IP

01. Febr. 2008

Der Schein trügt

Das Nach-Putin-Russland ist unsicherer und instabiler als je zuvor

Wladimir Putins Präsidentschaft geht zu Ende, und die herrschende Klasse sucht verzweifelt nach Wegen, ihre Macht abzusichern. Der Kampf um die Futtertröge wird im Kreml hinter verschlossenen Türen geführt. Die Außenwelt sieht eine – wirtschaftlich prosperierende – „Als-ob-Demokratie“. Aber im Nach-Putin-Russland ist wenig so, wie es scheint.

Liberale Demokratien lösen ihre Probleme des Machtwechsels gemeinhin nach einer Formel, die kurzgefasst so lauten könnte: „Klare Spielregeln, unsicherer Ausgang.“ Die russische politische Elite hat sich quasi auf das Gegenteil festgelegt: „Unklare Spielregeln, sicherer Ausgang.“ Jedoch erscheint die Umsetzung dieses Prinzips sehr schwierig – und wie das Ganze ausgehen wird, ist derzeit nicht vorauszusagen.

Die Parlamentswahlen im Dezember 2007 und die Tatsache, dass Wladimir Putin als Formel seines Machterhalts die Kreation eines „Kreml-Tandems“ aus dem von ihm auserkorenen Nachfolger Dmitrij Medwedew in der Rolle des Präsidenten und ihm in der Rolle des Premierministers gewählt hat, wurden von der politischen Klasse Russlands mit Erleichterung aufgenommen. Diese Machtstruktur wird allerdings weder stabil noch nachhaltig sein und Russland aus seiner ewigen Machtwechsel-Krise am Ende politischer Zyklen nicht retten. Da es keine nennenswerte Opposition gibt, wird die russische Elite ihre Kontrolle über die Gesellschaft zwar noch einige Zeit aufrechterhalten können. Aber Putins Erbe wird früher oder später Konflikte auslösen, die diese Kontrolle unterminieren werden. Was also sind die Trends und Charakteristika, die Putin Russland hinterlässt, und wie effektiv und nachhaltig ist dieses System?1

„Lasst uns so tun, als ob“

Man kann das politische System, das sich in Russland unter seinen beiden postkommunistischen Präsidenten Boris Jelzin und Wladimir Putin herausgebildet hat, als ein bürokratisch-autoritäres Regime bezeichnen; die Kontrolle über alle politischen Schalthebel liegt in der Hand einer Führungsperson, die sich bei der Ausübung ihrer Macht auf die Bürokratie stützt. Immerhin zeigt dieses russische System, dass selbst antidemokratische Eliten die Demokratie als die einzige legitime Regierungsform anerkennen – oder sich zumindest unter Druck gesetzt fühlen, die demokratischen Institutionen formal nachzuahmen. Daher legt die russische Elite einerseits ihr demokratisches Glaubensbekenntnis ab, passt aber gleichzeitig mit sehr viel Geschick die Demokratie ihren eigenen Bedürfnissen an. Pseudo-demokratisches Regieren unterminiert zwar die demokratischen Grundsätze, doch auch den Glauben an die Allmacht der Autoritäten. Deshalb wird sich das Spiel des „Lasst uns so tun, als ob“, das die Machthaber des Kremls derzeit so sehr in Anspruch nimmt, früher oder später gegen sie kehren. Die formale Nachahmung eines Mehrparteiensystems, der Pressefreiheit, demokratischer Wahlen, des parlamentarischen Systems und der freien Marktwirtschaft führt allerdings auch zu einer irrealen Darstellung der präsidentiellen Machtposi-tion, hinter der sich tatsächlich die Herrschaft der den Kreml kontrollierenden Clans verbirgt.

Ein weiteres Schlüsselwort für die Dekodierung der russischen Realität lautet „Monosubjekt“. Es besagt, dass der Führer als der einzige legitimierte politische Akteur auf ein Podest gestellt und so zur einzigen politischen Institution innerhalb der politischen Szenerie Russlands wird. Gleichzeitig muss er sich aber, um zu überleben, vor der Verantwortung drücken, denn sonst wäre er verantwortlich für jedes Scheitern seiner Bürokratie – von der Spitze bis zur untersten Instanz. Das Prinzip „Verzicht auf Verantwortung“, das schon der Präsidentschaft Jelzins zugrunde lag, setzte sich unter Putin fort. Und es wird auch unter seinem Nachfolger gelten, es sei denn, die Grundlagen des Systems würden verändert.

