ohne lange Diskussionen vorgenommene Ausweitung des Kandidatenkreises für die nächste Erweiterungsrunde ist ein Beleg für die wachsende Bedeutungslosigkeit und nicht für die anhaltende Vitalität des westlichen Bündnisses. Hinter vorgehaltener Hand beschreiben deutsche Diplomaten die NATO bereits als einen lockeren Rahmen zur flexiblen Koordinierung weltweiter militärischer Aktionen, die Mitglieder wie Nichtmitglieder (Russland) einschließt.

Auch wenn diese Reduzierung der NATO auf eine „OSZE mit militärischem Apparat“ in Berlin bedauert werden mag, erscheint sie doch angesichts der neuen Prioritätensetzung in der amerikanischen Außenpolitik als unausweichlich. Die auf Europa fixierte wechselseitige Verteidigungsgarantie mutet in Washington zunehmend anachronistisch an. Auch für die alte Funktion der NATO als Rückversicherung gegenüber verbliebenen Restängsten vor einem dominierenden Deutschland bringen die USA immer weniger Verständnis auf.

Mit der Herabstufung Europas auf der außenpolitischen Prioritätenliste Washingtons bricht jedoch das Fundament einer der beiden Säulen früherer deutscher Außenpolitik weg: Die USA, die nicht nur als Taufpate der Bonner Republik, sondern auch als Trauzeuge der deutschen Vereinigung fungierten, überlassen die Europäer im Allgemeinen und die Deutschen im Besonderen ihrem Schicksal. Verschärfend kommt hinzu, dass sie immer mehr den paradigmatischen Gegenpol dessen markieren, wofür Deutschland in den internationalen Beziehungen stehen will.

Während die Ereignisse des 11. Septembers die immer schon vorhandene Präferenz der Weltmacht USA für ein Maximum an Bewegungsfreiheit in der internationalen Politik deutlich verstärkten, haben sie die politische Elite in Deutschland im ersten Moment zwar verunsichert, insgesamt aber die deutsche Präferenz für eine Zivilisierung (sprich: Verregelung) der internationalen Beziehungen nicht nachhaltig geschwächt. Die beiden wichtigsten Mitglieder der NATO marschieren damit in zentralen Fragen der internationalen Politik entschiedener denn je in entgegengesetzte Richtungen (Stichwort: Internationaler Strafgerichtshof).

All dies muss nicht bedeuten, dass sie unweigerlich auf Kollisionskurs geraten. Ein gedeihliches Auskommen erfordert jedoch ein Maß an wechselseitiger Rücksichtnahme, das beiden Seiten immer schwerer fällt. Im günstigen Fall wird es zwischen einem wesentlich über die EU agierenden Deutschland auf der einen und den USA auf der andern Seite zu Kompromissen kommen, die angesichts des gebündelten transatlantischen Machtpotenzials jene ordnungsstiftenden Leistungen durchaus erbringen können, auf die die internationale Gemeinschaft angewiesen bleibt. Im ungünstigen Fall drohen Entfremdung oder gar zunehmende Rivalität, die mit einem Verlust an internationaler Stabilität teuer bezahlt werden könnten.

In beiden Fällen aber bedarf es der Rekonstruktion einer der beiden tragenden Säulen deutscher Außenpolitik – und dies möglicherweise an einem neuen Ort, da das alte Fundament immer weniger tragfähig erscheint. Die neuen Codewörter aus Berlin („uneingeschränkte Solidarität“, „Absage an Abenteuer“ und „deutscher Weg“) markieren dabei bislang nicht mehr als ein weitgehend unbeschriebenes Terrain der neuen Unverbindlichkeit.

Die andere traditionelle Säule deutscher Außenpolitik, die Europäische Union und, eng damit verbunden, die deutsch-französische Partnerschaft, ist bereits seit der deutschen Vereinigung eine Dauerbaustelle. Auf Grund der „OSZE-isierung“ der NATO dominiert sie immer mehr das Bild. Ein großer Teil der zusätzlichen Lasten, die sie heute zu tragen hat, war früher auf zwei annähernd gleichstarke (wenn auch aus unterschiedlichen Materialien bestehende) transatlantische und europäische Säulen verteilt.

Der Faktor Europa

Während der Euro und die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU (GASP) noch als Produkt einer evolutionären institutionellen Entwicklung der Gemeinschaft erscheinen mochten, spiegelte sich bereits in der Einführung der Gemeinsamen Sicherheitspolitik nach dem Kosovo-Krieg der Schock eines brüchig gewordenen transatlantischen Fundaments. Die Terroranschläge vom September 2001 haben nicht nur den transatlantischen Zusammenhalt weiter geschwächt, sondern auch das Bewusstsein einer gemeinsamen Bedrohung aller EU-Mitglieder geschärft. Das unkoordinierte außenpolitische Vorgehen der Europäer wirkt im Nachhinein eher wie das letzte Zucken nationaler Instinkte denn als Abgesang auf die GASP.

