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01. März 2013

Der Traum vom großen Transitgeschäft

Putins Russland hat hochtrabende Pläne, aber noch enormen Nachholbedarf

Moskau träumt davon, dass Russland zur „Brücke“ zwischen Asien und Europa wird: Auf Schienen, per Schiff, Flugzeug oder Pipeline sollen gewaltige Mengen von Gütern durch das Riesenreich transportiert werden. Doch Russlands Transportwesen ist weit davon entfernt, wettbewerbsfähig zu sein; eine neue „Seidenstraße“ ist nicht in Sicht.

Das Transportwesen ist einer der ertragreichsten Sektoren der Weltwirtschaft und machte 2010 7,5 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts aus – das entspricht 4,5 Billionen Dollar. Im vergangenen Jahr gehörten laut Forbes 72 Transportunternehmen zu den 2000 umsatzstärksten Firmen der Welt. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landes wird maßgeblich vom Transportwesen beeinflusst.

Hier hat Russland noch enormen Nachholbedarf. Zwar wurden einige Pläne zur Neugestaltung des Transportwesens schon umgesetzt, doch insgesamt gibt es noch immer viele Probleme. Zwischen 1990 und 2011 ging das Frachtaufkommen deutlich zurück: der Transport auf dem Schienenweg um 35,4 Prozent, auf der Straße um das 2,7-Fache, per Schiff sogar um das 3,3-Fache. Die russische Handelsflotte verfügt über eine Transportkapazität von 20,4 Millionen Tonnen und kommt damit nur für 1,4 Prozent des Welt­volumens auf – womit sie elf Mal kleiner ist als die griechische Handelsflotte. Jährlich werden in allen russischen Häfen zusammen 535 Millionen Tonnen Fracht geladen. Das entspricht ungefähr dem Volumen, das der Hafen von Schanghai pro Jahr umschlägt. Auch bei der Straßendichte liegt Russland dramatisch hinter allen EU-Staaten zurück; es verfügt über keine einzige Schnellstraße, die europäischen oder amerikanischen Standards entspräche. Und von den angekündigten Hochgeschwindigkeitstrassen für Züge wurde bislang kein einziger Kilometer gebaut. Obwohl die entsprechende Effektivität fehlt, sind die Transportpreise so hoch wie in Europa.

Noch viel düsterer sieht es in der zivilen Luftfahrt aus. Nach dem Zerfall der Sowjet­union sank die jährliche Produktion von 297 Flugzeugen (1988) auf einen Durchschnitt von elf Maschinen pro Jahr (im Zeitraum von 2006 bis 2011) – der Ankündigung von Staatspräsident Wladimir Putin von 2005 zum Trotz, 405 Flugzeuge bis zum Jahr 2012 bauen zu wollen. Mehr als 700 Flughäfen und Flugplätze wurden seit 1991 geschlossen; gleichzeitig ging der Personenverkehr auf Inlandsflügen um das 1,4-Fache zurück.

Russlands Transportwesen ist also nicht wettbewerbsfähig, doch die politische Elite träumt weiter davon, das Land zur „Brücke“ zwischen Asien und Europa zu machen. Dies kann nur mit der Auffassung der politischen Führung erklärt werden, dass schon allein die gewaltige Landmasse eine wertvolle geopolitische Ressource sei und dass man riesige Gütermengen durch Sibirien und die Arktis transportieren könnte. Man hängt einer Idee aus dem 19. Jahrhundert an, vernachlässigt jedoch, dass ein großes Territorium auch zum Hindernis für wirtschaftliche Entwicklung werden kann. Die Schaffung von Verkehrswegen wird dabei stets ausschließlich als politisches Ziel verstanden, für das alle wirtschaftlichen Ziele geopfert werden können.