Denn trotz der Machtfülle des Präsidentenamts verfügt der Amtsinhaber nicht über wirksame Mittel, um seine – manchmal durchaus korrekten – Entscheidungen auch durchzusetzen. So war Putin außerstande, eine Verwaltungsreform durchzudrücken oder die zunehmende Korruption im Staatsapparat zu bekämpfen, über die er in seinen jährlichen Ansprachen an die Bevölkerung in einem fast verzweifelten Ton redete. Auch war er gezwungen, die geplanten Militär- und Rentenreformen zu vertagen; die Reform der Sozialfürsorge musste er vollkommen aufgeben, und die Reformierung der geradezu katastrophal vernachlässigten Wohnungsbaupolitik erwähnt er gar nicht mehr. Ebensowenig war er in der Lage, sein erklärtes Ziel der Diversifizierung der Wirtschaft zu erreichen. Das Muster ist immer das gleiche: Jedes Mal, wenn eine bestimmte Initiative des Präsidenten durchfällt, entscheidet er sich, sie zu vergessen – und zu hoffen, dass das Land das auch tut. Es ist keineswegs so, dass Putin seine Lieblingsprojekte nicht realisieren wollte; aber die Interessen der Regierungskaste zwingen den Führer, sich ausschließlich auf das zu konzentrieren, was wichtig für sein Überleben ist.

Innerhalb eines solchen politischen Systems überlebt der Führer, indem er Konflikte zwischen den verschiedenen Fraktionen seiner Entourage zunächst provoziert, um sie danach zu lösen – was ihm dann erlaubt, die Rolle des Schiedsrichters zu spielen. Gegenwärtig besteht die Entourage des Kremls aus liberalen Technokraten, Silowiki (also Vertretern der Geheimdienste, der Armee und des Innenministeriums, der Staatsanwaltschaft und anderer Sicherheitskräfte) und moderaten Pragmatikern. Sie alle bilden regelmäßig Fraktionen, bekämpfen sich gegenseitig und schmieden dann doch wieder kurzlebige Allianzen, die nach außen wie Mesalliancen wirken. Um eine solche Entourage zu kontrollieren, muss die Führungsperson stark sein. Nicht selten in der Geschichte bürokratisch-autoritärer Regime haben sich verschiedene Fraktionen zusammengeschlossen, um einen Führer, der ihren Interessen nicht entsprach, loszuwerden.

Ein Präsident, der selber aus den Reihen des Geheimdiensts kommt, und eine Verwaltung, die weitgehend aus Nachrichtenoffizieren besteht – das konnte im Regime nur die Tendenz verstärken, auf administrative Problemlösungen zurückzugreifen. Wir haben es im Kreml aber mit einer heterogenen Regierungskaste aus verschiedenen Gruppen zu tun, die alle eifrig bemüht sind, das bestehende System zu erhalten. Es lohnt sich, auch die dem Regime dienenden Intellektuellen genauer unter die Lupe zu nehmen: Diese betonen immer wieder die Wichtigkeit von Befehlen, da sie sich ihrer eigenen Verletzbarkeit bewusst sind und um ihre Zukunft fürchten, sollte das Regime geschwächt werden. Falls die Staatsführung plötzlich auf das Mittel der gewaltsamen Repression zurückgreifen sollte, werden die Propagandisten dieser Politik daher nicht unbedingt Vertreter des Militärs oder der Nachrichtendienste sein, sondern möglicherweise ehemalige Dissidenten, die sich in Spin-Doktoren verwandelt und ihre Prinzipien verraten haben, um dem Kreml zu dienen.

Die Unabhängigkeit des Führers wird unausweichlich zu einem immer größeren Problem, je stärker die Bürokratie wird, auf die der russische Präsident sich stützt. Weder die regierende Mannschaft noch die politische Klasse hat Interesse an einem perfekt funktionierenden Führer. Man sollte sich nicht von dem Eindruck blenden lassen, dass die Präsidenten-Entourage aus folgsamen Untergebenen besteht, die nur seine Befehle ausführen. Im Gegenteil: Sie kontrollieren seine Agenda, sie entscheiden, was er wann macht, wen er trifft, was ihm mitgeteilt wird. Durch das Ausnutzen seines berufsbedingten Misstrauens gegenüber jedem, der nicht zu seinem engsten Zirkel gehört, haben sie eine ungeheure Macht über ihn. Sobald die regierende Kremlclique alle anderen politischen Kräfte eliminiert hat, wird der Präsident immer mehr zum Eigentum seines Teams. Dies galt für Jelzin und Putin, und es wird auch auf den nächsten russischen Präsidenten zutreffen, solange das System nicht radikal reformiert wird.

