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01. Mai 2004

Deutsche Talfahrt

Endlich wird die Krise des Landes in der Öffentlichkeit diskutiert

Zunehmende Arbeitslosigkeit, hohe Lohnnebenkosten, steigende Insolvenzen, Alarmmeldungen
aus den Bereichen Bildung und Rentensystem – Wirtschaft und Gesellschaft in Deutschland
scheinen sich auf Talfahrt zu befinden. Jenseits aller Katastrophenrhetorik steht es schlecht um
das Land, ist seine Lage zweifellos bitterernst. Die Zahl der Publikationen, die sich mit der ökonomischen
Strukturkrise und dem gesellschaftlichen Abstieg befassen, nimmt ständig zu. Jürgen
Turek stellt fünf Neuerscheinungen vor, die aus unterschiedlicher Perspektive den Ursachen der
Krise nachspüren und nach den Chancen für einen Neuanfang fragen.

Die Fakten: Die Arbeitslosigkeit in Deutschland liegt bei
4,5 Millionen, die stille Reserve eingerechnet eher bei
fünf bis sechs Millionen; Tendenz: beharrlich. Die
Schwarzarbeit hat mit circa 17 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts den höchsten Stand seit dem Bestehen
der Bundesrepublik erreicht; Tendenz: steigend. Die
Lohnnebenkosten auf hohem Niveau; Tendenz: beharrlich.
Börsengänge deutscher Unternehmen
rückläufig; Tendenz: gegen Null. Die Zahl der
Insolvenzen stieg im Jahr 2002 um zehn Prozent, was wohl nicht
nur auf den Bereinigungseffekt der neuen Insolvenzordnung
zurückzuführen ist; Tendenz: verhalten.

So könnte man weiter aufzählen, und man
könnte zusätzliche Zahlen anführen und dies mit
Daten aus den Bereichen Bildung und Rentensystem kombinieren.
Dies tut inzwischen eine steigende Zahl deutscher Publizisten
und Experten. Angesichts der Misere kann man wenigstens sagen:
Deutschlands Krise ist nun endgültig in den Köpfen
angekommen. Auch wenn etwa Eckhard Fuhr kürzlich nebenbei
meinte, dass man einen
„Radikalitätskonformismus“ der deutschen
Reformdebatte monieren müsse, so ist die Lage jenseits
mancher gallig gefärbten Katastrophenrhetorik zweifelsohne
bitterernst. Dieser Erkenntnis kann man sich angesichts der
Talfahrten in Wirtschaft und Gesellschaft wahrlich nicht
verschließen, und deshalb weisen in zunehmendem
Maße auch viele ernst zu nehmende Stimmen zu Recht darauf
hin. Seitdem Meinhard Miegel seinen Bestseller über die
deformierte Gesellschaft der deutschen politischen Kaste um die
Ohren gehauen hat, mehren sich die Publikationen über den
Patienten Deutschland. Jetzt legt mit einer ebenfalls
gnadenlosen, aber mindestens ebenso klugen wie kenntnisreichen
Analyse der Spiegel-Redakteur Garbor Steingart nach.

„Deutschland. Abstieg eines Superstars“ titelt
er, wohl mit süffisanter Anspielung auf die leicht
dekadent anmutende Fernsehshow der Bohlen, Küblböck
& Co., die massenmedial ein Renner, von der Substanz und
Inszenierung aber eher ein Abstieg in die Niveaulosigkeit war.
Im Grunde geht es Steingart und anderen nicht nur darum,
eklatante wirtschaftliche Fehlentwicklungen, sondern auch einen
durch rheinländische Kapellenmusik begleiteten Abmarsch in
gesellschaftliche Zweit- und Drittklassigkeiten in Deutschland
aufzuzeigen und hier energisch auf Abhilfe zu drängen.