In den kommenden Jahren könnte dem Terrorismus für die EU eine vergleichbare identitätsstiftende Rolle zukommen, wie sie dem Krieg bei der Herausbildung moderner Nationalstaaten im 17. und 18. Jahrhundert zukam. Zudem hat die sukzessive administrative Umsetzung des Mitgliedschaftsversprechens gegenüber den östlichen Nachbarn mit jedem Schritt die Tiefe des Einschnitts dieser größten aller bisherigen Erweiterungsrunde verdeutlicht.

Weil die Deutschen auch heute am meisten von diesen Veränderungen profitieren (und nach der Entwertung der NATO mit am stärksten unter ihrem Scheitern zu leiden hätten), erwarten die europäischen Nachbarn, dass sie wie früher einen überproportionalen Teil der alten wie der neuen finanziellen Lasten tragen. Die zunehmenden internen Probleme in Deutschland (Arbeitslosigkeit, Haushaltsdefizit usw.), die größere Macht und das gewachsene außenpolitische Selbstbewusstsein summieren sich allerdings zu einem explosiven realpolitischen Gemisch, das sich hier und da bereits entlud (Beispiel: Verhinderung des „Blauen Briefes“ durch Schröder).

Sollte die Versuchung wachsen, die neue Macht zum eigenen Vorteil auszuspielen (Stichwort: Begrenzung der „Nettozahlerrolle“), könnte dies nicht nur den Erweiterungsprozess und die institutionellen Reformen der Europäischen Union bremsen, sondern auch tragende bilaterale Beziehungen unterminieren (Stichwort: Frankreich und die Gemeinsame Agrarpolitik).

„Zentralmacht“ Deutschland

Im Um- und Ausbau der EU bündeln sich insofern die wichtigsten Interessen und die größten Herausforderungen deutscher Außenpolitik. Im deutschen Interesse sollte es liegen, parallel zur Stärkung des Fundaments der EU (Verfassung) und der Reform ihrer Institutionen den Erweiterungsprozess erfolgreich abzuschließen, damit die Teilung Europas endgültig überwunden wird, die Statusunterschiede zwischen Deutschlands östlichen und westlichen Nachbarn verschwinden und Deutschland damit rundum in ein die einzelnen Nationalstaaten überwölbendes Netzwerk gemeinsamen Regierens eingebunden ist. Damit würde für Deutschland ein bislang ungekanntes Maß an Sicherheit einhergehen.

Da die Nationalstaaten in der EU aber nicht verschwinden, wird durch diese Entwicklung auch die „Zentralmacht“-Rolle Deutschlands (Hans-Peter Schwarz)akzentuiert – und dies umso mehr, je stärker die NATO-Säule wankt. Damit könnte sich aus deutscher Sicht auch der Charakter der Europäischen Union verändern: aus dem Vehikel der Resozialisierung, der Einbindung und Wohlstandsmehrung würde weniger die liberale Sicherheitsgemeinschaft postsouveräner Nationalstaaten, wie sie sich etwa Karl Deutsch vorstellte, sondern immer stärker ein Herrschaftsinstrument, das einem modernen imperialen System ähnelt, bestehend aus einem vergleichsweise starken Zentrum (hier markiert durch die EU in Brüssel sowie die führenden EU-Kernstaaten) und kreisförmig daran angelagerten, nach Mitsprache bzw. Abhängigkeit abgestuften Zonen der Ein- oder Anbindung. Unabhängig davon, welches dieser beiden Szenarien näher an der Realität ist, wird die Rolle Deutschlands eine andere sein als früher. Damit aber wachsen die Anforderungen an die deutschen Führungsfähigkeiten.

Der Jargon eines normalisierten außenpolitischen Selbstbewusstseins verstellt den Blick darauf, wie sehr sich die Neuausrichtung deutscher Außenpolitik nach wie vor an beiden Rollenmodellen, dem Modell der Zivilmacht wie der Großmacht, orientiert und orientieren muss. Wenn Macht als die Fähigkeit verstanden wird, eigene Ziele zu erreichen, ist Deutschland heute zweifelsohne mächtiger als vor 15 Jahren. Dies hat allerdings mindestens genauso viel mit der veränderten außenpolitischen Situation und den veränderten deutschen Zielen zu tun wie mit gewachsenen materiellen und immateriellen Machtressourcen.

Deutschland befindet sich heute im Zentrum eines zusammenwachsenden Europas und nicht mehr an der explosiven weltpolitischen Trennlinie zwischen Ost und West. Es ist größer, wenn auch nicht reicher geworden. Es hat das immense außenpolitische Vertrauenskapital, das ihm die alte Bonner Republik vererbte, bislang gut eingesetzt. Mehr noch: Hitlers Kindeskinder haben in den letzten Jahren sogar moralisches Kapital hinzugewonnen. Die vermehrte Aufdeckung dunkler Kapitel in der Geschichte der Nachbarn (im Gegensatz zur weitgehend als vorbildlich angesehenen Verarbeitung der unrühmlichen deutschen Geschichte) und die zeitgleiche Entdeckung eigenen Leides in der Geschichte von Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg lassen die Deutschen erstmals in einer moralisch zumindest nicht minderwertigen Kategorie erscheinen. Kurzum, harte und weiche Machtressourcen sind gewachsen. Mehr Staaten denn je erwarten deshalb auch, dass dieses neue Deutschland führt. Es gilt als mächtiger – und schon allein deshalb ist es das auch.

