IP

01. Mai 2009

Deutsche Blauhelme in Nahost

Der Einsatz im Libanon: Guter Start für mehr Engagement in den UN

Es war eine historische Entscheidung, deutsche Soldaten in den Libanon zu schicken. Und es ist ein Politikum, dass die Europäer die -UNIFIL-Mission anführen. Damit hat Europa erheblich an Bedeutung gewonnen – im Nahen Osten und in den Vereinten Nationen. Was bedeutet dies für künftige Einsatzoptionen Deutschlands bei Friedensmissionen?

Der Sommerkrieg 2006 zwischen der Hisbollah und Israel erschütterte nicht nur die Region: Eine entsetzte Weltöffentlichkeit musste ohnmächtig hinnehmen, wie sich die militärische Gewaltspirale drehte, täglich zivile Ziele angegriffen wurden, sich riesige Flüchtlingsströme in Bewegung setzten und Massenevakuierungen notwendig wurden. Erst nach 34 Tagen gelang es dem UN--Sicherheitsrat, mit der grundlegenden Resolution 1701 den Krieg zu beenden.

In den mühsamen Verhandlungen spielte der besondere Konfliktcharakter eine wichtige Rolle; handelte es sich doch nicht um einen klassischen zwischenstaatlichen Krieg, sondern um einen Konflikt zwischen Israel und der Hisbollah – einer bewaffneten Miliz auf libanesischem Territorium. Oberstes Anliegen war es also nicht nur, Sicherheit für Israel und den Libanon durch eine substanziell verstärkte UN-Truppe (UNIFIL) zu schaffen, sondern auch die libanesischen Souveränitätsrechte zu stärken. In der Verhandlungskonstellation im Sicherheitsrat gab es, grob gesagt, zwei Pole: Die USA (auch Israels Interessen vertretend) drängten auf eine eindeutige Ausgestaltung eines Kapitel VII-Mandats, d.h. Ermächtigung auch zu militärischen Zwangsmaßnahmen – etwa gegen die Hisbollah. Frankreich und Russland dagegen artikulierten besonders die Interessen des Libanon und der Arabischen Liga. Sie wollten den Vereinten Nationen keinen weitgehenden militärischen Kampfauftrag zubilligen.

Heraus kam ein politischer Kompromiss: Die Resolution 1701 enthält keine ausdrückliche Kapitel VII-Ermächtigung zu militärischen Zwangsmaßnahmen, bedient sich aber typischer „Kapitel VII-Sprache“. Die Doppeldeutigkeit der Resolution war der erforderliche Preis für politischen Konsens im Sicherheitsrat. Einerseits ist die Rolle von UNIFIL darauf angelegt, vor allem Unterstützungsleistungen für die libanesische Regierung und Armee zu erbringen. Das gilt besonders für die maritime UN-Komponente unter deutscher Führung, die nur auf ausdrückliches Verlangen Beiruts wirksam werden konnte. Andererseits war eine robuste Ausgestaltung des Mandats notwendig, um den Auftrag von UNIFIL auch gegen Störer umsetzen zu können. Damit erhielten „Operationsplan“ und „Einsatzregeln“ für UNIFIL herausragende Bedeutung. Sie wurden vom UN-Sekretariat so ausgestaltet, dass die Resolution 1701 in punkto Robustheit gleichsam nachgebessert wurde. „Robust, aber nicht offensiv“ – so lautete die treffende Formel für das UNIFIL-Mandat.

Ein zentrales Problem blieb allerdings ausgeklammert: Die Entwaffnung der Hisbollah wurde nicht Kernaufgabe des UNIFIL-Mandats. Stattdessen wurde auf den innerlibanesischen Prozess und die libanesische Regierung verwiesen, in der die Hisbollah Kabinettsmitglieder stellte. Alles andere wäre für die UNIFIL-Truppensteller kaum umsetzbar gewesen (wenn sich unter diesen Umständen überhaupt Truppensteller gefunden hätten) und hätte wohl das zerbrech-liche Gebäude der libanesischen Staatlichkeit zum Einsturz gebracht. Somit musste eine wesentliche Konfliktursache vom UN-Auftrag ausgespart bleiben: ein – unvermeidliches – Defizit der Resolution.

