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01. Okt. 2005

Der Zwang zum Aufbruch

Sie sind Reiseweltmeister, aber von anderen lernen wollen sie nicht: Die Deutschen verstehen die Welt nicht mehr. Mit dem Eintritt Chinas, Indiens und Russlands in die Weltwirtschaft hat sich der global verfügbare Faktor Arbeit verdoppelt. Wird hierzulande
begriffen, was das bedeutet? Eher nicht: Diffuse Überlegenheitsgefühle und Wettbewerbsverweigerung prägen eine Gesellschaft, die lieber von alten Zeiten träumt als sich neuen Herausforderungen stellt.

Globalisierung bedeutet mehr Wettbewerb, mehr Wettbewerb mehr Ungleichheit. Es gibt Gewinner und Verlierer. Das kollidiert mehr oder weniger uneingestanden mit den Befindlichkeiten einer Gesellschaft, die ihren einzigartigen Aufbruch aus Trümmern und Hunger ins Wirtschaftswunder auch in der nachfolgenden Generation noch verinnerlicht hat und auf der Basis des gewonnenen Wohlstands ein diffuses Überlegenheitsgefühl hegt. Einer Gesellschaft, die weithin zufrieden ist mit ihrer breiten sozialen Mittellage und den damit verbundenen Nivellierungen. Einer Gesellschaft von Reiseweltmeistern, deren Drang jedoch, von anderen in der Welt zu lernen, eher unterentwickelt ist. Einer Gesellschaft, die im letzten halben Jahrhundert soweit wie möglich wieder zu ihren tief verwurzelten traditionellen Verfasstheiten zurückgekehrt ist.

Zünfte, Innungen, Kammern, Kassen, Genossenschaften, Verbände – sie alle werden primär getragen von den unter den historischen Bedingungen gewachsenen Leitideen von Solidarität und Gleichheit, Gegenpolen zum Wettbewerb. Spätmittelalterliche Zunftordnungen verboten die Benutzung oder Weiterentwicklung von Werkzeugen, die nicht allen anderen auch zur Verfügung standen. Moderne Wirtschaftsverbände und Berufsorganisationen verteidigen Zugangsbeschränkungen, Bezirksprivilegien, gesetzliche Öffnungszeiten, flächendeckende Tarifabsprachen – im Konsens mit der Gesellschaft. Der leistungs- und elitenfeindliche Zeitgeist der Nach-68er Jahre lieferte hier incidenter einen ideologischen Überbau. Die Diskussion über das Ladenschlussgesetz führte – trotz weltweiter Kritik, trotz aller Analysen seiner volkswirtschaftlichen Schädlichkeit – auch nach mehr als 25 Jahren nicht zur schlichten Abschaffung. Die geradezu bizarre Einführung der 35-Stunden-woche zeitgleich mit dem unübersehbaren Eintritt der wettbewerbsstarken neuen Volkswirtschaften Südostasiens in die Weltwirtschaft war Anlass für eine Kampagne „Die 35-Stundenwoche schafft Arbeitsplätze – in Fernost“. Sie blieb ohne Resonanz. Die Statik des Volksheims war stärker. Die schleichende Abwanderung und Verlagerung von Unternehmen und Unternehmensteilen wurde verdrängt.

Ein Vierteljahrhundert später ist die Globalisierung in aller Munde – aber wie die „Heuschrecken“-Diskussion gezeigt hat, noch nicht überall verstanden. Was ist neu? Unübersehbar zunächst die Ankunft Chinas in der Weltwirtschaft. Mit dem Eintritt Chinas, Indiens und Russlands in die Weltwirtschaft hat sich nach amerikanischen Studien der weltweit verfügbare Faktor Arbeit verdoppelt. Noch dramatischer ist die dahinter stehende Wachstumsdynamik. Neu ist auch, dass diese menschlichen Ressourcen zunehmend von global wirksamen Effizienzparametern gesteuert werden, die ihrerseits stark von den Finanzmärkten beeinflusst werden: Verlagerung von Fertigungen und Dienstleistungen nach Osteuropa, Indien oder China. Treiber sind aber nicht nur die niedrigeren Kosten, sondern zum Teil schon die bessere Ausbildung der Arbeitskräfte.