Inzwischen hat die Bürokratie die Gesellschaft fest in den Griff ihrer Tentakel genommen.2 Das Anwachsen der Bürokratenkaste geht einher mit einem Anwachsen der Korruption. Während Korruption im Westen eine Abweichung von der Norm ist, wurde sie in Russland zur Regel, nach der die Gesellschaft aufgeteilt und das politische System organisiert wird. Korruption à la russe erhielt Aufwind, als die staatlichen Autoritäten zu dem alten Mechanismus zurückkehrten, Staatsangestellte eher nach dem Grad ihrer Loyalität zum Führer einzustellen als aufgrund ihrer professionellen Kompetenz. Die Übernahme der Kontrolle über die Wirtschaft durch die Bürokratie hat ihre eigene Unkontrollierbarkeit massiv verschärft. Eine weitere Quelle der Korruption war die undurchsichtige Art, in der die Privatisierung umgesetzt wurde.3

Das heutige Russland belegt eine alte Wahrheit: Allmacht ist dazu verurteilt, Ohnmacht zu werden, wie es Guillermo O’Donnell in seinen Schriften über die delegative Demokratie vorausgesagt hat.4 Denn ein Führer, der die gesamte Macht in seinen Händen hält, ist dazu verdammt, sich auf die Verteidigung dieser Machtposition zu konzentrieren, was ihm weder Kraft noch Energie übrig lässt, irgendwelche ehrgeizigen Pläne umzusetzen. Um das Los eines Führers in einem bürokratisch-autoritären Regime muss man diesen wirklich nicht beneiden. Manchmal muss er diesen mühsamen Weg bis zum Ende, bis zum vollkommenen Verlust seiner Macht gehen, bevor er erkennt, dass Allmacht eine Sackgasse ist. Viel schlimmer daran ist allerdings, dass den Preis für die Ohnmacht der Allmächtigen die Gesellschaft zahlen muss. Wie autoritär kann das russische Regime sein, wenn es gleichzeitig von konkurrierenden Kremlclans hin- und hergezerrt wird? Eine korrupte Bürokratie, die Zersplitterung der politischen Elite und die Degeneration der Armee und der anderen Sicherheitsdienste verringern den Spielraum für einen reinen Autoritarismus, geschweige denn eine Diktatur. Dies schließt jedoch nicht aus, dass der nächste Führer – etwa angesichts einer politischen Krise – versucht sein könnte, autoritäre Mechanismen zu verstärken.

Russlands Wirtschaft: Eine Erfolgsstory?

Der Zustand der Wirtschaft, die Putin hinterlässt, wirkt beeindruckend. Das Bruttosozialprodukt (BSP) ist während seiner Präsidentschaft von 200 Milliarden Dollar im Jahr 1999 auf eine Billion Dollar (entsprechend dem aktuellen Wechselkurs) im Jahr 2007 gestiegen; im selben Zeitraum erhöhten sich die Gold- und Devisenreserven von 12,7 auf 450 Milliarden Dollar; die Rücklagen des Stabilisierungsfonds belaufen sich auf 150 Milliarden Dollar; 2006 betrug der Handelsüberschuss mehr als 120 Milliarden Dollar und entsprach damit 7,5 Prozent des BSP. Inzwischen liegt Russland auf Platz zwölf der weltweit größten Wirtschaftsnationen.5 Auch wenn sich das Wachstum seit 2005 verlangsamt hat (im Jahr 2007 auf sieben Prozent), wirkt es immer noch recht imposant. Der Boom hält nicht nur im Sektor der Rohstoffproduktion an, sondern auch in den Bereichen Bau, Handel, Dienstleistungen und Finanzen. Die russische Wirtschaft hat bewiesen, dass sie in der Lage ist, erfolgreich mit internationalen Unternehmen zu konkurrieren.

