Der Kassandra-Komplex
Die Propheten des amerikanischen Niedergangs irren sich auch diesmal
Chinas rasanter Aufstieg beflügelt die Fantasien von Amerika-Kritikern und notorischen Schwarzmalern. Geht es jetzt – endlich – bergab mit der amerikanischen Supermacht? Nein. Und das ist auch gut so. Denn ob Nahost, Nordkorea, Afghanistan oder Iran: Entweder die „Weltmacht aus Notwendigkeit“ erledigt die Schmutzarbeit, oder sie bleibt eben liegen.
Alle zehn Jahre wieder ist in Amerika Zeit für Untergangsstimmung. War es in den späten Fünfzigern der Sputnik-Schock, gefolgt von der „Raketen-lücke“, die John F. Kennedy in seinem 1960er Präsidentschaftswahlkampf ausrief, so stimmten eine Dekade später Richard Nixon und Henry Kissinger ihren Abgesang auf die bipolare Welt an, bevor dann Ende der siebziger Jahre Jimmy Carters Malaise-Rede eine Vertrauenskrise heraufbeschwor, die Amerika mitten in „Herz, Seele und Geist unseres nationalen Willens“ treffe.
Wiederum ein Jahrzehnt später prophezeiten Wissenschaftler wie der Yale-Historiker Paul Kennedy den Staatsbankrott der USA, bedingt durch Überschuldung im Aus- und Verschwendung im Inland. Amerika drohe eine „imperiale Überdehnung“, schrieb Kennedy 1987, und „die Summe der globalen Interessen und Verpflichtungen der USA ist weitaus größer als ihre Fähigkeit, diese alle gleichzeitig zu verteidigen“. Nun ja: Ganze drei Jahre später schickte Washington 600 000 Soldaten in den Irak – ohne die allgemeine Wehrpflicht wieder einzuführen oder die Steuern zu erhöhen. Der einzige Preis, den Amerika für seine „Überdehnung“ zahlte, war die Rezession von 1991; und die war auch noch vergleichsweise harmlos.
„Globalisierung, das sind wir“
In den neunziger Jahren gönnten sich die Untergangspropheten eine schöpferische Pause. Nach dem Selbstmord der Sowjetunion ging es den USA prächtig, und Japan, das ökonomische Kraftwerk der Achtziger, stagnierte im verlorenen Jahrzehnt vor sich hin. Für Amerika begann die längste Phase ökonomischer Expansion seiner Geschichte; eine Expansion, die im Wesentlichen bis 2008 anhielt. 1997 schrieb Thomas Friedman, Kolumnist der New York Times, das bestimmende Merkmal der Weltpolitik sei die Globalisierung, und „wenn man ein Land schaffen wollte, das perfekt für den Wettbewerb in einer solchen Welt gerüstet ist, dann wäre es das heutige Amerika“. Sein Fazit klang triumphierend: „Globalisierung, das sind wir.“
Gegen Ende der Ära Bush kehrten die Untergangspropheten dann mit Macht zurück. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise meldete sich Paul Kennedy wieder zu Wort und recycelte die Argumente seines Buches „The Rise and Fall of the Great Powers“, das 20 Jahre zuvor erschienen war. „Der größte Verlierer dürfte wohl Uncle Sam sein“, schrieb er. Chronische Finanzdefizite und militärische Überdehnung – das verhängnisvolle Gespann aus seinem Buch – begännen in den USA allmählich Wirkung zu zeigen, die „weltweite tektonische Machtverschiebung vom Westen nach Asien“ erscheine „kaum noch umkehrbar“.
Robert Altman, stellvertretender Finanzminister der USA unter Bill Clinton, schrieb, dass der Finanzcrash „der Stellung Amerikas in der Welt enormen Schaden“ zugefügt habe. Deutschlands Finanzminister Peer Steinbrück freute sich gar, dass „die USA ihren Status als Supermacht des Weltfinanzsystems verlieren werden“. Vorsichtiger gab sich der Historiker Niall Ferguson: Auch wenn sich das globale Mächtegleichgewicht sicherlich verschieben werde, so sollten „Kommentatoren stets vorsichtig sein, bevor sie den Niedergang und Sturz Amerikas prophezeien“.