Die gegenwärtige Welle der Globalisierung wurde in den siebziger Jahren in Gang gesetzt von der Revolution im Transportwesen, Jumbo-Jet und Großschiffbau. Vorangetrieben wurde sie von den sich potenzierenden Quantensprüngen jeder neuen Mikrochipgeneration. Die Digitalisierung der Kommunikation, die weltweite Vernetzung der Finanzmärkte und die zunehmende Dominanz einer kapitalmarktgetriebenen Finanzindustrie sind die für die Weltwirtschaft tiefgreifenden Folgen. Diese dritte industrielle Revolution und ihre Konsequenzen müssen verstanden werden, wenn Antiglobalisierungskampagnen und die Mobilisierung dumpfer Ressentiments ins Leere laufen sollen und nicht, wie schon einmal, im Gefolge sozialer Spannungen politische Verwerfungen auslösen. Das zunehmend instabile Wählerverhalten enthält eine Warnung.

Die mit dem Aufbau globaler IT-Plattformen möglich gewordenen kapitalmarktbasierten Finanzsysteme verhalten sich zu den traditionellen Kreditbankensystemen wie Weltraumfahrt zur Eisenbahn. Kapitalmarktgetriebene Volkswirtschaften erfreuen sich höherer Wachstumsraten und niedrigerer Arbeitslosenzahlen als Volkswirtschaften wie die deutsche, in denen noch die traditionelle Bankkreditwirtschaft dominiert.

Dem liegen die größere Effizienz und Dynamik, die niedrigeren Kosten, größere Flexibilität und Produktvielfalt der Kapitalmärkte sowie ihr inhärentes Streben nach globaler Wettbewerbsfähigkeit zugrunde. Ihr Wachstum wird getrieben von anlage- und ertragsuchenden institutionellen Großinvestoren, nicht zuletzt den öffentlichen und privaten Versicherern und Pensionsfonds. Ihre hochbezahlten Manager stehen unter hohem Wettbewerbsdruck, die bestmöglichen Erträge für die ihnen anvertrauten Vermögen zu erzielen. Sie übertragen diesen Druck zwangsläufig auf ihre Anlageobjekte. Wer sich diesem Druck zu widersetzen versucht, kann wie die Deutsche Börse zum Lehrbeispiel für die potenziellen Konsequenzen werden. Angelsächsischen Unternehmen sind diese Erfahrungen schon länger geläufig. Sie sind nicht immer positiv: Auch effiziente Märkte irren oder lassen sich in die Irre führen (LTCM, Enron, Parmalat). Fehlbewertungen werden bisweilen erst dann als solche erkannt, wenn die Lemminge schon ins Meer gestürzt sind – das sind dann Krisen wie Asien 1997 oder Russland 1998. Aber weder dies noch die emotionslose Direktheit, mit der etwa traditionsreiche Unternehmen von Investoren gekauft, zerlegt und weiterverkauft werden, stellen die makroökonomische Überlegenheit der Kapitalmärkte über die Kreditmärkte – auch bei der Modernisierung überkommener Strukturen – in Frage. Wohl aber bedarf es immer wieder nachhaltiger, überlegter und unaufgeregter Anstrengungen, um „das globale Biest“ des freien Kapitalverkehrs zu zähmen. 

Auf dem Weg zur zahlungsunfähigen Gerontokratie?

Die Fragestellung für deutsche Politiker, Verbandschefs, Unternehmer, die Gesellschaft im Ganzen ist mithin nicht, ob wir die weltweit inzwischen dominierende angelsächsische Form des Kapitalismus akzeptieren – oder dem „rheinischen“ Kapitalismus nachtrauern. Die Frage ist, wie wir damit so umgehen, dass der gesamtwirtschaftliche Nutzen maximiert und die negativen Begleiterscheinungen möglichst gering gehalten werden. Im Zeitalter des Internet, der zeitgleichen Informationen aller rund um den Globus und angesichts der Notwendigkeit, den demographischen Druck auf die sozialen Sicherungssysteme durch den Umstieg auf kapitalgedeckte Sicherungsformen in den Kapitalmärkten abzufangen, kann es hier keine deutschen Sonderwege geben.