Dennoch hat dieser Erfolg, wie alles in Russland, einen doppelten Boden. Er ist kein Anlass für Optimismus, vor allem weil er wesentlich mit dem Anstieg des Ölpreises zusammenhängt und nur durch protektionistische Maßnahmen erzielt wurde, welche die entsprechenden Branchen vor der ausländischen Konkurrenz beschützt haben. Ein Zusammenbruch des Ölpreises könnte Russlands Wirtschaft sofort in eine Rezession abstürzen lassen.6

Denn das gegenwärtige Wachstum ruht nicht auf soliden Fundamenten. Löhne und Einkommen sind schneller gewachsen als die Produktivitätsrate. Infolgedessen hat sich der konsumptive Anteil am BSP auf Kosten des investiven erhöht (die Bruttoinvestitionen betragen nicht mehr als 20 Prozent des BSP).7 Es gibt noch andere Gründe zur Besorgnis. Der Regierung gelingt es nicht, die Inflationsrate zu drücken, die 2007 auf über zwölf Prozent stieg und den Kreml zwang, in einigen Bereichen die Preise einzufrieren. Und die Banken sind nicht in der Lage, die Rolle des Vermittlers auszufüllen; daher werden die Einkünfte aus dem Rohstoffsektor nicht an andere Bereiche weitergeleitet. Stattdessen schöpfen die Banken dieses Geld ab, schieben es in den grauen Markt und bedienen so von ihren Dividenden lebende Rentiers und manchmal kriminelle Banden. Die Regierung hat nicht die geringste Vorstellung davon, wie sie mit den negativen Auswirkungen des Stromes von Petrodollars umgehen soll, der zu einer Stärkung des Rubels führt und damit die Importe fördert und die russische Industrie trifft.8 So ist es Russland zwar gelungen, seine Staatsschulden zu tilgen; aber gleichzeitig ist zwischen 1998 und 2007 die Verschuldung der russischen Industrieunternehmen von 30 auf 384 Millionen Dollar angestiegen. Der russische Außenhandel macht nur 45 Prozent des BSP aus (in China nahezu 70 Prozent), was ein deutliches Indiz dafür ist, dass die Produkte der russischen Wirtschaft auf dem Weltmarkt nicht wettbewerbsfähig sind.

Russische Finanziers bevorzugen Investitionen im Ausland. Die Anzahl und der Umfang der Beteiligungen, die russische Unternehmen im Ausland erwerben, sind schon erstaunlich. Dieser Trend wird heute „Kapitalexport“ genannt. 2006 betrugen die innerrussischen Investitionen 150 Milliarden Dollar und der russische „Kapitalexport“ 140 Milliarden Dollar. Die Namen der Verantwortlichen für den russischen „Kapitalexport“ sind inzwischen in der Forbes-Liste der reichsten Menschen dieser Welt nachzulesen.

Mittlerweile gibt es auch keine Debatten mehr darüber, welches Wirtschaftsmodell – dirigistisch, liberal oder populistisch – sich in Russland entwickelt. Putins Mannschaft hat sich für den Dirigismus entschieden, und während seiner Präsidentschaft ist ein bürokratischer Kapitalismus entstanden, der den Interessen der Bürokratie am besten entspricht. Der Staat ist nicht nur ein aggressiver Player im Bereich der Wirtschaft geworden, sondern er legt auch die Spielregeln fest – und dies natürlich zu seinen Gunsten, was die Prinzipien der Marktwirtschaft unterminiert.

Es ist nur logisch, dass die monopolistische Machtstruktur in Russland einhergeht mit einem Staatsmonopolismus in der Wirtschaft. Ich will auch keinesfalls behaupten, dass jede Ausweitung staatlichen Einflusses schlecht ist. Aber wir analysieren hier die wirtschaftlichen Interventionen einer ganz besonderen Art von Staat, nämlich eines Staates, der die Prinzipien des Rechtsstaats in keiner Weise respektiert, sondern auf der Grundlage sehr zweifelhafter inoffizieller Regeln handelt. Und selbst diese Regeln beachtet der Staat nicht durchgehend. Das führt unweigerlich zu Korruption, macht klare Regeln undurchführbar und treibt die Wirtschaft in die Grauzone.

Das ökonomische Modell, das in Russland im Entstehen ist, fängt an, dem eines Petrostaats zu ähneln. Die Wirtschaft eines Petrostaats zeichnet sich durch die vorrangige Orientierung auf die Bodenschätze des Landes aus. 2006 bestritten russisches Öl und Gas 49 Prozent des Bundeshaushalts sowie 63,3 Prozent des Exports.9 Einen Petrostaat prägen unverwechselbare Eigenschaften: die Verschmelzung von Macht und Geschäftswelt; der Aufstieg einer Schicht von Rentiers, die von den Dividenden des Ressourcenverkaufs leben; systematische Korruption; die dominierende Rolle großer Monopole, die von der Bürokratie kontrolliert werden; Anfälligkeit der Wirtschaft gegenüber externen Umbrüchen; das Risiko der „Holländischen Krankheit“, bei der ein extremes Ansteigen der Einkünfte aus Rohstoffen zur Deindustrialisierung der Nationalökonomie führt; staatlicher Interventionismus in die Ökonomie und eine Kluft zwischen Arm und Reich.10 Der Petrostaat hat kein Interesse an einer Modernisierung der Wirtschaft, sondern kümmert sich allein um die Aufrechterhaltung der Rohstoffindustriewirtschaft. All diese Charakteristika treffen mehr und mehr auf Russland zu.