Weit entfernt von solch vornehmer Zurückhaltung ist die neue Generation der Untergangspropheten. Einiges von dem, was sie sagen, ist austauschbar, herausgelöst aus Zeit und Raum, und erinnert fatal an alles, was in den vergangenen 50 Jahren an Worthülsen zum amerikanischen Untergang produziert wurde. So stimmte Parag Khanna, Fellow bei der New America Foundation, im vergangenen Jahr sein Klagelied auf „den fortdauernden Niedergang der Stellung Amerikas in der Welt“ an. Das kommt einem bekannt vor, ebenso wie seine Ankündigung, dass „die Macht der USA im geopolitischen Konkurrenzkampf mit den anderen globalen Supermächten den Kürzeren zieht“.
Wer aber sind diese „anderen Supermächte“? In den fünfziger bis siebziger Jahren war es die Sowjetunion, in den Achtzigern Japan. Jetzt schielt Khanna nach Europa und China. Für Europa ist das nichts Neues, der „alte Kontinent“ wurde schon von früheren Generationen von Schwarzsehern als multipolarer Muskelprotz gepriesen.
Und dann ist da noch Kishore Mahbubani, Ex-Botschafter Singapurs bei den Vereinten Nationen und bei seinen Versuchen, die Nachfolge von Kofi Annan als UN-Generalsekretär anzutreten, am Widerstand der USA gescheitert. Wie schon der Titel seines Buches „The New Asian Hemisphere: The Irresistible Shift of Global Power to the East“ andeutet, ist weniger der Verfall Amerikas sein Thema als der Vormarsch Asiens. Sein Ton ist gönnerhaft bis herablassend: „Leider wird das westliche intellektuelle Leben weiterhin von jenen dominiert, die immer noch die Überlegenheit des Westens zelebrieren.“ Der „Rest der Welt“ dagegen habe „sich weiterentwickelt, und die westliche Vormachtstellung verliert an Legitimität“. Und wer soll das Erbe Amerikas antreten? China, schlägt Mahbubani vor. Das ist eine indirekte und ein bisschen despektierliche Version des „America perdita“-Motivs – Wunschdenken, das so tut, als sei es nüchterne Analyse.
Schließlich noch der Russe Dimitri Orlov, der die Selbstzerfleischung der Sowjetunion erlebt hat und nun, quasi in einem Akt psychologischer Rache, das gleiche Schicksal auf die USA projiziert. „Irgendwann in den kommenden Jahren“, schreibt er in „Reinventing Collapse: The Soviet Example and American Prospects“, werde Amerikas Wirtschaft „taumeln und schließlich zusammenbrechen“. Orlov bezeichnet sowohl die Sowjetunion als auch die USA als „evil empires“ – als Reiche des Bösen.
Wie unsere kurze Geschichte der amerikanischen Untergangsprophezeiungen gezeigt hat, tritt das Verderben zyklisch auf. Heute allerdings belegt Amerika, wie übrigens nach allen dümmlichen Kassandragesängen der Vergangenheit, in jeder relevanten Machtkategorie den Spitzenplatz – ökonomisch, militärisch, diplomatisch und kulturell. Trotz zweier Kriege, die das Land derzeit führt, und trotz der schwersten Weltwirtschaftskrise seit der Großen Depression. Wie sollen die geschilderten Projektionen und Phantasien dieser Realität standhalten?
Schadenfreude und Schwermut
Lange bevor sich die 13 Kolonien zu einer Union zusammengeschlossen hatten, war Amerika bereits mehr ein gedankliches Konstrukt als ein Land – eine Leinwand, auf die der Rest der Welt fortan seine kühnsten Träume und seine schrecklichsten Alpträume projizieren sollte.