Eine historische Einsatzentscheidung

Die Entscheidung von Bundesregierung und Bundestag, sich mit einem über 1000-köpfigen Marinekontingent als einer der großen Truppensteller an der UN-Truppe zu beteiligen, kam einem außenpolitischen Tabubruch gleich. Bis in die Sommerwochen 2006 hinein herrschte in Berlin politischer Konsens, militärischen Einsätzen in der Nähe Israels fernzubleiben. Doch sowohl Israel als auch der Libanon sowie andere arabische Nachbarn sahen in Deutschland einen glaubwürdigen Partner und wünschten dessen UNIFIL-Beteiligung. Dieser Wunsch, das strategische Interesse an einer stabilen nahöstlichen Nachbarschaft und die Bündnisraison gegenüber den EU-Partnern und den UN führten zu der historischen Einsatzentscheidung. Dabei machte die Bundesregierung von Anfang an klar, dass sich das deutsche Engagement nicht auf den Militäreinsatz beschränkte. Im Sinne eines ganzheitlichen Ansatzes von „vernetzter Sicherheit“ war das deutsche Engagement breiter angelegt. Es ruhte gleichsam auf drei Pfeilern: 1. dem Beitrag der Bundeswehr zur Stabilisierung der Sicherheitslage; 2. der humanitären Hilfe, dem zivilen Wiederaufbau und der Stärkung der libanesischen Regierung. Dabei war die deutsche Führungsrolle zur Unterstützung Beiruts bei der Überwachung seiner Grenzen, Häfen und Flughäfen von besonderer politischer Bedeutung und wurde auch international stark gewürdigt (erst als Außenminister Steinmeier mit Polizisten und Zöllnern anreiste, hob Israel die Luftblockade auf); 3. der führenden Beteiligung des deutschen Außenministers an den politisch--diplomatischen Konfliktlösungsbemühungen.

Europa und UN als Partner beim Peacekeeping

Die europäischen Staaten haben bei UNIFIL das entscheidende Gewicht. Diese europäische Führungsfunktion im Nahen Osten ist das eigentliche Politikum. Die USA kamen aus politischen Gründen als Truppensteller nicht in Frage, den großen Truppenstellern der Dritten Welt allein mangelte es an Autorität gegenüber den Konfliktparteien. Nur die Europäer konnten der UN-Mission den notwendigen politischen Nachdruck verleihen. Damit hat Europa im Nahen Osten, aber auch in den Vereinten Nationen, erheblich an Bedeutung gewonnen. Naturgemäß geht damit auch höhere politische Verantwortung einher. UNIFIL zeigt auch, dass die EU und die europäischen Staaten für die Vereinten Nationen beim Peacekeeping zunehmend zu „Partnern erster Wahl“ werden. Die UN-Missionen auf dem Balkan, insbesondere im Kosovo, sowie im Kongo sprechen eine ähnliche Sprache. Die Europäer verfügen über hochwertige militärische Fähigkeiten, die anderen UN-Truppenstellern nicht zu Gebote stehen, und sie sind politisch in vielen Konfliktregionen der Welt – anders als etwa die USA oder auch die NATO – politisch akzeptiert.

Aus europäischer Sicht ist diese Entwicklung grundsätzlich zu begrüßen, steht sie doch im Einklang mit der Europäischen Sicherheitsstrategie, die ausdrücklich den Einsatz europäischer Kapazitäten auch zur Unterstützung des UN-Peacekeeping vorsieht. Aber Vorsicht: UN-Anforderungen an die EU-Mitgliedsstaaten werden weiter steigen und sie vor schwierige Entscheidungen stellen, zumal die EU-Battle Groups seit Anfang 2007 voll einsatzfähig sind. Besonders zukunftsfähig ist das Modell des „partnership peacekeeping“ von EU und UN: begrenzte EU-Unterstützungsmissionen mit hochwertigen Fähigkeiten, die Blauhelme nicht besitzen, mit eigener Kommandostruktur und festem Zeithorizont, mithin unabhängiger Ausstiegsmöglichkeit. Gemeinsame Erfahrungen bei der Krisenbewältigung sind vorhanden (im Kongo, jetzt auch im Libanon). Noch verbesserungsbedürftig sind allerdings die Kooperationsstrukturen und die Berücksichtigung der unterschiedlichen Entscheidungskulturen von EU und UN.

Lehren aus dem UNIFIL-Einsatz

UNIFIL ist in mancher Hinsicht eine Mission sui generis. Sie besteht schon seit 1978, d.h. wichtige Strukturen waren im Sommer 2006 bereits vor Ort. Der Aufwuchs um die robusten Elemente konnte also rasch stattfinden. Zudem stand die Krise im Libanon – anders als etwa zahlreiche afrikanische Konflikte – im Mittelpunkt des internationalen Interesses. Daher kam es zu vergleichsweise raschen Mandatsentscheidungen im Sicherheitsrat. Außerdem wurde im Gegensatz zu vielen anderen Konfliktregionen die erweiterte Libanon-Mission 2006 nicht infolge eines langjährigen Bürgerkriegs eingerichtet. So kennt UNIFIL auch nicht die gesamte Bandbreite von Statebuilding-Aufgaben einer komplexen, integrierten UN-Mission.