Die russische Elite weiß genau, dass derzeit schon 75 Prozent aller bekannten Öl- und Gasfelder ausgebeutet werden und dass die Ölreserven bereits in zehn Jahren erschöpft sein könnten. Ebenso wird ihr bekannt sein, dass 89 Prozent der Förder- und 60 Prozent der Produktionsanlagen von Gazprom obsolet sind. Die Hälfte der Pipelines sind mehr als 25 Jahre alt. Die Ölförderung geht zurück, obwohl Öl zurzeit Höchstpreise erzielt. Die Gasförderung verringert sich um 20 Millionen Kubikmeter pro Jahr. Für das Jahr 2007 wird ein Defizit von 4,2 Milliarden Kubikmetern Gas in der Energiejahresbilanz erwartet. Man geht davon aus, dass dieses Defizit sich bis 2015 auf 46,6 Milliarden Kubikmeter steigern wird. Darüber hinaus werden jährlich ungefähr 70 Milliarden Kubikmeter Gas verschwendet, zum Teil indem sie einfach verbrannt werden. Die von den Eliten so unermüdlich verkündete Rede von der „Energiesupermacht“ ist nur ein Bluff, der die Öffentlichkeit darüber hinwegtäuschen soll, wie Russlands fossiler Brennstoffreichtum heute ausgeplündert wird.

Gleichzeitig Freund und Feind des Westens

Die Außenpolitik Russlands hat sich während Putins Präsidentschaft grundlegend geändert. In seiner ersten Amtszeit versuchte er, eine Partnerschaft mit den entwickelten Demokratien zu etablieren; am Ende der zweiten stecken diese Beziehungen nun in einer Krise. Im Jahr 2006 fing Außenminister Sergej Lawrow an, von einer Vermittlerrolle Russlands bei weltweiten Krisen zu sprechen. Er erklärte, dass „Russland nicht einseitig Partei ergreifen kann im Konflikt der Zivilisationen. Russland ist bereit, Brücken zu bauen.“11 Damit brachte der Kreml zum Ausdruck, dass er nicht mehr bereit ist, sich in die westliche Gemeinschaft einzuordnen. Zwei Ideen trugen zur Weiterentwicklung der neuen Doktrin der russischen Außenpolitik bei. Die erste war der Ruf nach einem „geopolitischen Dreieck“, bestehend aus Russland, der Europäischen Union und den USA, mit der Aufgabe, „Unterstützung für eine kollektive Führung im Management der Weltentwicklung“ zu leisten. Die zweite bestand in dem Vorschlag, zu einer „Netzwerk-Diplomatie“ überzugehen, worunter zeitlich begrenzte, auf der Verfolgung spezieller Ziele beruhende Allianzen zu verstehen sind.12 Dieses Konzept passt sehr gut zur chronischen Unsicherheit Russlands in der Frage, zu welchem Lager es gehört.

Die gängige Terminologie des Kremls – Vermittler, Brückenbauer, Netzwerk-Diplomatie, geopolitisches Dreieck und Energiesupermacht – charakterisiert die Stimmung innerhalb der russischen Elite, für sich selbst die Freiheit in Anspruch zu nehmen, sich in verschiedenste Richtungen zu bewegen und gleichzeitig jeglicher Art von Verantwortung auszuweichen. Einerseits will der Kreml eine Grundlage finden für eine eigenständige Rolle Russlands zwischen dem Westen und dem Rest der Welt. Andererseits möchte Moskau zwar innerhalb des amerikanisch-europäisch-russischen Triumvirats seinen Platz haben, aber gleichzeitig frei und ungebunden bleiben.