Unrentabler Schienenverkehr

Russland gehört mit seinen 86 000 Kilometern Schienenwegen zu den größten Eisenbahnnationen der Welt. Die Russischen Eisenbahnen haben einen Anteil von 81,5 Prozent am gesamten Transportaufkommen (ohne Pipelines), erwirtschaften einen jährlichen Bruttoerlös von fast 40 Milliarden Dollar und beschäftigen rund 1,2 Millionen Angestellte. Trotzdem kann Russland im entscheidenden Bereich der Transitkapazität nicht glänzen: Die transsibirische Eisenbahn hat laut Schätzungen von Politikern und Experten eine jährliche Kapazität von 90 bis 100 Millionen Tonnen. Heute werden 85 Prozent dieses Volumens für den innerstaatlichen Transport von Waren und für exportbestimmte russische Mineralien (wie Eisenerz, Kohle und Erdöl) beansprucht. So verbleiben nur 15 Millionen Tonnen für Transitwaren – wenn dies unter den gegebenen Preisen und Bedingungen überhaupt Kunden lockt. Das ist sehr wenig, wenn man bedenkt, dass das Bruttohandelsvolumen zwischen der EU und den drei größten asiatischen Volkswirtschaften (China, Japan und Südkorea) 2010 über 960 Millionen Tonnen betrug. Deshalb sollte Russland, das gerade mal 1,5 Prozent des Handelsverkehrs kontrolliert, dieses Thema eigentlich ad acta legen.

Doch die Russischen Eisenbahnen verfolgen hartnäckig das Transitentwicklungsprogramm, obwohl drei große Hindernisse im Wege stehen:

1. Die Eisenbahnmanager legen mehr Wert auf hohe Geschwindigkeiten als auf niedrige Preise. Heute kostet der Transport eines 20-Fuß-hohen Containers, der von Ostrussland bis zur polnischen oder finnischen Grenze verschifft wird, 4000 Dollar (ohne Hafengebühren). Das dauert (ohne die Zeit des russischen Hafenumschlags) 24 bis 28 Tage. Verschifft man den gleichen Container von Busan oder Schanghai nach Rotterdam oder Hamburg, braucht dieser zwar 40 bis 45 Tage, verursacht aber nur Kosten von 2300 Dollar. Da die meisten Industriegüter längere Lagerungszeiten gut verkraften, kann man davon ausgehen, dass der Kostenfaktor eine wichtigere Rolle spielt als die Geschwindigkeit.

2. Die Russischen Eisenbahnen haben eine „Modernisierung“ der transsibirischen Strecke und der Baikal-Amur-Linie vorgeschlagen, doch damit könnte die Transportkapazität frühestens 2025/2030 um 20 bis 30 Prozent gesteigert werden. Selbst optimistisch gerechnet wird Russland damit nur 2 Prozent des Gesamtvolumens verschiffen können und auf keinen Fall zu einem strategischen Akteur werden können. Wollte man den Transitverkehr durch Russland um 30 Prozent steigern, müssten mindestens drei weitere transsibirische Korridore gebaut werden. Realistisch ist das unter den gegebenen Wirtschaftsbedingungen nicht.

3. Bevor eine neue transsibirische Eisenbahntrasse geplant wird, sollte man erst prüfen, ob sich das Projekt in absehbarer Zeit rentiert. Und das sieht nicht so aus: Nach Schätzungen des Experten Vladimir Yakunin könnte ein Ausbau des transsibirischen Korridors 34,5 Milliarden Dollar kosten. Legt man das heutige Transportvolumen zugrunde, würden sich die hohen Kosten erst in rund 50 Jahren auszahlen.

Doch die Russischen Eisenbahnen hegen noch kühnere Träume: ein Hochgeschwindigkeits-Frachtdienst zwischen dem Fernen Osten und dem europäischen Teil Russlands. Obwohl bisher noch kein einziger Kilometer Hochgeschwindigkeitsschienen verlegt wurde, wird diese Option ernsthaft diskutiert. Meine Einwände: Die Kosten wären sehr hoch, das Projekt verspricht keinerlei Rendite und es fehlt an Erfahrung und Zeit für das Vorhaben. Damit nicht genug: Moskauer Experten sprechen von einer Zugverbindung zwischen der Halbinsel Tschukotka und Alaska, für die ein hundert Kilometer langer Tunnel unter der Beringstraße gebaut werden soll. Bei einer Bauzeit von 10 bis 15 Jahren werden Kosten in Höhe von 60 bis 70 Milliarden Dollar veranschlagt. Dieses Vorhaben wird sogar in einem offiziellen Strategiepapier zur sozioökonomischen Entwicklung des Fernen Ostens erwähnt.