Diese Leinwand ist mit zwei Farben bemalt: Schadenfreude und Schwermut. Schadenfreude wird in erster Linie im Ausland empfunden. Sich zu wünschen, Amerika möge ins Straucheln geraten, ist der natürliche Reflex all derer, die sich von Gulliver bedroht fühlen. Und so erwacht alle zehn Jahre die Hoffnung, es möge einer kommen und Gulliver aus dem Weg räumen. Im Grunde zeugen diese Phantasien von nichts weiter als einem verdrehten Versuch, der beängstigenden Schlagkraft des Giganten Tribut zu zollen – die Sorgen und Nöte kleinerer Mächte werden niemals Prognosen von solch bodenloser Dummheit hervorrufen.
Untergangsstimmung dagegen ist made in USA. Die Alptraumszenarien entspringen einer prophetischen Tradition, in der die Schwarzseher wie einst Jeremia hofften, das von ihnen vorausgesagte Unheil abzuwenden, indem sie den Fehlgeleiteten zur Buße überredeten. Moderne Propheten dagegen üben sich in der Diktion des Niedergangs, um innenpolitische Ziele zu erreichen, sei es eine libertäre Vision mit Isolationismus und niedrigen Steuern oder eine liberale mit mehr Wohlstand und weniger Militarismus. Das erinnert an die Reden der Gründungsväter, die ein allzu ehrgeiziges Engagement im Ausland als sicheren Weg in den heimischen Ruin betrachteten. Thomas Jefferson warnte davor, sich in „Bündnisse zu verstricken“, und John Quincy Adams lehnte die Vorstellung ab, dass die Vereinigten Staaten zum „Weltdiktator“ würden, denn dann blieben sie „nicht mehr Herr über den eigenen Geist“. Expansion ist demzufolge gleichbedeutend mit dem Verlust der amerikanischen Seele.
Immer schon bewegte sich die Debatte über den amerikanischen Niedergang zwischen Projektion und Prophezeiung, zwischen denen, die ein Finis Americae begrüßen und denen, die es fürchten. Im Mai 2009 erschien im New Yorker eine Karikatur, welche die Schwarzseher liebevoll auf die Schippe nimmt. Sie zeigt einen Büßer mit einem Plakat, auf dem steht: „Das Schlimmste steht uns noch bevor“, und einen Passanten, der seinen Begleiter fragt: „War das nicht Paul Krugman?“
Doch wenn wir uns darauf beschränken, die Gruppen und Interessen zu entlarven, die hinter dem ganzen Untergangsgerede stecken, führt uns das bei einer immer wieder auftauchenden Frage nicht weiter: Wie steht es tatsächlich um Amerikas Macht in der Welt, und wer oder was könnte die Nummer eins vom Thron stoßen? Höchste Zeit, einen Blick auf die Fakten zu werfen.
Herausforderer und Hasenfüße
In allen Niedergangsvarianten dient ökonomisches Scheitern als Beweismittel Nummer eins. Zu Recht? Nach aktuellen Angaben ist die amerikanische Wirtschaft derzeit 14,3 Billionen Dollar wert – dreimal soviel wie die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, Japan, und nur unwesentlich weniger als die Volkswirtschaften Japans, Chinas, Deutschlands und Frankreichs zusammen. Noch nie zuvor in der modernen Geschichte war der ökonomische Abstand zwischen Großmächten so groß. Heute hat die amerikanische Wirtschaft nur einen einzigen ernsthaften Rivalen, und zwar die EU mit ihrem Gesamtbruttoinlandsprodukt von 18 Billionen Dollar. Ein Konglomerat von 27 Mitgliedsstaaten lässt sich allerdings nicht wirklich als „strategischer Mitspieler“ bezeichnen.