Seit 2005 haben die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen daher die Form eines gleichzeitigen Freund- und Feind-Verhältnisses angenommen. Auf den ersten Blick macht diese Zwitter-Außenpolitik überhaupt keinen Sinn. Doch bei näherem Hinsehen vermittelt sie eine Vorstellung von dem Versuch des Kremls, die eigentlich unvereinbaren Grundlagen der Innenpolitik mit dem Bereich der Außenpolitik in Einklang zu bringen. Angesichts eines so widersprüchlichen Verhaltensmodells ist es müßig, die Frage zu stellen, für welche Strategie Russland sich entscheiden sollte. Die Frage lautet vielmehr: Wie lange wird es Moskau gelingen, sich mit dieser Kombination aus Realpolitik, ökonomischem Pragmatismus, dem Anspruch, zum selben Verein wie die westlichen Demokratien zu gehören und den Status einer Supermacht einzunehmen, durchzuwursteln?

Das Verlangen des Kremls, gleichzeitig Freund und Feind, Partner und Gegner des Westens zu sein, führt gelegentlich zu absurden Situationen. So kooperiert Russland mit Europa im Europarat und in der Parlamentarischen Versammlung und mit der NATO im NATO-Russland-Rat. Dennoch betrachtet es den Westen als Gegenspieler. Einerseits sehen wir, wie Moskau „Roadmaps“ für eine Annäherung an Europa entwickelt, während es andererseits die Annäherung der Ukraine an Europa als feindlichen Akt betrachtet. Einerseits hatte Russland 2006 den G-8-Vorsitz, anderseits droht es damit, seine Raketen wieder auf Europa zu richten. Einerseits betrachtet Moskau die USA als Partner in der Antiterrorismus-Koalition, anderseits fordert es, dass sich die Amerikaner aus Zentralasien zurückziehen, also gerade der Region, die sich zum Zentrum des islamistischen Terrors entwickelt hat.

Bedeutet dies, dass die russische Elite auf Konfrontationskurs mit dem Westen gehen will? Ganz entschieden nein! Die überwiegende Mehrheit der russischen Elite hat kein Verlangen, zum Zustand der Isolation und des Spannungsverhältnisses mit dem Westen zurückzukehren. Ihr ist im Gegenteil sehr daran gelegen, persönlich mit dem Westen auf dem bestmöglichen Niveau zu kooperieren. Dass sie den Westen öffentlich ablehnt und ihn zum Feind erklärt, hat ausschließlich innenpolitische Gründe: Ihre Existenz als Elite ist abhängig von einer dem Westen feindlich gesonnenen Gesellschaft.

Letztlich kann sich das „Freund-Feind-Modell“ der Beziehungen Russlands mit dem Westen solange nicht radikal ändern, bis das russische System selber reformiert wird. Das jetzige Modell mag effizient sein, um kurzfristige Ziele zu erreichen und sich einem verändernden Umfeld anzupassen. Doch ihm fehlt die Substanz, und es macht strategische Aufstellungen unmöglich. Es ist das Modell der Außenpolitik eines Landes, das unfähig ist, sich auf eine bestimmte Strategie festzulegen, aber ebensowenig zu seiner Vergangenheit zurückkehren will. Angesichts eines Landes, das immer noch eine regionale und internationale Macht darstellt, wird dieses Modell zu einem Problem für die gesamte Welt. Zudem wird es für die Eliten schwierig sein, die Effekte der von ihr beförderten Wagenburg-Mentalität zu kontrollieren.13

Russische Paradoxien

Und wie steht es um die russische Gesellschaft, wie sieht sie den Westen? Trotz der antiwestlichen Rhetorik der nationalen Fernsehsender und der Mehrheit der russischen Politiker betrachten die Russen den Westen immer noch als Russlands Partner. Bei einer Erhebung 2007 meinten 46 Prozent der Befragten, dass Russland sich an Europa (Deutschland, Frankreich und Großbritannien) orientieren sollte; 45 Prozent meinten, dass Russland seine Beziehungen zur Ukraine, Weißrussland und Kasachstan stärken sollte; 27 Prozent setzten auf Indien und China; 19 Prozent wählten Japan; 15 Prozent entschieden sich für die USA. Aber nur zwölf Prozent nannten Kuba, Nordkorea und die arabischen Länder, die alten Bündnispartner des sowjetischen Systems. Die große Mehrheit der Russen will also eine aktive Partnerschaft mit dem Westen. Die Unklarheit und Widersprüchlichkeit der politischen Landschaft Russlands ist nicht nur die Folge des vielschichtigen Transformationsprozesses, sondern auch der Tatsache, dass Russland bei der Behauptung stehengeblieben ist, es bewege sich vorwärts – und daran auch glaubt. Daraus entsteht eine sehr verwirrende Wirklichkeit. Ich will hier nur einige „Transitionsfallen“ herausgreifen, denen Russland auf seinem Weg zur Demokratie und Zivilgesellschaft begegnen wird:

