Der mongolische Glücksfall
„Den Einsiedler suchen und ihn nicht finden“, so lautet der Titel eines alten chinesischen Gedichts von Jia Dao, einem Schriftsteller aus der Tang-Dynastie. Dieses Gedicht ging mir durch den Kopf, als ich im Jeep meines Bekannten Tsedved über löcherige Sandpisten durch die staubigen Slums vor Ulan Bator rumpelte.
Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, aber nach knapp zwei Stunden fanden wir ihn doch, den Einsiedler. Dovdon ist 102 Jahre alt. Er lebt in einer stets von Tauben umflatterten Holzhütte und verbringt seine Zeit mit Studium und Meditation. Dovdon hat gesehen, wie die Kommunistische Partei in den zwanziger Jahren einen neuen Staat gründete; wie sie fast alle Klöster und Tempel im Land zerstörte; wie sie Zehntausende von Mönchen an die Wand stellen ließ und weitere Zehntausende in den Gulag schickte. Darauf folgte das Chaos nach der Wende in den Neunzigern, die Armut in den Übergangsjahren und mit ihr das Wachstum der Slums, in denen er heute selber lebt – und schließlich der Aufschwung, den die Mongolei in jüngster Zeit erlebt.
Es herrscht eine fast verblüffend gute Stimmung in dem Land. Zwei Wochen vor meinem Besuch bei Dovdon und Tsedved war ich aus Peking kommend am Dschingis-Khan-Flughafen in der Hauptstadt gelandet. Nach der Boomtown-Stimmung, die weite Teile Chinas in Atem hält, wirkte Ulan Bator auf mich wie eine erfreulich unverrückte Stadt. Niemand dort macht einen übermäßig geschäftigen Eindruck; statt zackiger Paraden gibt es auf dem zentralen Platz einen Bobby-Car-Verleih. Zu Füßen der riesigen Dschingis-Khan-Statue vor dem Parlamentsgebäude drehen kleine Kinder auf roten Plastikautos ihre Runden – eine unautoritäre Atmosphäre, wie sie in Peking undenkbar ist.
Der mongolische Glücksfall ist das unwahrscheinliche Zusammentreffen zweier unwahrscheinlicher Dinge: einer funktionierenden Demokratie und eines Wirtschaftswunders mit Wachstumsraten, die selbst die chinesischen verblassen lassen. Der Grund für den Aufschwung ist ein Rohstoffboom, der die Mongolei auf lange Sicht mit ein wenig Glück zu so etwas wie dem Norwegen Zentralasiens machen könnte.
Das heißt natürlich nicht, dass alles prächtig ist in dem Land. Es wird zuviel gesoffen, vor allem Wodka (die beliebteste Marke heißt Dschingis Khan; „Man of the Millennium“, steht auf dem Etikett) und vor allem von den vielen arbeitslosen jungen Männern in der Hauptstadt. Auch gibt es in Ulan Bator viele bettelarme Menschen, deren improvisierte Bretterbuden als Slums die Stadt umringen.
Trotzdem, während einer fünfwöchigen Reise, in deren Verlauf ich mit nomadischen Viehhütern spreche, mit Bergwerksbossen und deren Kritikern bei lokalen NGOs, mit Hochschullehrern, Entwicklungshelfern, Äbten, Mönchen und Regierungsmitarbeitern, setzt sich Stück für Stück das Bild eines Landes zusammen, das zu Recht optimistisch gestimmt ist und das sich selbst ganz gut leiden kann.
Das unverspannte Selbstbild ist verblüffend, denn mehr als 60 Jahre gab sich die kommunistische Regierung alle Mühe, den Mongolen ihre nationale Identität madig zu machen. So erzählte die Partei ihren Untertanen, Dschingis Khan sei der Klassenfeind schlechthin. Geglaubt hat es offenbar niemand. Der Khan gilt in der Mongolei nicht als Schreckensherrscher, sondern eben als „Man of the Millennium“. Auch die langen Jahre antibuddhistischer Propaganda haben nicht gewirkt. Als die kommunistische Regierung stürzte, gab es in der Mongolei nur noch wenige Dutzend Mönche. Heute sind es etwa 6000, und es werden jährlich mehr.
Die Klöster, in denen sie leben, sind meistens neu, und an der Konjunktur der monastischen Bauwirtschaft sind auch Dovdon und der knapp 70 Jahre jüngere Tsedved beteiligt. Tsedved besitzt eine Buddha-Fabrik am Stadtrand von Ulan Bator. Vor der Tür des unverputzten Ziegelbaus liegt ein Haufen Autoschrott. Der wird im Hinterhof eingeschmolzen und zu Ornamenten und Piedestalen für die Statuen umgegossen, welche die neuen Klöster zieren. Die Statuen selbst werden aus Kupfer und Gold gefertigt, nach sorgfältig recherchierten Vorbildern.
Zu Recherchezwecken reiste Tsedved in die Innere Mongolei in China, wo selbst die Kulturrevolution nicht ganz so destruktiv gewirkt hatte wie die „Säuberungen“ in der so genannten Äußeren Mongolei, und zu den russischen Mongolen, den Kalmücken, um etwas über die alte buddhistische Kunst der Mongolei in Erfahrung zu bringen. Seine wichtigste Quelle aber sind Menschen wie Dovdon, die sich noch gut an die alten Zeiten erinnern können und die so manches Bruchstück aus den Ruinen der zerstörten Klöster gerettet haben. Und das ist noch ein mongolischer Glücksfall: dass die Schätze aus den Klöstern zur gleichen Zeit aus der Versenkung auftauchen wie die Bodenschätze. Ohne das neue Geld wäre es nicht möglich, die alten Tempel wieder aufzubauen. Aber Dovdon überrascht das nicht. In den 60 Jahren der Unterdrückung, sagt er, habe er keinen Augenblick daran gezweifelt, dass es so kommen würde, auf die eine oder andere Art. Es werde eben wieder normal in der Mongolei.
Justus Krüger arbeitet als freier Journalist in Hongkong und Peking. Er berichtet u.a. für Mare und Geo aus China und den Nachbarländern.
Internationale Politik 1, Januar/ Februar 2012, S. 126-127