Nicht einmal das erfolgversprechendste Verkehrsprojekt kann einen signifikanten Gewinn in Aussicht stellen: Die potenziellen Gewinne in Höhe von von 2,9 bis 3,3 Milliarden Dollar jährlich für den transsibirischen Korridor würden für weniger als 0,1 Prozent des russischen BIP stehen. Diesen Gewinn könnte Russland auch erzielen, wenn es seine Ölproduktion um 1 Prozent steigern würde, was wesentlich einfacher wäre, als einen großen Teil Sibiriens umzugestalten.

Gegenwärtig schaffen es nur Panama und Ägypten, durch das Transit­geschäft mehr als 1 Prozent ihres BIP zu erwirtschaften. Die Idee, aus dem Transitverkehr Kapital zu schlagen, ist also vollkommen utopisch. Statistiken bestätigen das: So ist der Export von Transportdienstleistungen in Russland sieben Mal geringer als in den Niederlanden.

Störungsanfällige Nordroute

Warum gründet Russland eigentlich kein großes, staatseigenes, internationales Schifffahrtsunternehmen, wenn ihm das Transitgeschäft so sehr am Herzen liegt? Denn die Russischen Eisenbahnen wären erst 2030 imstande, die jährlichen 30 Millionen Tonnen Fracht zwischen Asien und der EU hin- und herzutransportieren. Die gleiche Last könnten aber auch 50 bis 60 Massengutfrachter mit je 80 000 bis 110 000 Tonnen Tragfähigkeit bewältigen. Selbst wenn man die modernsten Schiffe zu Katalogpreisen kaufen müsste, würden die Kosten sechs Milliarden Dollar nicht überschreiten und wären damit sechs Mal niedriger als die Investitionen für eine transsibirische Zugstrecke. Und ein weiterer Vorteil wäre, dass man Schiffe jederzeit gut verkaufen könnte.

Doch für solche Ideen interessiert sich die russische Führung nicht. Heute transportieren alle russischen Containerschiffe zusammen nur 0,6 Prozent der Fracht, die der dänische Weltmarktführer Maersk befördert. Die Mächtigen im Kreml haben sich schon etwas anderes ausgedacht. Wie man weiß, gibt es in Russland neben der Sibirien-Route noch einen weiteren einzigartigen Transportkorridor: die Strecke entlang des Arktischen Ozeans an der Nordküste Russlands. Diese Arktische Route wurde vor allem zu Sowjetzeiten viel genutzt, um die Polarregionen zu versorgen. Sie ist mit 7600 Seemeilen der mit Abstand kürzeste Weg von Asien nach Europa – die Strecke durch den Suez-Kanal ist 15 700 Seemeilen lang, der Weg um Afrika herum erstreckt sich über 18 300 Seemeilen. Problematisch an dieser Route durch den Arktischen Ozean ist jedoch, dass 4100 bis 4300 Seemeilen der Nord­passage mit Eis bedeckt sind und Schiffe deswegen 15 bis 20 Tage benötigen, um die Strecke zurückzulegen.

All diesen Schwierigkeiten zum Trotz sieht das staatliche Programm „Entwicklung der Schiffbauindustrie bis 2030“ vor, dass 50 für diese klimatischen Bedingungen gerüstete Frachtschiffe und Eisbrecher bis 2030 fertiggestellt werden, zu Gesamtkosten von fast 40 Milliarden Dollar. Die gesamte Planung geschieht vor dem Hintergrund, dass Russland nur einen Anteil von 0,6 Prozent an der globalen Produktion nichtmilitärischer Schiffe hat und der größte russische Schiffshersteller United Shipbuilding Corporation mit seinen Einnahmen nur auf Platz 82 der globalen Schiffsbauer-Rangliste liegt.

Zusätzlich drängt sich folgende Beobachtung auf: 1987, im erfolgreichsten Jahr der Arktischen Route, wurden 6,6 Millionen Tonnen Fracht transportiert; keine einzige war jedoch für den Transit bestimmt. Ab 2000 sank das jährliche Frachtaufkommen auf 0,8 Millionen Tonnen, um 2012 wieder auf 2,2 Millionen Tonnen zu steigen (hiervon waren nun 1,2 Millionen Tonnen für den Transit bestimmt). Diese Zahlen sind jedoch gleich weniger eindrucksvoll, wenn man bedenkt, dass die russische Regierung plant, zwischen 2012 und 2020 50 Millionen Tonnen Fracht über die Arktische Route zu schleusen. Ab 2030 sollen es sogar 15 bis 20 Millionen Tonnen jährlich werden. Diese Größe stimmt ungefähr mit dem Transitvolumen überein, das die russische Führung für die sibirische Route einplant.