Auch im Hinblick auf das Pro-Kopf-Einkommen liegen die USA mit ihren 47 000 Dollar pro Einwohner vorne, dicht gefolgt von Frankreich und Deutschland (beide rund 44 000 Dollar), Japan (38 000), Russland (11 000), China (2900) und Indien (1000). Es bleibt ein Rätsel, wie ausgerechnet China Amerika in dieser Hinsicht so bald ausstechen soll. Und ein Land wird nicht automatisch reich und mächtig, nur weil sich in ihm 1,3 Milliarden drängeln, die in extremer Armut leben – es sei denn, sein Reichtum wird fälschlicherweise anhand des Leistungsbilanzüberschusses gemessen.
Was schließlich die militärische Stärke angeht, spielt Amerika in seiner eigenen Liga. 2008 gaben die USA 607 Milliarden Dollar für ihre Verteidigung aus – beinahe die Hälfte der weltweiten Verteidigungsausgaben. Die neun Staaten, die in dieser Liste folgen, wendeten insgesamt 476 Milliarden Dollar auf. Und die vermeintlichen Herausforderer der militärischen Vormachtstellung der Amerikaner, China, Indien, Japan und Russland? 219 Milliarden Dollar – alle zusammen. In China, dem Land, das am häufigsten zur künftigen Weltmacht ausgerufen wird, beträgt der Verteidigungsetat nicht einmal ein Siebtel des amerikanischen. Und selbst wenn wir die 27 EU-Staaten mit ihren 288 Milliarden Dollar Verteidigungsbudget in die Riege der Herausforderer der USA aufnehmen, schlagen die Amerikaner sie immer noch um Längen – 607 Milliarden Dollar im Vergleich zu 507.
Last but not least kann sich kein anderes Land einer vergleichbaren Seemacht rühmen. Der Verteidigungsexperte Robert Work hat 2005 ausgerechnet, dass die amerikanische Marine einen Gesamtschiffsraum befehligt, den die 17 nächstgrößten Flotten sämtlich nicht übertreffen. Heute hätten nicht einmal China, Indien, Japan, Russland und Europa zusammengenommen die Kapazitäten, einen größeren Krieg führen, der mehr als 8000 Meilen entfernt von ihren Ufern stattfindet – Amerika dagegen führte in den vergangenen Jahren in Afghanistan und zweimal im Irak Krieg.
Entwarnung vor dem Drachen
Im Mittelpunkt der aktuellen Niedergangswelle steht der atemberaubende Aufstieg Chinas. Die Debatte hebt nicht auf den absoluten Niedergang Amerikas ab, sondern auf seinen relativen Machtverlust: Die USA sind dem Untergang geweiht, weil die chinesische Wirtschaft schneller wächst als die amerikanische und sie in den nächsten Jahrzehnten überrunden wird.
Auf eine solche Entwicklung zu setzen wäre allerdings nur dann eine sichere Sache, wenn man das Bruttoinlandsprodukt anhand der Kaufkraft-parität messen würde. Dadurch würde das nominelle chinesische BIP von 3,3 Billionen Dollar aufgrund des extrem niedrigen Preis- und Lohnniveaus auf fast acht Billionen angehoben. Geht man von einer optimistischen Schätzung aus – einer jährlichen Wachstumsrate von zehn Prozent – würde sich das Volumen der chinesischen Wirtschaft alle sieben Jahre verdoppeln, das derzeitige amerikanische BIP bereits 2015 überholen und in den sieben darauffolgenden Jahren weit hinter sich lassen.
Nun bemisst sich aber globale Wirtschaftsmacht leider nicht danach, wie billig nichthandelbare Güter – sagen wir Haarschnitte, raubkopierte Software oder staatliche Dienstleistungen – zu haben sind. Sprechen wir lieber von Technologie, Energie, Rohstoffen und den Kosten höherer Bildung im Westen: Das sind die Güter, die entscheidend für Wachstum sind; das sind die Güter, die auf dem Weltmarkt bereitgestellt werden müssen.
