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01. Okt. 2008

Das Leiden der Anderen

Das Prinzip der Schutzverantwortung im Widerstreit internationaler Interessen

Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnische Säuberung: Staatliche Souveränität endet dort, wo der Staat seine Bürger nicht mehr schützt. Dies besagt die im UN-Rahmen definierte Schutzverantwortung „Responsibility to Protect“. Sie ermächtigt die Staatengemeinschaft, notfalls auch mit militärischen Mitteln einzugreifen – eine Verantwortung, die viele Fragen aufwirft.

Wenn die Demokraten im November die US-Wahlen gewinnen, wird das Prinzip der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect oder kurz R2P) in der Außenpolitik Washingtons eine ganz neue Bedeutung bekommen. Jedenfalls wenn es nach Susan Rice geht. Die Top-Beraterin von Obama und Spitzendiplomatin forderte vor dem Hintergrund des „Genozids in Darfur“: „Amerika muss mehr tun, um seiner Schutzverantwortung nachzukommen“.1

R2P wurzelt im Gefühl der internationalen Gemeinschaft, angesichts von Genozid und staatlichen Massenmorden, etwa in Kambodscha, Ruanda oder auf dem Balkan versagt zu haben. Dieser „Niewieder“-Reflex wirkt seit Mitte der neunziger Jahre. Doch die Schutzverantwortung ist kein Allheilmittel, um alle vor allem zu schützen – die Eskimos vor der Erderwärmung, uns alle vor AIDS oder transnationalem Terrorismus.

R2P wurde ins Abschlussdokument des UN-Weltgipfels 2005 aufgenommen. Dort sind vier Tatbestände klar benannt, nur für diese gilt die Schutzverantwortung: Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnische Säuberung und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sie wurde von allen UN-Mitgliedsstaaten formell mitgetragen, freilich noch ohne völkerrechtliche Bindungswirkung. Es werden gleichsam drei Stufen der Verantwortung unterschieden:

  • Erstens trägt zunächst jeder einzelne Staat selbst die Verantwortung für den Schutz seiner eigenen Bevölkerung vor den genannten Verbrechen
  • Zweitens aber hat auch die internationale Gemeinschaft in Gestalt der UN die Verantwortung, „diplomatische, humanitäre und andere friedliche Mittel“ einzusetzen, um beim Schutz der Bevölkerung eines bestimmten Staates behilflich zu sein.
  • Drittens greift die letzte Stufe erst dann, wenn die nationalen Behörden in ihrer Schutzverpflichtung versagen bzw. sich friedliche Mittel der internationalen Gemeinschaft als unzureichend erweisen. In diesem Falle erklären die Staaten ihre „Bereitschaft“, kollektive Zwangsmaßnahmen nach Kapitel VII der UN-Charta – also einschließlich militärischer Maßnahmen – über den UN-Sicherheitsrat zu ergreifen. 

Befürworter und Gegner

Als ein Konzept, das aus der Kritik an unterlassenen Militärinterventionen resultierte, ist die Schutzverantwortung auch negativ belastet. Vielfach wurde sie mit dem Wunsch nach militärischem Eingreifen gleichgesetzt, andere argwöhnten, sie sei Interventionismus in menschenfreundlichem Gewand.

Im Ringen um R2P konnten die Skeptiker auf dem Weltgipfel 2005 beschwichtigt werden: Kooperative und präventive Elemente wurden gestärkt; die Verantwortung zur Reaktion wurde an bereits bestehende Eingriffsbefugnisse des Sicherheitsrats geknüpft; die Klärung von Detailfragen an die Generalversammlung verwiesen. Die USA bestanden außerdem darauf, die „Pflicht“ zur Reaktion lediglich in eine „Bereitschaft“ abzumildern – keinesfalls sollte der Sicherheitsrat durch eine Rechtspflicht oder zwingende Eingriffskriterien gebunden werden.