Dabei sollten jedoch zwei Faktoren nicht außer Acht gelassen werden. Erstens: Die damit verbundenen Kosten sind nicht geringer als jene für die geplante Schienenverlegung. Und falls sich die Investitionen nicht auszahlen, müsste der Staat die Kosten komplett abschreiben, da kein Land so viele Schiffe dieser Klasse benötigt. Als einzige Abnehmerstaaten kämen Norwegen und Kanada in Frage, doch diese haben gar keine Ambitionen, ihre nördlichen Wasserwege ähnlich auszubauen. Zweitens: Der Plan an sich ist gut, doch nutzten 2011 nur 34 kommerzielle Schiffe die Nordpassage (während im gleichen Jahr 19 000 Schiffe den Suez-Kanal passierten). Ein weiteres Problem sind die arktischen Temperaturen an Russlands Nordküste: Im Jahresdurchschnitt liegen sie bei minus 12,9 Grad Celsius, im Winter bei bis zu minus 32 Grad. Dabei kann empfindliche Fracht, die zwischen Europa und Asien transportiert wird, beschädigt werden.

Beide der offiziell diskutierten russischen Transitprojekte erscheinen also schwer realisierbar und höchst unrentabel. Darüber hinaus werden sie Russland weder wichtige strategische Vorteile noch einen signifikanten Anteil am Transitgeschäft sichern. Gleichwohl ist die russische Führung zutiefst von ihren Plänen besessen und lässt alle Alternativstrategien außer Acht, die das Land zu einem wichtigeren Akteur auf dem Transitmarkt machen könnten. Solange die Fürsprecher der beiden Staatsunternehmen Russische Eisenbahnen und United Shipbuilding Corporation in Moskau Gehör finden, muss Europa keine ernsthafte Konkurrenz im Transitgeschäft fürchten.

Verpasste Chancen in der Luftfahrt

Obwohl sich die politische Führung Russlands intensiv mit den unterschiedlichen Formen des Transit-Business beschäftigt, ignoriert sie erstaunlicherweise zwei damit verbundene Wirtschaftsbereiche.

Beginnen wir mit der zivilen Luftfahrt: Sie ist heute eine riesige Hightech-Branche mit weltweit über 57 Millionen Arbeitsplätzen und Einnahmen durch Fluggesellschaften und Flughäfen, die 1,4 Billionen Dollar übersteigen. Russlands „Goldene Jahre“ in dieser Branche neigten sich bereits in den siebziger Jahren dem Ende zu, als noch 20 Prozent aller Flüge zwischen Japan (oder Korea) und Europa über die Sowjetunion ­verliefen. So landeten und tankten alle Flugzeuge auf Russlands einzigem internationalen Flughafen, Sheremetyevo in Moskau. In den späten siebziger Jahren jedoch führten asiatische und europäische Fluggesellschaften Langstreckenflüge mit so genannten Superjets ein; damit war der Transit kein eigener Geschäftsbereich mehr, sondern es wurden nur noch Transitgebühren erhoben, was bis heute geschieht. In manchen Jahren, zum Beispiel 2011, nahm die vor längerer Zeit schon privatisierte Aeroflot mehr als 355 Millionen Dollar Gebühren von europäischen Fluggesellschaften ein; diese Summe übertraf sogar Aeroflots Bilanzgewinn von 10,4 Milliarden Rubel im Jahr 2011. Man kann also sagen, dass die Europäer mit ihren Gebühren ihren Verluste machenden Konkurrenten über Wasser halten.