Wir müssen uns mental auf die Globalisierung einstellen, anstatt sie zu verteufeln, um in möglichst vielen Bereichen bei den Gewinnern zu sein bzw. zu bleiben. Beispiele wie der Umbau des Staatsbetriebs Post in einen weltweit führenden Logistikkonzern, die erfolgreiche Umstrukturierung vieler deutscher Unternehmen in den vergangenen zehn Jahren, nicht zuletzt die anhaltenden deutschen Exporterfolge zeigen, dass dies möglich ist – auch wenn der Anteil der deutschen Wertschöpfung unübersehbar zurückgeht. Der Schlüssel zu allem ist der Wettbewerbsvergleich, das „Benchmarking“ – er muss allerdings benutzt werden. Es ist ein Vorzug der Globalisierung, dass uns diese außerhalb der Wirtschaft wenig verbreitete Art des Denkens immer mehr aufgenötigt wird. PISA ist ein prominentes Beispiel dafür. Es hat geradezu symbolhafte Bedeutung: In der Schule muss das Denken in Vergleichen und im Sichmessen mit anderen beginnen. Von daher sind auch realistischere Denkansätze für unsere Hochschulen zu erhoffen, als luftige Pläne für zehn Elitehochschulen mit einem finanziellen Einsatz, der nicht für die Finanzierung einer einzigen nach dem Vorbild der USA ausreichen würde.

Richtig ist, dass die dringendsten Prioritäten im Erziehungswesen liegen. Die vielfach unzulängliche Ausbildung, zugleich aber zunehmende Abwanderung gerade der besser ausgebildeten Jungen aus unserer von Zahlungsunfähigkeit bedrohten Gerontokratie darf nicht länger ignoriert bzw. kleinge-redet werden. Sie droht, Deutschland – seit zehn Jahren das Schlusslicht Europas bei Wirtschaftswachstum und Geburtenquote – schleichend zum Problemland zu machen. Die volkswirtschaftliche Wertschöpfung in dem wachstumsträchtigsten tertiären Sektor, den so genannten Dienstleistungen, fließt zunehmend ins Ausland: Wirtschaftsprüfer, Anwaltsfirmen, Unternehmensberater, Werbe- und Marktforschungsfirmen, die Unterhaltungs-industrie, jetzt auch Banken und Börsen liefern wachsende Teile ihrer Wertschöpfung im Ausland ab. Die rasant expandierende Internetwirtschaft und ihre Infrastruktur – Amazon, Ebay, Yahoo, Google, bis hin zu Microsoft, Cisco und Intel – ist amerikanisch dominiert. Wenn nicht der intelligente deutsche Nachwuchs auch in diesen Bereichen in Deutschland Entwicklungsmöglichkeiten findet – womit soll die Wirtschaft auf Dauer global mithalten und die Alten finanzieren?

Wenn die deutsche Wirtschaft sich in dem fortschreitenden Globalisierungsprozess behaupten soll, muss die Politik jetzt die Weichen für die Dynamisierung der Wirtschaft stellen und Marktkräfte freisetzen. Die notwendigen Maßnahmen – von der Liberalisierung des Arbeitsmarkts bis zur Rückführung des Sozialstaats vom Wohltätigkeits- zum Notwendigkeitsprinzip – sind bekannt, seit vielen Jahren sattsam diskutiert und von nationalen wie internationalen Instituten und Institutionen immer wieder angemahnt worden. Die Agenda 2010 mag Mängel haben; sie hat das Verdienst, Bewegung in verkrustete Zustände gebracht zu haben. Die Einsicht in das Unumgängliche sollte die neue Regierung veranlassen, die Mängel zu beseitigen und nach den bisherigen Trippelschritten nun kräftige Schritte nach vorne zu tun. Zugleich sollte die politische Führung eine klare Richtung vorgeben – weg von allen Versuchen, Vorurteile gegen die rationalen angelsächsischen Formen des Wirtschaftens zu mobilisieren. Hier ist in einer bösen Ursuppe deutscher Befindlichkeiten gerührt worden. Davor ist um so mehr zu warnen, als wir heute nicht mehr – wie bis zur Wiedervereinigung – davon ausgehen können, dass die Deutschen in ihrer Gesamtheit auch mental in der westlichen Demokratie angekommen sind.

Die „Heuschrecken“-Debatte über ausländische Finanzinvestoren hat nicht nur deren wichtige Katalysatorfunktion bei der Modernisierung vieler Bereiche – bis zur staatlichen bzw. kommunalen Wohnungswirtschaft – in ein falsches Licht gesetzt, sie hat vom eigentlichen Problem der deutschen Finanzwirtschaft abgelenkt, dem nicht länger zu leugnenden Niedergang der in ihren überholten Strukturen verhafteten, bis heute so genannten  Kreditwirtschaft. Politik und die Mehrzahl der Verbände zeigen sich unbeeindruckt – auch von Mahnungen des IWF und davon, dass die längst vollzogene Konsolidierung und Modernisierung in allen Ländern mit vergleichbaren Strukturen auch dort die Beseitigung der Grenzen zwischen öffentlichen, genossenschaftlichen und privaten Finanzsektoren zur Voraussetzung hatte. So zeichnet sich ab, dass die fragmentierten Teile dieser volkswirtschaftlichen Schlüsselbranche nun zur Verteilungsmasse für stärkere ausländische Wettbewerber werden – eine exemplarische Konsequenz, wie ein bis in die neunziger Jahre als führend angesehener Wirtschaftszweig wegen Reformunfähigkeit der Betroffenen und mangelnder Gestaltungskraft der Politik auf der Verliererseite der Globalisierung landen kann.