Trotz dieser Besonderheiten erlaubt der UNIFIL-Einsatz einige Lehren für das UN-Peacekeeping allgemein und Deutschlands Rolle dabei. Mit der Libanon-Mission übernahmen die Vereinten Nationen wieder eine zentrale Rolle in einem nahöstlichen Konflikt und beim Peacekeeping in einer geostrategisch wichtigen Region. Dies kontrastiert mit den Konflikten auf dem Balkan, in Afghanistan und im Irak, wo NATO, EU und multinationale „Koalitionen der Willigen“ die erste Geige spielen. War das nahöstliche UN-Engagement früher gekennzeichnet durch politische Vermittlungstätigkeit und klassische Beobachterfunktionen des „traditionellen Peacekeeping“ (UNTSO-, UNEF-, UNDOF-Missionen), sind die UN-Entscheidungen zu Libanon geprägt von bislang nicht gekannter Eingriffstiefe: Der Sicherheitsrat verfügte den Abzug Syriens und die Entwaffnung aller Milizen, er schuf eine internationale Kommission mit weitgehenden Vollmachten zur Untersuchung des Mordes an Ex-Ministerpräsident Hariri, und auch UNIFIL wurde zu einer robusten Friedensmission ausgestaltet. Überdies betraten die UN mit der UNIFIL-Marinekomponente Neuland. Noch in keiner anderen Operation der fast 60-jährigen Geschichte des UN-Peacekeeping kam es zu einem derart starken und hochwertigen maritimen Einsatz.

Dauerhafter Frieden ist nur durch nachhaltige Friedenskonsolidierung möglich – auch als Voraussetzung des Abzugs einer militärischen Mission. UNIFIL hat gegenüber den vielschichtigen, integrierten Missionen den Vorteil, dass nicht ein kompletter Staatsaufbau zu leisten ist. Vorteilhaft wirkt sich auch das große internationale Interesse aus, was sich u.a. an den enormen Beiträgen auf den Geberkonferenzen für den Libanon zeigt. Doch die „Grundausstattung“ durch Sicherheitsratsmandate allein reicht zur Konfliktlösung im Libanon nicht aus. Die bislang erfolgreiche militärische Stabilisierung ist nicht selbsttragend; sie muss vielmehr durch einen politischen Prozess unterfüttert werden – innerlibanesisch und regional –, der die ungelösten Konfliktursachen aufgreift: Hisbollah-Entwaffnung, Territorialfrage Schebaa-Farmen, diplomatische Beziehungen und Grenzmarkierung zwischen Libanon und Syrien usw. Der UN--Generalsekretär wird in der Resolution 1701 aufgefordert, entsprechende Vorschläge zu unterbreiten. Bislang haben Kofi Annan und sein Nachfolger Ban Kimoon allerdings eher vorsichtige Zurückhaltung an den Tag gelegt.

Wie bei den meisten Friedensmissionen ist für eine dauerhafte Konfliktlösung die regionale Dimension mitentscheidend. Im Falle des Libanon ist der innerlibanesische Verständigungsprozess mit der Regionalpolitik besonders eng verknüpft. Im konfessionell-politischen Machtmosaik des Libanon stehen sich zwei Lager anti- und prosyrischer Kräfte gegenüber. Wie so oft in seiner Geschichte ist der Libanon wieder einmal zum Schauplatz regionaler Auseinandersetzungen geworden. Die wesentlichen Rollen spielen dabei Syrien, der Iran, Israel und – alarmiert durch das Erstarken der militanten Schia – die sunnitischen Staaten in der Nachbarschaft des Libanon.

Die Achillesferse der internationalen Stabilisierungsbemühungen ist ein politisch-diplomatisches Vakuum. Die deutsche EU-Präsidentschaft ist bemüht, den Nahost-Friedensprozess im Rahmen des Nahost-Quartetts zu beleben. Dahinter steht die Erkenntnis, dass die drei nahöstlichen Teilkonflikte (Palästina/Israel; Israel/Libanon; Israel/Syrien) in engem Zusammenhang stehen. So wird etwa von Damaskus eine wirkliche Bewegung im Verhältnis zum Libanon ohne eine Verhandlungsperspektive über den Golan kaum erwartet.