Heutzutage erreichen 35 Prozent aller Passagiere ihr Ziel mit einer oder mehreren Zwischenlandungen; in der Regel ist dies billiger als ein Nonstop-Flug. Während die meisten Umsteigepunkte früher Hauptstädte oder Großstädte waren, formierten sich Anfang der neunziger Jahre neue Knotenpunkte – mit dem Versuch, sich auch einen Teil des Verkehrsaufkommens zu sichern. Die wichtigsten neuen Zentren, die Reisende zwischen Asien und Europa heute nutzen können, entstanden in der Golf-Region. So gründeten die Golf-Staaten große nationale Fluggesellschaften und bauten modernste Flughäfen. In der Folge stieg die Zahl der Flüge am Flughafen von Dubai zwischen 1995 und 2010 um das 7,5-Fache. Der Flughafen in Doha steigerte die Zahl sogar um das 9,2-Fache. Der neue interna­tionale Flughafen Al Maktoum in Dubai wurde im Sommer 2010 eröffnet und ist darauf ausgelegt, 160 Millionen Passagiere im Jahr abzufertigen. Damit übertrifft er die Kapazität vom Atlanta International um 78 Prozent und fertigt pro Jahr 3,4 Mal mehr Passagiere ab als alle Flughäfen der Russischen Föderation im Jahr 2008 zusammen.

In den vergangenen Jahren wuchs auch die Türkei als ernsthafter Konkurrent heran: Zwischen 2002 und 2012 stieg das Passagieraufkommen des Atatürk-Flughafens in Istanbul um das 4,1-Fache. Gleichzeitig entwickelte sich Turkish Airlines zu einer der am schnellsten wachsenden Fluggesellschaften der Welt und befördert dabei rund 39 Millionen Fluggäste im Jahr. Statistiken zeigen, dass 53 Prozent aller in Istanbul eintreffenden Passagiere den Flughafen nur zum Umsteigen nutzen, in Dubai sind es 64 Prozent und in Doha 70 Prozent. Es überrascht also nicht, dass sich die Einnahmen von Emirates Airlines und Dubai-Flughafen in der vergangenen Dekade um das 6,5-Fache steigerten und 22,6 Milliarden Dollar im Jahr 2011 betrugen. Dieser Betrag übersteigt um das 9-Fache selbst den unter optimistischsten Bedingungen berechneten potenziellen jährlichen Erlös des transsibirischen Korridors für 2025.

In diesem Bereich des Transit­geschäfts kann Russland nicht mehr aufholen. Obwohl 60 Prozent aller Flüge in Russlands Luftraum Transitflüge sind, gibt es keine ernsthaften Ambitionen, einen wirklichen Reiseknotenpunkt zu etablieren. Es gibt keine Flughäfen in Sibirien, die sich in diese Richtung entwickeln könnten. Der Tolmatschowo-Flughafen in Nowosibirsk hat nur 2,8 Millionen Fluggäste im Jahr, während der ­Jemeljanowo-Flughafen in Krasnojarsk nur 1,6 Millionen Passagiere abfertigt.

Russland macht von seinem nördlichen Territorium nicht einmal für Nonstop-Flüge Gebrauch: Flüge von Amerika und Europa nach Asien bleiben riskant, da das Projekt der „Nördlichen Luftbrücke“ („Northern air bridge“) nie fertiggestellt wurde. Heute wird der sibirische Korridor für rund 600 Flüge pro Monat genutzt, wobei die Flugzeuge stundenlang ohne Navigation fliegen – wie bei Ozeanüberquerungen. Staatliche Stellen hätten in der Region ein Netzwerk von Navigationsposten aufbauen können, mit denen die Anzahl der Flüge auf 120 000 bis 150 000 im Jahr gesteigert werden könnte, doch in Moskau diskutiert man statt solchen „Trivialitäten“ lieber den Ausbau des transsibirischen Zugkorridors oder der Arktischen Route. Das Flugtransitpotenzial von Moskau und St. Petersburg kann ebenfalls nicht voll ausgeschöpft werden, da die drei Flughäfen in Moskau und die zwei Flughäfen in St. Petersburg schlecht aneinander angebunden sind. Obendrein braucht jeder Reisende ein russisches Visum, wenn er einen Flughafen verlassen möchte, um den nächsten zu erreichen. Deswegen ist das Umsteigen in Russland nur für Reisende aus ehemaligen Sowjetstaaten attraktiv, die keine direkte Flugverbindung zu großen europäischen Metropolen haben; das sind 96 Prozent aller in Moskau umsteigenden Passagiere.