Doch der scheinbare Konsens erwies sich als brüchig. Zu gegensätzlich waren die Auffassungen von staatlicher Souveränität im höchsten UN-Gremium. So stellte China im vergangenen Jahr in einer Debatte die Prinzipien von R2P erneut offen in Frage. Auch die Gegner des Südens, allen voran Algerien, Ägypten, Pakistan, Kuba und der Iran, formierten sich zum Widerstand. Sie argumentierten, R2P sei nur eine unausgereifte „Idee“, unter deren Vorwand die unverbrüchliche Staatensouveränität untergraben werden könne.

Mit der humanitären Katastrophe in Myanmar stellte sich im Frühjahr der Praxistest: War die Verweigerung des Zugangs für humanitäre Helfer durch das dortige Regime ein Interventionsgrund im Sinne von R2P – so wie es der französische Außenminister Bernard Kouchner vom Sicherheitsrat forderte? Denkbar wäre gewesen, an den Tatbestand des „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“ gemäß Artikel 7 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs anzuknüpfen. Doch im Sicherheitsrat hielten nicht nur China und Russland, sondern auch Großbritannien die rechtlichen Voraussetzungen für nicht erfüllt.

Selbst wenn Klarheit und Einigkeit über den normativen Gehalt der Schutzverantwortung bestünde – es bleibt die große operative Herausforderung, sie auch umzusetzen. Ein bei weitem nicht neues Problem der Prävention ist die Frage der Frühwarnung: Regierungen, die auf eine potenziell bedrohliche R2P-Situation zusteuern, werden oftmals versuchen, dies zu vertuschen statt ihr mit internationaler Hilfe zu begegnen. Die bisherige Erfahrung zeigt, dass den UN zwar in der Regel Informationen vorliegen – das war auch in Ruanda so. Weitaus schwieriger ist es, die erkannten Probleme in politischen Willen umzusetzen.

Die Kluft zwischen politischer Analyse und Handeln zeigt sich besonders im Sicherheitsrat, wenn es um die Verantwortung zur Reaktion geht. Um seine Lähmung zu vermeiden, sind mehrere Vorschläge gemacht worden: der Verzicht auf das Veto in Fällen von Genozid, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit; die Möglichkeit der „Ersatzlegitimierung“ durch die Generalversammlung bei Blockade des Fünfer-Kreises; Selbstbindungen bzw. Verpflichtungen des Sicherheitsrats in Gestalt von Eingriffskriterien. Doch der Weg, die Vetomächte zu beschneiden, ist unrealistisch – so sehr man mit ihm sympathisieren mag. Die fünf ständigen Mitglieder werden sich auf ihre besondere Verantwortung für internationalen Frieden und Sicherheit berufen und sich keinen Handlungseinschränkungen beugen. Letztlich wird sich Handlungsdruck auf den Sicherheitsrat nur durch die internationale Öffentlichkeit erzeugen lassen.

Ein weiteres Problem der Umsetzung besteht darin, dass sich zum „Wollen“ ein „Können“ gesellen muss. Darfur ist als potenzieller Anwendungsfall einer R2P-Intervention für den Sicherheitsrat ein gutes Beispiel: Selbst wenn dieser sich auf das Vorliegen von Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit einigen könnte, bleibt die Frage, ob eine Intervention durchführbar wäre und die Lage tatsächlich verbesserte. Bisher operiert die Friedenstruppe UNAMID formell mit Zustimmung der Regierung in Khartum. Trotzdem gelingt es ihr nur schlecht, effektiven Schutz für die hilfsbedürftige Bevölkerung zu gewährleisten. Wie viel schwieriger wäre es, wenn es sich um eine R2P-begründete Militärintervention gegen den Willen Khartums handelte? Ob daran ein festes UN-Kontingent von militärischen Krisenreaktionskräften grundsätzlich etwas ändern könnte, muss bezweifelt werden.