Im Lande spielt die Krise des Sozialstaats verbunden mit
Schlagworten wie demographische Zeitbombe, Globalisierung,
Kollaps des Arbeitsmarkts, Überregulierung der
Sozialsysteme und Sozialmissbrauch mittlerweile eine
Schlüsselrolle. Für Steingart ist dies aber eher
verwunderlich, zeichneten sich die Vorboten des sozialen
„Crashs“ doch bereits seit vielen Jahren
bemerkenswert erkennbar ab. So verortet er die Ursprünge
des Niedergangs bereits in der Sozialpolitik Konrad Adenauers,
die etwa darauf setzte, das umlagenfinanzierte Rentensystem
einem kapitalgedeckten System vorzuziehen das die gut
verdienenden Selbstständigen aber von Anfang an nicht mit
einbezog. Der „Alte“ hatte eben nicht Recht damit,
wenn er meinte, Kinder bekämen die Leute sowieso. Die
Ursachen der Krise wurzeln somit tief in der
Nachkriegsgeschichte. Der Wohlfahrtsstaat sei in Wirklichkeit
von Christ- und Sozialdemokraten falsch konstruiert und dann in
der Folge auch von den nachfolgenden Regierungen in seiner Form
nicht wirklich korrigiert worden. So tappte Deutschland, sozial
üppig formatiert, geradewegs und sehenden Auges in die
Globalisierungsfalle, in der das mit der Einheit und
verkrusteten Strukturen doppelt belastete Land heute tiefer
gefangen sei denn je. Bereits seit den siebziger Jahren habe
sich der Arbeitsmarkt verkleinert und das Kapital seine
Fließrichtung erkennbar in Richtung eines globalen
Niveaus verändert. Seitdem hätten sich die Daten
immer weiter verschlechtert: steigende Sockelarbeitslosigkeit,
steigende Staatsverschuldung und dazu schwächere
Wachstumsraten. Doch das Land sei zu einem energischen Umlenken
nicht in der Lage gewesen; mit der deutschen Einheit habe sich
dann der Erosionsprozess enorm beschleunigt. Steingarts Fazit
angesichts dieser desolaten Situation: Ein Wiederaufstieg sei
denkbar, aber nur als Neustart, der vielen vieles abverlangen
wird.

Das ist der Kern der Botschaft. Heißt das jetzt: alter
Kanzler raus, neuer Kanzler rein? Nein. Das reine Auswechseln
von politischem Personal würde allein nichts bringen. Im
Zentrum einer Trendumkehr stünden vielmehr die Begriffe
Führung, Arbeit und Eigentum; das Ziel sei die
Modernisierung der Volkswirtschaft, das Ingangsetzen von
Wachstumsprozessen unter den Bedingungen der Globalisierung,
die Weiterentwicklung des Sozialstaats und nicht seine
Beseitigung. Kernelemente seien hier etwa eine Änderung
der föderalistischen Strukturen, um die zwischen Bund und
Ländern parzellierte Macht wieder zusammenzuführen,
die Einführung des Mehrheitswahlrechts, die Entkoppelung
von Arbeit und Sozialstaat und die Einführung der
steuerlichen Abzugsfähigkeit von familiär
organisierten Dienstleistungen. Und schließlich, hier
wird der Autor ganz deutlich: Eine Abschaffung der
Sozialbeiträge, die die Arbeitnehmer in die Lage versetze,
bei der privaten Altersversorgung aufzustocken, sei angesichts
der Schrumpfungs- und Alterungsprozesse in Deutschland
unabwendbar. Zusammen mit einer großen Steuerreform, die
alle Subventionen streiche und etwa in drei Stufen Arbeit und
Vermögen erfasse, sei der Kraftakt eines nachhaltigen
Wandels in Deutschland zu schaffen.

Steingart denkt nicht nur radikal, sondern mindestens ebenso
konsequent. Der in Deutschland durch die derzeitige Situation
arg frustrierte Leser erhält so eine kohärente,
brillant formulierte Analyse, in der Deutschlands Zukunft trotz
aller Anstrengung als mögliche und vor allem politisch
machbare Gestaltungsleistung erkennbar wird.