  • Die Ungewissheit der Gewissheit: Die politische Elite Russlands hat auf der Suche nach einem Weg zur gesicherten Gewissheit des Systems hart zugeschlagen gegen politischen Pluralismus und Wettbewerb. Das Resultat ist aber, dass die Verhältnisse jetzt noch unklarer sind. Weder Russland noch Putin können voraussagen, was nach 2008 passieren wird.
  • Die Instabilität der Stabilität: Je mehr die Elite auf das überholte Modell eines überzentralisierten Staates zurückgreift, um Stabilität zu erreichen, desto mehr unterminiert sie diese. Die Abschaffung von Möglichkeiten, sich innerhalb der offiziellen Institutionen kritisch zu äußern, zwingt die Opposition geradezu auf die Straße, verwandelt kritisches Denken in destruktiven Protest und lässt den Staat immer fragiler werden.
  • Das Graben des eigenen Grabes: Durch die Eliminierung des Wettbewerbs und des politischen Pluralismus schafft die herrschende Klasse eine Situation, in der die Durchsetzung positiver Veränderungen möglicherweise den gewaltsamen Sturz der herrschenden Elite erfordern wird.

Es gibt eine Reihe von Gesetzmäßigkeiten, die das postkommunistische System Russlands bestimmen. Die grundlegendste ist das Gesetz des Scheiterns. Wenn eine liberale Opposition einfach nicht bereit ist, die Macht zu übernehmen, dann wird die Gesellschaft auf dem Irrweg weitergehen müssen, bis sie feststellt, dass dieser eine Sackgasse ist. Ein Führer muss spektakulär scheitern, damit man erkennt, dass sein Weg falsch gewesen ist. Der Versuch Gorbatschows, die UdSSR zu reformieren, hat bewiesen, dass diese nicht reformierbar war. Vielleicht ist es Putins Schicksal zu beweisen, dass Russland sich nicht von oben nach unten modernisieren lässt. Vielleicht kann erst Putins Scheitern beim Versuch, die Modernisierung mit autoritären Methoden voranzutreiben, Russland davon überzeugen, dass die Idee eines erfolgreichen Zarismus im 21. Jahrhundert ein Oxymoron ist. Doch bis heute halten die Russen Wladimir Putin nicht für einen Versager.

Die Art und Weise, wie er die Kontinuität der Kremlmacht zu garantieren versucht, verstärkt den Eindruck, dass das russische System Objekt des Gesetzes der unbeabsichtigten Konsequenzen ist. Das Paradox könnte sein, dass Putin durch die Absicherung seiner eigenen Position und der seiner Entourage letztlich das System selbst unterminiert. Drei verschiedene Szenarien sind nach dem Ende seiner Präsidentschaft vorstellbar:

  • Szenario eins: Putin agiert als Medwedews Hüter, der ihn vor den Kämpfen der Kremlclans beschützt. Nach Medwedews Wahlsieg überdenkt Putin seine Entscheidung, Premier zu werden, die für den früheren russischen Zar eine Demütigung ist. In diesem Fall wird Medwedew gezwungen sein, der traditionellen Logik personalisierter Macht zu folgen und das vorige Regime abzulehnen (was Putin mit Jelzin gemacht hat). Das hieße, dass Medwedew entweder Putins Status quo ablehnen oder seine Regentschaft konsolidieren muss, indem er seinen Vorgänger zum Sündenbock für alle Fehlentwicklungen des Systems macht.
  • Szenario zwei: Das plausibelste Szenario ist, dass Russland von einem ungewöhnlichen Tandem aus Präsident Medwedew als Senior- und Premier Putin als Juniorpartner regiert wird. Selbst wenn es Putin gelingt, seinen Ehrgeiz zu zügeln und sich mit dem Kleinkram des Regierens zu beschäftigen, wird er trotzdem immer noch als Zentrum der Macht betrachtet werden. Das wird letztlich sowohl die Gesellschaft als auch die politische Klasse ratlos machen, weil sie nicht wissen, wem sie gehorchen sollen. Diese Lage würde bittere Kämpfe innerhalb der Elite auslösen und letztlich zu einer Lähmung der Macht führen.
  • Szenario drei: Putin und Medwedew arbeiten als ein Team, und es gelingt ihnen, den auf dem hohen Ölpreis basierenden Status quo zu erhalten. Wenn diese Kontinuität beinhalten würde, die Mega-Staatsfirmen (Gazprom, Rosneft, Rosobomexport, Rosatom) weiter auf Kosten der Regierung aufzublasen, dann würde sich jedoch die Frage stellen: Werden Putin und Medwedew in ein paar Jahren nur noch eine leere Hülle regieren?