Ähnliches gilt auch für den Luftfrachtverkehr. In Bezug auf Gewicht befördert der internationale Lufttransport zwar nur einen unbedeutenden Anteil von 0,2 Prozent des globalen Frachtaufkommens, doch erwirtschaftet er 15 Prozent aller Erlöse im globalen Handel, weil Luftfracht ungefähr 70 Mal teurer ist als der Transport auf dem See- oder Landweg. Russland hat seinen Anteil am globalen Luftfrachtgeschäft praktisch auf null reduziert – und das, obwohl die Sowjetunion und auch die Russische Föderation viel Erfahrung im Bau der weltweit größten Frachtflugzeuge haben.

Energiesupermacht ohne Pipelines

Eine weitere verlorene Chance ist der Transit von Energierohstoffen. Die Sowjetunion baute über Jahrzehnte ein ausgedehntes Pipelinesystem aus, das zu den besten der Welt gehörte: 1990 lag die UdSSR mit seinen 70 000 Kilometern Öl- und Gasleitungen lediglich hinter den USA mit 85 000 Kilometern zurück. Später erklärte sich Russland zur „Energiesupermacht“, aber es vergaß sein Transitpotenzial auf diesem Gebiet.

Das Ergebnis überrascht nicht: 1992 exportierte Aserbaidschan fast sein gesamtes Öl durch russisches Territorium, während heute kein einziger Tropfen aserbaidschanisches Öl mehr durch russische Leitungen fließt. Kasachstan und Turkmenistan exportierten einst 98 Prozent ihres Öls und 97 Prozent ihres Erdgases durch russische Pipelines, doch gegenwärtig sind es nur noch 65 Prozent des Öls und weniger als 30 Prozent des Erdgases.

Statt ein effektives und verlässliches Bindeglied zwischen Zentralasien und den europäischen Märkten zu werden, blockiert Russland vollständig den europäischen und ukrainischen Zugang zu turkmenischem Gas. Damit hat Russland Turkmenistan zu einer strategischen Allianz mit China gezwungen. Heute exportiert Turkmenistan rund 50 Prozent seines Gases nach China.

Diese in den neunziger Jahren begonnene „Politik“ gegenüber Nachbarstaaten führte dazu, dass viele neu gebaute Pipelines russisches Territo­rium nun umgehen. Beispiele dafür sind die bereits in Betrieb genommenen Baku-Supsa- und Baku-Tbilisi-Ceyhan-Pipelines sowie die geplanten Leitungen von Turkmenistan zur Türkei (Transkaspische Pipeline) und zwischen Zentralasien und China (Atyrau-Alashankou-Pipeline und ­Saman-Tebe-Pipeline, die China mit kasachischem Öl und turkmenischem Gas versorgen. Die Größenordnung dieser Entwicklung ist viel besser zu verstehen, wenn man bedenkt, dass die Ölproduktion in Aserbaidschan und Kasachstan zwischen 1990 und 2011 um das 3,6-Fache und um das 3,2-Fache anstieg. Zur gleichen Zeit vergrößerte sich die Erdgasgewinnung in Kasachstan und Usbekistan um das 3-Fache und 1,6-Fache, während Russlands Öl- und Erdgasförderung seit 1990 auf dem gleichen Niveau verblieb. Wenn Russland in der Lage wäre, nur halb so viel aserbaidschanisches und zentralasiatisches Gas und Erdöl in westliche Märkte zu pumpen, könnte es nach Expertenschätzungen 2,7 Milliarden Dollar einnehmen.

Doch der Energieriese Gazprom will seine Monopolstellung ausbauen und zerstört damit alle Hoffnungen auf eine zusätzliche Einnahmequelle aus dem Energietransit. Dem Management des „staatseigenen“ Unternehmens war es ein Leichtes, sich über die Interessen der Russischen Föderation hinwegzusetzen.

Gazproms Versuch, die Versorgung zu monopolisieren, schadet Russland nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern stärkt auch eine Haltung, die unflexible Langzeitvereinbarungen einem wirtschaftlichen Ansatz vorzieht. Mit dieser Mentalität geht einher, dass Russlands politische Führung den Bau extrem teurer Gaspipelines, die nach Europa führen, vorantreibt. Dabei wird aber der wachsende Anteil des Schiffstransports von Flüssiggas ignoriert.