Und dieser Eindruck wird durch eine weitere, gedanklich
wunderbar klar aufgestellte Publikation verstärkt. Mit
ihrem „Reformprojekt D“ haben die Darmstädter
Finanz- und Wirtschaftswissenschaftler Kilian Bizer und Werner
Sesselmeier eine ebenso kenntnisreiche wie überzeugende
Analyse vorgelegt, die Steingarts Befunde ergänzt, sich
aber noch auf zusätzliche gesellschaftliche Aspekte
kapriziert. Die beiden nehmen die strukturellen Probleme und
Ansatzpunkte für Reformen in fünf zentralen
Politikfeldern unter die Lupe: Arbeitsmarkt, Bildung, Familie,
Soziales und Steuer. Gleich zu Beginn bringen sie eine der
wichtigsten Herausforderungen auf den Punkt: Es gehe eben nicht
darum, nur punktuell etwa in der Arbeitsmarkt-, der
Zuwanderungs- oder der Steuerpolitik zu reagieren, sondern eine
Perspektive zu eröffnen, mit der die Reformen aus den
einzelnen Politikfeldern zu einer Strategie verdichtet
werden.

Ihr anschaulich aufbereiteter Befund lautet: Die vier
Säulen des Wohlfahrtsstaats –
Normalarbeitsverhältnis, Ein-Verdiener-Familie,
Lebensstandardsicherung, Vollbeschäftigung – wanken
angesichts veränderter Voraussetzungen wie Globalisierung,
dienstleistungsorientiertem Strukturwandel, Schrumpfung und
Alterung der Bevölkerung, Wandel der Erwerbstätigkeit
sowie Heterogenisierung der Lebensstile.

Vor diesem Hintergrund entwickelt das Autoren-Duo die
zentralen Reformziele: wirtschaftliches Wachstum und
Vollbeschäftigung. Sie werden flankiert von der
Maßgabe, das soziale Netz an die veränderten
Voraussetzungen anzupassen, um es in seinen Grundfunktionen zu
erhalten und gleichzeitig das Wachstums- und
Beschäftigungsziel zu erreichen.

Die Arbeitsmarktpolitik nimmt in diesem Konzept eine
Schlüsselstellung ein, weil sie als Teil einer
Gesamtstrategie für ein höheres
Beschäftigungsniveau und gleichzeitig für eine
geringere Last in den sozialen Sicherungssystemen sorgen
könne. Eng verbunden damit sei die Familienpolitik, indem
sie Familien eine bessere Vereinbarkeit von Kindererziehung und
Beruf ermögliche. Es folgt auch hier die Forderung nach
der Entflechtung von Arbeit und Sozialem. Das Steuersystem
müsse schließlich so gestaltet werden, dass es
Investitionen nicht verdränge, Arbeitsanreize nicht
verloren gingen und gleichzeitig die Steuern so weit wie
möglich vereinfacht würden, um ein transparentes und
damit wachstums- und beschäftigungsförderndes
Steuersystem zu schaffen. Darüber hinaus sei auch die
Bildungspolitik in besonderer Weise herausgefordert, die bisher
viel zu wenig auf die Anforderungen des Arbeitsmarkts und die
Herausforderungen des technischen Fortschritts ausgerichtet
sei. Last but not least gerät auch der deutsche
Föderalismus mit seinen Blockademöglichkeiten im
Gesetzgebungsprozess ins Visier.

In diesem Zusammenhang werden dann einzelne Schritte zur
Genesung des Patienten Deutschland im Detail entwickelt, wobei
in realistischer Weise zwischen kurz-, mittel- und
langfristigen Schritten unterschieden wird. So steht etwa in
der Steuerpolitik kurzfristig eine Steuervereinfachung auf dem
Programm, langfristig eine Veränderung der
Steuerstrukturpolitik von den direkten hin zu den indirekten
Steuern. Oder die Entflechtung von Bundes- und Landesebene, die
kurzfristig durch die Einschränkung der Zustimmungspflicht
des Bundesrats und langfristig durch eine Verringerung der
Ausgleichsfunktion des Länderfinanzausgleichs und des
kommunalen Finanzausgleichs erzielt werden soll, wobei
Letzteres das wettbewerbliche Element des Föderalismus
stärken soll.

So entwickeln die Autoren Maßnahme für
Maßnahme in ihrem „Reformprojekt D“.
Besonders deutlich wird dabei zum einen, dass einzelne
„Reförmchen“ die Probleme nicht lösen
werden und dass nur eine konzertierte sozioökonomische
Aktion zum Erfolg verhelfen kann. Zum anderen aber, und das
drücken Bizer und Sesselmeier auch klar und deutlich aus,
kann eine Regierung die notwendige Reform kaum in ein einzelnes
Reformpaket packen und verabschieden. Es müsse vielmehr
darum gehen, eine Gesamtstrategie zu entwickeln, welche die
Richtung vorgebe, die dann über einzelne Reformschritte zu
verfolgen sei.