Drei Handlungsfelder tun sich auf-:

  1. Europa mit seiner Führungsrolle bei UNIFIL muss – neben den USA – auch eine herausgehobene Rolle bei den regionalen Lösungsbemühungen spielen können. Die deutsche Initiative zur Belebung des Quartetts sowie die Bemühungen, die syrische Bereitschaft zu einer konstruktiven regionalen Rolle auszuloten, sind dafür wichtige Impulse.
  2. Der innerlibanesische Verständigungsprozess muss vorangetrieben werden. Neben der Arabischen Liga können hier auch der UN-Generalsekretär mit seinen Beauftragten sowie einzelne europäische Staaten diskrete Hilfestellung leisten.
  3. Im Verhältnis Israel/Libanon könnten die UN noch stärker tätig werden. Das Koordinierungsgremium von UNIFIL, in dem sowohl Israel als auch der Libanon sitzen, könnte stärker genutzt werden, um Spannungen zwischen den beiden Nachbarn abzubauen und Vertrauen zu bilden.

Die bisherige Bilanz für Deutschland

Der Einsatz der Deutschen Marine vor Ort läuft entgegen vielerlei Befürchtungen bislang außerordentlich erfolgreich. Die insgesamt 19 Schiffe mit 1850 Personen der so genannten „Maritime Task Force“ üben unter deutscher Führung effektive Kontrolle über das Operationsgebiet aus. Selbst von israelischer Seite sind keine Klagen über illegale Waffentransporte über See laut geworden (problematischer ist hingegen die Landgrenze). Von den Tausenden erfasster Schiffe mussten nur wenige durchsucht werden. Die Abschreckungswirkung für potenzielle Waffenschmuggler scheint zu funktionieren. Die Zusammenarbeit mit der libanesischen Seite gestaltet sich partnerschaftlich und störungsfrei. Die in der deutschen Öffentlichkeit diskutierten Einzelfragen über Eingriffsrechte in den verschiedenen Zonen des Operationsgebiets hatten in der Praxis wenig Bedeutung.

Die Bundeswehr sammelt wichtige Erfahrungen in der Zusammenarbeit nicht nur mit europäischen Partnern, sondern vor allem auch mit dem System der Vereinten Nationen. In der eigens errichteten „Strategisch-Militärischen Zelle“ in der Abteilung für friedenserhaltende Maßnahmen des UN-Hauptquartiers arbeiten Offiziere aus europäischen Nationen mit Kollegen aus den Vereinten Nationen zusammen. Solche Erfahrungen sind für weitere Beteiligungen an UN-geführten Missionen wertvoll. Der UNIFIL-Einsatz der Bundeswehr hat Deutschlands Ansehen international erhöht. Er ist ein sichtbares Zeichen, dass Berlin auch im UN-Rahmen seiner Verantwortung für Frieden und Sicherheit nachkommt. Indes werden Schwerpunkte der deutschen Auslandseinsätze in Zukunft die UN-mandatierten Missionen im Rahmen von NATO und EU bleiben. Diese, nicht die „echten“ Blauhelm-Einsätze sind der vertraute, bevorzugte Rahmen der militärischen Führung. Dennoch scheint es für Deutschland ratsam, über UNIFIL hinaus auch in Zukunft Beteiligungen an UN-Blauhelm-Missionen ins Auge zu fassen – allerdings nach gründlicher politischer Einzelfallprüfung und in einer vernünftigen Balance zu anderen Einsatzformen.

Dafür sprechen gute Gründe: Die Vereinten Nationen verfügen in vielen Konfliktregionen über höhere politische Akzeptanz als regionale Organisationen oder Verteidigungsbündnisse. Zudem sind UN-geführte Friedensmissionen tatsächlich in zahlreichen Konfliktgebieten die einzige bzw. einzige dauerhaft zur Verfügung stehende Option („peacekeeper of the last resort“), weil sich andere Akteure verweigern oder politisch nicht in Frage kommen. Außerdem wäre es unheilvoll, -tatenlos zuzusehen, wie sich UN-Friedensmissionen immer mehr zu überforderten „Drittweltarmeen für Drittweltkonflikte“ entwickeln und möglicherweise scheitern – mit unabsehbaren finanziellen und politischen Kosten für den Westen. Und nicht zuletzt gilt bei Blauhelm-Missionen das Prinzip der teilweisen Rückerstattung für Truppensteller, während bei EU und NATO die Truppensteller ihre Kosten selbst tragen müssen. Viel spricht also für einen vernünftigen Mix der Einsatzformen unter Einschluss der Blauhelme. Der deutsche UNIFIL-Einsatz ist dafür ein guter Beginn.

Dr. PETER WITTIG, geb. 1954, ist Abteilungsleiter für Vereinte Nationen und Globale Fragen im Auswärtigen Amt und früherer Botschafter im Libanon. Er gibt hier seine persönliche Auffassung wieder.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, Mai 2007, S. 76 - 81.

Teilen

Mehr von den Autoren