Der Pipelinebau ist das einzige Transportgeschäft in Russland, das sich überhaupt noch entwickelt. Allerdings wurde 2011 der Großteil (genau genommen 73 Prozent) des internationalen Rohöltransports mit Öltankern abgewickelt. Bei Erdgas geht diese Entwicklung schleichender, doch 2011 hat sich der Anteil von Flüssiggas im globalen Gastransport schon auf 32 Prozent vergrößert. Russland jedoch exportiert nur 20 Prozent seines Öls per Schiff, während sich der Handel mit Flüssiggas nur auf 6,6 Prozent des Gasexports beläuft. Moskau versucht also, seinen Konkurrenten Transitwege abzuschneiden, und versäumt es gleichzeitig, alternative Lieferwege in Betracht zu ziehen. Das wird Russland noch viele Schwierigkeiten bereiten, da Europa in Zukunft die Vorgaben des dritten Energiepakets der Europäischen Kommission erfüllen muss und aus diesem Grund die Abnahme von russischem Gas begrenzen wird.

Fehlende Wettbewerbsfähigkeit

In Russland wächst die Kluft zwischen den großen Versprechen, das Land zu einem wichtigen Akteur des internationalen Transitmarkts zu machen, und der bitteren Realität, dass keines der angekündigten Projekte unter der gegenwärtigen Regierung zustandekommen wird.

Der Kern des Problems liegt in der Mentalität der russischen Elite, die in jedem Vorhaben nur den ideologischen Aspekt betrachtet. Der Kreml bemüht sich zwar um den Ausbau moderner Transportrouten, sieht das aber nicht als kommerzielles Unterfangen, mit dem Russlands Modernisierung vorangebracht werden kann, sondern als geopolitische Projekte, die den Anspruch Russlands auf eine besondere Rolle in einer globalisierten Welt untermauern. Indes kommt die finanzielle Perspektive bei allen neuen Initiativen zu kurz, und das wird ganz zwangsläufig zu einem riesigen finanziellen Verlust führen. Am Ende wird das alle Großprojekte gefährden, von denen Russland träumt.

In Moskau ist man dem Irrglauben erlegen, dass Projekte dieser Größenordnung die Nation einen, Regionen verbinden und Russlands Ansehen in der Welt stärken. Auch der russische Verwaltungsapparat scheint verstanden zu haben, in welcher Größen­ordnung die Projektmittel liegen werden, und zeigt deswegen ein reges Interesse am Fortschreiten von Unterfangen wie dem transsibirischen Korridor oder der Arktischen Route. Darunter leiden weniger aufwändige, aber wirklich gewinnversprechende Projekte, so zum Beispiel der Ausbau des Flugverkehrs über Sibirien oder die Entwicklung eines neuen Handelssystems für Flüssiggas. Diese Vorhaben werden bei der politischen Führung nie viel Unterstützung erhalten, da sie privaten Investoren und ausländischen Firmen mehr Einfluss ­einräumen, als Moskau bereit ist zuzugestehen.

Projekte, die die russische Regierung ab 2006 in Angriff nahm, sind seit ihrem Beginn im Durchschnitt um das 2,6-Fache teurer geworden. Gleichzeitig ist ein Großteil der Bauvorhaben noch nicht fertiggestellt. Wenn wir diese Kostensteigerung auf die Projekte der Arktischen Route und der transsibirischen Eisenbahnlinie übertragen, könnten die jeweiligen Projektkosten ohne weiteres 100 Milliarden Dollar überschreiten und Diskussionen zur Rentabilität der Unterfangen komplett überflüssig machen. Das heißt, selbst wenn diese Projekte technisch zu realisieren sind, werden sie nie in der Lage sein, mit bereits bestehenden Routen und Transportmitteln zu konkurrieren.

In der heutigen Welt sind Transport und Logistik von enormer, sogar entscheidender Bedeutung. Doch internationale Politik wird nicht mehr von Geostrategen aus dem 19. Jahrhundert bestimmt, sondern von wirtschaftlicher Effizienz und Wettbewerbsfähigkeit: Alles muss schneller, effizienter und zum niedrigsten Preis produziert und transportiert werden und dabei trotzdem rentabel sein. Russlands Pläne erfüllen keine dieser Vorgaben.

Prof. Wladislaw Inosemzew ist Ökonom und Direktor des Center for Post-Industrial Studies in Moskau sowie Visiting Fellow am Institut für die Wissenschaften von Menschen in Wien.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2013, S. 84-93

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