Macht ist allerdings ein prekäres Gut. Wie eine alte Weisheit besagt, korrumpiert sie – und dies umso mehr, je größer sie ist. Gerade weil sich in der deutschen Geschichte Außenpolitik und große Macht selten zu einem für Deutschland und seine Nachbarn erquicklichen Ganzen verbanden, schwingt daher beim Ruf nach deutscher Führung immer auch mit, dass diese fest in der außenpolitischen Tradition der Bonner Republik, der „Kultur der Zurückhaltung“, verankert bleiben möge. Übersetzt bedeutet dies, dass Großmacht und Zivilmacht einander bedingen.

Die Herausforderung

Die Zivilisierung der internationalen Beziehungen, ein über alle Parteigrenzen hinweg konsensuales Ziel deutscher Außenpolitik, wird nicht gelingen ohne den zielstrebigen Einsatz deutscher Machtressourcen für eine Welt, die regelgeleitetes Verhalten prämiert und Regelverletzung sanktioniert und dadurch wechselseitige Erwartungsverlässlichkeit erhöht. Dieser Einsatz wird allerdings umso größere Widerstände hervorrufen, je mehr er den bewährten außenpolitischen Stil der Bonner Republik ersetzt durch „normale“ realpolitische Praktiken, wie sie bei anderen (auch westlichen) Großmächten üblich sind – etwa das Streben nach Prestige und Status (Beispiel: Versuch der Durchsetzung von Caio Koch-Weser als Geschäftsführenden Direktor des IWF), die Akzentuierung der Differenz zwischen „nationalen“ und „nichtnationalen“ Interessen (Nettozahlerrolle und EU-Agrarhaushalt) oder gar durch moralische Selbstüberhöhung (Beispiel: „deutscher Weg“).

Die neue Herausforderung deutscher Außenpolitik besteht daher in der Versöhnung von machtbewusstem und bescheidenem Verhalten. Dies kommt allerdings einer Gratwanderung gleich, weil machtbewusste Führung Hegemonialverdächtigungen und Gegenmachtbildung genauso schnell heraufbeschwören kann wie durch mangelnde Führung Stabilitätsverluste entstehen können.

Hinzu kommt, dass die Akzentuierung der einen oder anderen Seite im Alltagsgeschäft der Außenpolitik kontraproduktiv wirken kann: der vorauseilende Verzicht auf Führung könnte andere, auf ihre eigenen Vorteile bedachte Akteure dazu verleiten, mit Hegemonialverdächtigungen ihre „nationalen“ auf Kosten deutscher Interessen zu befördern. Umgekehrt könnte die machtbewusste Verfolgung deutscher Interessen jene anti-deutschen Koalitionen heraufbeschwören, die in ähnlich gelagerten früheren Fällen zum gängigen Reaktionsmuster gegen (tatsächliches oder vermeintliches) deutsches Vormachtstreben zählten.

Bescheidene Zurückhaltung auf der einen Seite und machtbewusste Zielstrebigkeit auf der anderen markieren daher zwei Abgründe, auf deren Grat deutsche Außenpolitik Standfestigkeit beweisen muss, wenn sie auf Dauer erfolgreich und auch glaubwürdig sein will.

Anmerkungen

1  Rede von Außenminister Genscher vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York am 25.9.1991, in: Bulletin, Nr. 104 (26.9.1991), S. 825 und 826; gekürzt auch abgedruckt in:Europa-Archiv (EA), 9/1992, S. D 345 ff.

2  Vgl. u.a. Hanns W. Maull, Zivilmacht Bundesrepublik Deutschland. Vierzehn Thesen für eine neue deutsche Außenpolitik, in: EA, 10/1992, S. 269–278.

3  Regierungserklärung von Bundeskanzler Schröder vor dem Deutschen Bundestag am 11.10.2001, <http://www.bundesregierung.de/emagazine_entw,-59425/Regierungserklaerun…;, auszugsweise abgedruckt in: Internationale Politik, 12/2001, S. 114 ff., sowie Gemeinsame Pressekonferenz von Schröder und Außenminister Fischer vom 11.6.2002, <http://www.bundesrgierung.de/dokumente/Artikel/ix_84018.htm&gt;.

4  Vgl. Gerhard Schröder, Eine Außenpolitik des „Dritten Weges“? in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Nr. 7–8 /1999, S. 392–396.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 9, September 2002, S. 1 - 8.

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