Die heutige russische Elite ist noch nicht bereit, dem Beispiel Weißrusslands oder Kasachstans zu folgen und das Prinzip der Machtrotation gänzlich abzulehnen. Aber ebensowenig ist die Elite bereit, die Szene in Angst vor einer neuen Runde der Reichtums-Umverteilung zu verlassen. Die Kremlbewohner haben offenbar den Eindruck, dass sie durch einfaches Hüte-Tauschen überleben können: Heute trägt Medwedew den Hut des Präsidenten, morgen eben Putin oder jemand anderes aus dem Team. Das System ist ausschließlich auf die Selbsterhaltung ausgerichtet. Doch indem die russische Elite den Wandel ablehnt, macht sie selbst jeden Wechsel zum antisystemischen Vorgang, und in ihrem paranoiden Bedürfnis nach Sicherheit schafft sie eine Situation, in der Russland unsicherer und instabiler ist als je zuvor.

Dr. LILIA SCHEWZOWA, geb. 1949, ist Senior Associate im Moskauer Büro des Carnegie Endowment for International Peace. Jüngste Veröffentlichung:„Russia Lost in Transition. The Yelzin and Putin Legacies“ (2007)  – vgl. dazu die Rezension auf  S. 134 f.

  • 1Vgl. Lilia Schewzowa: Russia Lost in Transition. The Yeltsin and Putin Legacies, Carnegie Endowment for International Peace, Washington, DC, 2007.
  • 2Die sowjetische Bürokratie umfasste zu Zeiten von Leonid Breschnew rund 700 000 Beamte. Heute gibt es in Russland 1,5 Millionen Staatsdiener. Der Verkauf einer Stelle innerhalb der Bürokratie ist inzwischen alltäglich. In den Medien wird spekuliert, dass eine einflussreiche Stellung innerhalb der Bürokratie zwischen 150 000 Dollar und einer Million Dollar kostet.
  • 3Nach Angaben des stellvertretenden Generalstaatsanwalts Alexander Buksman beläuft sich die Gesamtsumme, die jährlich für Bestechungen in Russland aufgewendet werden, auf 240 Milliarden Dollar. 50 Prozent der Russen sehen in der Korruption das größte Hindernis für wirtschaftliches Wachstum. Gleichzeitig geben aber 55 Prozent zu, dass sie Bestechungsgelder bezahlen. Entsprechend dem Ranking von Transparency International rangiert Russland auf der Liste der korrupten Staaten auf Platz 121 von 163.
  • 4Guillermo O’Donnell: Delegative Democracy, Journal of Democracy, Bd. 5, Nr. 1, Januar 1994.
  • 5 www.gks.ru; Kommersant, Januar–Juni 2007, Vedomosti, Januar–Juni 2007.
  • 61986 führte der Sturz des Ölpreises um fünf Sechstel zum Zusammenbruch der UdSSR. 1998 reichte schon die Halbierung des Preises, um eine Finanzkrise auszulösen, die beinahe die sich gerade erholende russische Wirtschaft ruiniert hätte.
  • 77 www.gks.ru; Kommersant, Dezember 2006, Januar–Mai 2007; Vedomosti, Januar–Juni 2007; Alexej Kudrin: Rol‘ Stabfonda v Makroekonomicheskoi Stabil’nosti (Die Rolle des Stabilisierungsfonds im Rahmen der makroökonomischen Stabilität), www.liberal.ru.
  • 88 Alexander Kijatkin: Drugaja Rossija (Ein anderes Russland), Smart Money, Nr. 22, 18.6.2007.
  • 99 Alexej Kudrin (Anm. 7).
  • 1010 William Thompson und Rüdiger Ahrend: Economic Surveys Russian Federation, OECD, Juli 2004, S. 6.
  • 1111 Sergej Lawrow: Summiruja Rossijskuju Wneschnjuju Politiku (Zusammenfassung der russischen Außenpolitik), Kommersant, 21.12.2006.
  • 1212 2 Ebd.
  • 1313Vgl. Leon Aron: Putin’s Cold War, Wall Street Journal, 26.12.2007.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, Februar 2008, S. 8 - 18

Teilen