Sogar der australische Ökonom Saul Eslake, der den Abstieg der USA anhand der Kaufkraftparität schon für 2015 vorhersagt, nimmt eine bezeichnende Einschränkung vor: „Natürlich könnten sich diese Prognosen als ungenau herausstellen. Denn im Großen und Ganzen extrapolieren sie Wachstumsraten der jüngeren Vergangenheit und berücksichtigen ebenso wenig mögliche Rezessionen wie demografische Faktoren.“
Aber das Leben verläuft nicht linear. Chinas zweistellige Wachstumsraten sind ein Produkt jüngeren Datums, im Wesentlichen handelt es sich um eine Entwicklung, die 2003 ihren Anfang nahm. 1967 und 1968 etwa schrumpfte das chinesische Wirtschaftswachstum, um 5,1 und 2,9 Prozent, 1976 sogar um 5,8 Prozent. Die Jahreszahlen sind nicht ohne Grund gewählt; sie markieren Anfang und Ende der chinesischen Kulturrevolution und erinnern an die Anfälligkeit der Wirtschaft für politische Erschütterungen. Nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens im Jahre 1989 brach das Wachstum auf vier Prozent ein – im Vergleich zu 11,3 Prozent im Vorjahr.
Ebenfalls mit Vorsicht zu genießen sind Schätzungen, nach denen die chinesische Wirtschaft 2009 um sechs Prozent wachsen wird. 2007 fiel das Wachstum von historischen zwölf Prozent um die Hälfte – ein Alarmsignal, das zeigt, dass das chinesische Wachstum im Wesentlichen vom ausländischen Hunger nach billigen Arbeitskräften und Produktionsstätten befeuert wird. China ist in extremem Maße abhängig von Exporten – sie machen rund zwei Fünftel des chinesischen Bruttoinlandsprodukts aus – und daher anfällig für weltweite Konjunkturdämpfer. In der Tat sind Chinas Exporte in diesem Jahr um 26 Prozent gefallen. Das sind die Konjunkturrisiken, wenn man das Offshore-Produktionsparadies der Welt spielt
All das hat auch politische Konsequenzen. Aufgrund von Chinas Export-abhängigkeit werden nur 35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für privaten Konsum ausgegeben, im Vergleich zu 60 Prozent in vielen westlichen Ländern. 70 000 Unruhen pro Jahr, die letzte im Juli 2009 in Xinjiang mit Hunderten von Toten, zeigen, dass etwas passieren muss. Wenn China nun einen Teil seiner Ressourcen in staatliche Sicherungssysteme investieren würde, sänken automatisch seine Exporte und sein exportbasiertes Wachstum.
Deutschland ist ein gutes Vergleichsbeispiel: Es hat ein ähnliches Exportniveau wie China, unterhält aber daneben einen Wohlfahrtsstaat, der ein Drittel seines BIP verschlingt, was im vergangenen Jahrzehnt ein jährliches Wachstum von 1,5 Prozent ergab. Chinas Regierung steht vor dem Dilemma, sich entweder für Exportgewinne oder Wohlfahrt entscheiden zu müssen. Bisher ist es der autoritären Modernisierung à la Deng Xiaoping gelungen, diesen Konflikt zu vermeiden, doch auf Dauer wird die chinesische Bevölkerung mehr Wohlstand und Freiheit verlangen.
Selbst wenn es China gelingt, das in den Griff zu bekommen, steht es vor einem weiteren Problem, nämlich dem der Überalterung. Kurz: China wird alt sein, bevor es reich wird, meint Mark Haas, Politikwissenschaftler an der Duquesne University. Laut einer Schätzung von Goldman Sachs wird die chinesische Wirtschaft die amerikanische im Jahr 2050 weit überholt haben, und zwar mit einem Bruttoinlandsprodukt von 45 Billionen Dollar, verglichen mit 35 Billionen in den USA. Doch das Durchschnittsalter der Amerikaner wird niedriger sein als das aller anderen Großmächte, ausgenommen Indien.