Handlungsbedarf

Das Konzept der Schutzverantwortung steht vor drei Herausforderungen:

  1. Konzeptionell muss die Betonung auf der Prävention liegen – und nicht auf der Intervention wie bisher. Hierzu gehört, dass einerseits Staaten R2P nicht politisch instrumentalisieren, sie andererseits keine überzogenen Erwartungen im Hinblick auf dessen Wirksamkeit wecken. Diese Neujustierung müssen die Staaten selbst – gegebenenfalls auch im Sicherheitsrat – leisten.
  2. Institutionell besteht die Herausforderung für die UN, dass sich die für R2P jeweils wichtigen Gremien sinnvoll ergänzen. So ist die Schutzverantwortung nicht nur Sache des Sicherheitsrats, sondern auch des UN-Generalsekretärs und der 2006 neu geschaffenen „Peacebuilding Commission“ sowie des Menschenrechtsrats, möglicherweise auch des Internationalen Gerichtshofs. Ein Zusammenspiel der Gremien zeichnet sich jedoch noch nicht einmal ansatzweise ab.
  3. Die größte politische Aufgabe besteht darin, in den UN-Gremien und auf Seiten der Staaten den politischen Willen zur Annahme und Umsetzung des Konzepts aufzubringen. Eine wichtige Rolle kommt dabei der internationalen Zivilgesellschaft zu. Sie kann durch beharrliche Überzeugungsarbeit die Akzeptanz bei den Staaten erhöhen. Ebenso wichtig ist es, der Versuchung zu widerstehen, bei jeder humanitären Krise nach R2P zu rufen und das Konzept so zu verschleißen. Die beste Unterstützung wären demnach erfolgreiche Anwendungsfälle – so wie die präventive Konfliktschlichtung Kofi Annans in Kenia. 

R2P ist ein wichtiger Neuansatz, den Deutschland begrüßen sollte. Sinnvoll wäre es, an bereits bestehende menschenrechtliche Verträge anzuknüpfen. Sie haben eine breite völkerrechtliche Grundlage zur Ächtung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen geschaffen – einschließlich einer rechtlichen Verhütungspflicht. Das Besondere von R2P ist die Mischung von rechtlichem und politischem Gehalt, von konzeptioneller und operativer Dimension. Daraus erwächst eine politisch-moralische Kraft, die auch rechtliche Wirkung entfalten kann und die für einen Wandel des Souveränitätsverständnisses steht: von einem staatenzentrierten Souveränitätsbegriff hin zu einem stärker auf den Menschen gerichteten Verständnis von „Souveränität als Verantwortung“. Dieser Perspektivwechsel, der sich in den letzten Jahren vollzogen hat, orientiert Völkerrecht stärker zum Menschen hin, ohne die Handlungsfähigkeit von Staaten schwächen zu wollen.

Das Konzept von R2P muss weiter reifen und größere Resonanz im Kreise der Staaten finden. Deutschland sollte dabei behilflich sein. Unser Interesse ist es, den Gedanken von „Souveränität als Verantwortung“ weltweit zu stärken.

Dr. PETER WITTIG ist Leiter der Abt.  für Vereinte Nationen und Globale Fragen im Auswärtigen Amt, Berlin. Er gibt hier seine persönliche Auffassung wieder.

  • 1Vgl Susan Rice: The Genocide in Darfur. America must do more to fullfill the Responsibility to Protect, Opportunity 08, Brookings Instituion, Washington 2007. Siehe auch Sabine von Schorlemer: Die Schutzverantwortung als Element des Friedens, Bonn 2007; Christian Schaller: Die völkerrecht-liche Dimension der „Responsibility to Protect“, SWP aktuell, Juni 2008; Edward C. Luck: Der verantwortliche Souverän und die Schutzverantwortung, Vereinte Nationen, 2/2008, S. 51–58.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 10, Oktober 2008, S. 96 - 99

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