Die Globalisierung der Wirtschaft als Prozess zu verstehen, dem auch die Deutschen sich nicht ohne Schaden entziehen können, heißt nicht, sich allen ihren Erscheinungsformen passiv auszuliefern. Das Beispiel der Post einerseits, der Banken andererseits zeigt die Breite des potenziellen Spektrums zwischen Gewinnern und Verlierern der Globalisierung. Bei beiden müssen auch die Schattenseiten gesehen werden, nämlich die Folgen des globalen Wettbewerbs für die Schwächeren. Diesen Ausleseprozess abzufedern, muss die Aufgabe einer Politik sein, die nicht nur als umverteilende Sozialpolitik Probleme mit Geld zudeckt, sondern als begleitende Bildungs- und Ausbildungspolitik die Umstrukturierungsprozesse erkennt und aktiv fördert.

Diese Aufgabe gewinnt an Dringlichkeit, denn die Kehrseite größerer wirtschaftlicher Dynamik ist größere soziale Ungleichheit. In den westlichen Demokratien hat sich die Schere zwischen Arm und Reich in den letzten Jahrzehnten geöffnet – unabhängig davon, welche politische Richtung regiert hat. Wohl sind die Armen weniger arm, die Reichen aber überproportional reicher geworden. Dieser Trend ist am ausgeprägtesten in den wachstumsstärksten Volkswirtschaften USA und Großbritannien, am wenigsten – nicht überraschend – in Deutschland. Vor diesem Hintergrund muss eine Politik, die die Globalisierung als Chance zur aktiven Gestaltung begreift, um mehr wirtschaftliche Dynamik zu gewinnen,  sich auch auf das Zunehmen sozialer Ungleichheiten einrichten und darauf, diese intelligent aufzufangen. Den Schwachen muss und kann geholfen werden. Ihre Zahl wird, wie die niedrigeren Arbeitslosenzahlen und die entsprechend niedrigeren Haushaltspositionen in den genannten Ländern zeigen, abnehmen und die verfügbaren Ressourcen größer werden. Dies ist zugleich der konstruktive Weg zum Abbau der Staatsverschuldung.

Im Rahmen einer solchen, ganzheitlich auf die Sicherung des deutschen Platzes in der globalisierten Welt ausgerichteten Politik müssen heilige Kühe auch im Erziehungswesen geschlachtet werden. Seine soziale Durchlässigkeit ist ausgerechnet in Deutschland besonders schlecht – trotz oder wegen der untauglichen Reform- und Nivellierungsversuche unserer Sozialingenieure. Eine Kultusbürokratie, die seit Jahren auf die Durchsetzung einer fragwürdigen Rechtschreib-„Reform“ fixiert ist, hat offenkundig andere Zielvorstellungen als die, zur Zukunftssicherung dieses Landes beizutragen. Die Globalisierung ist jedoch kein Vorgang, der schon bald wieder durch andere Aktualitäten verdrängt werden wird. Sie ist ein säkularer Prozess. Er wird sich nach den bisherigen Erfahrungen weiter beschleunigen. Sich in dieser Entwicklung zu behaupten, ist für die Wirtschaft eine tagtägliche Aufgabe. Sie muss dabei unterstützt werden von einer klugen Einwanderungspolitik, die – nach dem Vorbild von und im Wettbewerb mit anderen Ländern – die globale Mobilität von immer mehr Menschen mit guter Ausbildung auf der Suche nach Entfaltungsmöglichkeiten systematisch zu nutzen und diese zu integrieren versteht. Nachhaltig meistern kann die deutsche Wirtschaft die Herausforderungen der Globalisierung indessen nur, wenn auch Erziehungs- und Bildungspolitik im eigenen Land die notwendige Basis schaffen. Das und nichts anderes ist deren Jahrhundertaufgabe – jetzt.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 10, Oktober 2005, S. 50 - 54

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