Interessant an den hier vorgestellten, aber auch schon an
früher vorgelegten Publikationen von Meinhard Miegel
über Bert Rürup bis zu Hans-Werner Sinn ist, dass
hier, also auf der Ebene der Publizistik und Wissenschaft,
durchaus mehr Konvergenzen des Reformdenkens im Sinne eines
Mainstreams zu erkennen sind als Divergenzen. Und hier geht es
auch nicht um einen lächerlichen, manchmal künstlich
hochgespielten Streit zwischen einem so genannten
Neoliberalismus und einer so genannten Globalisierungskritik.
Dafür ist die Lage viel zu ernst und sind die
intellektuellen Debatten viel zu seriös – selbst
wenn sie sich bei Christiansen & Co. mit Blick auf die
Spielregeln der Mediendemokratie auch allzu oft im Kreise
drehen. Im Ernst denkt doch niemand daran, die hart errungene
soziale Komponente der Marktwirtschaft grundsätzlich in
Frage zu stellen. Das bedeutet aber auch nichts Geringeres, als
dass die interdisziplinär durchaus gemischte
Intellektuellenschar nun zusammenrückt und sich
gleichzeitig zu einem verzweifelt altmodischen, dogmatischen
und von Ängsten geprägten Denken etwa bei den
Gewerkschaften, energischer als bisher abgrenzt. Da deutet sich
in der ohnehin mittlerweile in Deutschland
gesellschaftspolitisch aufgeheizten Atmosphäre ein
zunehmender intellektueller Nahkampf an, der sich alsbald
ungehemmt auf die restliche Bevölkerung übertragen
könnte.

In diesem Zusammenhang ist auch das neue Buch, „Rettet
den Kapitalismus. Wie Deutschland wieder an die Spitze
kommt“, von Christoph Keese eine Lektüre wert. Der
Chefredakteur der Financial Times Deutschland verbindet
ähnliche Überlegungen über die Fakten mit der
Forderung nach einem anderen Engagement der Bürger. Das
wird dem Einzelnen einiges abverlangen, materiell wie
mental.

Wen Strategien zu mehr Wachstum und Innovation
interessieren, der sollte den von Franz-Walter Steinmeier und
Matthias Machnig herausgegebenen Band „Made in Germany
’21“ zur Hand nehmen. Und auch Frank Schirrmachers
„Blockbuster“ zur Überalterung der
Gesellschaft nimmt kenntnisreich und pointiert eines der
brennendsten Gegenwarts- und Zukunftsprobleme in Deutschland
auf: das Altwerden und das Leben mit dem Alter. In seinen Augen
kann uns nur eine militante Revolution des Bewusstseins wieder
verjüngen. Angesichts der derzeitigen Lage ruft er zu
einem Komplott gegen biologischen und sozialen Terror der
Altersangst auf. Das mit dem Komplott mag etwas dramatisch
klingen, aber in der Substanz ist die Analyse richtig –
so sieht es jedenfalls der Rezensent, der auch nicht mehr der
Jüngste ist.

Gabor Steingart, Deutschland. Der Abstieg eines
Superstars, München/Zürich: Piper Verlag 2004,
303 S., 13,00 EUR.

Kilian Bizer/Werner Sesselmeier, Reformprojekt D. Wie
wir die Zukunft gestalten können, Darmstadt: Primus
Verlag 2004, 176 S., 16,90 EUR.

Christoph Keese, Rettet den Kapitalismus. Wie
Deutschland wieder an die Spitze kommt, Hamburg: Hoffmann
und Campe 2004, 302 S., 19,90 EUR.

Frank-Walter Steinmeier/Matthias Machnig, Made in
Germany ‘21. Innovationen für eine gerechte
Zukunft, Hamburg: Hoffmann und Campe 2004, 575 S., 14,90
EUR.

Frank Schirrmacher, Das Methusalem-Komplott,
München: Karl Blessing Verlag 2004, 217 S., 16,00
EUR.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, Mai 2004, S. 119-123

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