Während die arbeitende Bevölkerung in den USA um 30 Prozent wachsen wird, fällt sie in China um drei Prozent, was enorme ökonomische und strategische Auswirkungen haben wird. Denn Chinas alternde Bevölkerung wird eine Umverteilung von Ressourcen zugunsten der Sozialsysteme verlangen und damit für eine Verlangsamung des Wirtschaftswachstums sorgen. Der wirtschaftliche Kuchen schrumpft, aber eine wachsende Zahl von Rentnern – 329 Millionen im Jahre 2050 – wird ein größeres Stück von ihm fordern. Das wiederum wird automatisch das Militärbudget schrumpfen lassen.
Wenn China nicht in der Lage ist, dieses Problem zu lösen, wie kann man dann ernsthaft erwarten, dass es Amerika als größte Militärmacht der Welt vom Thron stoßen wird? Wenn wir annehmen, dass Chinas Wirtschaft um sieben Prozent wächst – das Doppelte des historischen Durchschnittswachstums in den USA – wird sich das chinesische BIP zwischen 2007 und 2015 von 3,3 auf 6,6 Billionen Dollar verdoppeln und bis 2025 auf 13,2 Billionen klettern. Zur gleichen Zeit läge das amerikanische BIP bei einer Wachstumsrate von durchschnittlich 3,5 Prozent bei 28 Billionen Dollar. Angesichts der Fülle von politischen Herausforderungen, vor denen China steht, ist dieses Szenario weitaus realistischer als Hochrechnungen, die auf jüngeren Zahlen basieren. Es scheint, als läge noch ein weiter Weg vor China, bevor es die USA von der Spitze verdrängen kann.
Last Man Standing
Solche Hochrechnungsspielchen sind unterhaltsam, aber wenig erhellend, denn Macht ist nicht allein eine Frage von Wachstum. Was aber ist es, das ein Land mächtig werden lässt? Wirtschaftswachstum, eine große Bevölkerung und ein stabiler Militärapparat sind notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen. Warum spielen die USA in ihrer eigenen Liga?
Zum einen liegt es an der weltweit bestentwickelten militärischen Ausrüstung, unterfüttert von einem Verteidigungsbudget, das alle aufstrebenden Mächte in den Schatten stellt und Amerika befähigt, überall in der Welt zu intervenieren. Doch da ist noch mehr: ein unübertroffenes Bildungs- und Forschungswesen, das fortwährend brillante Köpfe hervorbringt. Keine der Prognosen, die China noch in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts an den USA vorbeiziehen sehen, berücksichtigt diese unspektakuläre, aber entscheidende Machtquelle. 17 der 20 weltweit besten Universitäten befinden sich in den USA; von den 50 besten sind nur elf nicht in Amerika.
Indiens zwei Spitzenuniversitäten dagegen verstecken sich im Ranking der weltbesten 500 zwischen Rang 300 und 400. China steht leidlich besser da: Seine Top-Universitäten – Nanjing, Peking und Schanghai – liegen zwischen Platz 200 und 300. In China lagen die staatlichen Bildungsausgaben im letzten Vierteljahrhundert bei 2 bis 2,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – und das bei einer Bevölkerung, die viermal größer und einer Volkswirtschaft, die viermal kleiner ist als die amerikanische. In den USA lagen die Bildungsausgaben bei sechs Prozent und damit höher als in Indien, Japan, Russland und Europa. Das gleiche Bild bei Forschung und Entwicklung: Amerika gibt prozentual beinahe doppelt soviel aus wie China – und das bei einem deutlich höheren BIP.
Bildung, Forschung und Entwicklung sind deshalb so wichtig, weil sie zukünftige Leistung bedingen. Es stimmt, dass eine wachsende Zahl amerikanischer Absolventen in den Natur- und technischen Wissenschaften im Ausland geboren ist oder in erster Generation in den USA lebt. Doch das ist keine Schwäche, sondern ein einzigartiger Wettbewerbsvorteil: Kein anderes Land der Welt lockt derart viele der besten Köpfe, insbesondere aus China und Indien, in seine Forschungslabore und Universitäten.
Uncle Sam wird’s schon richten
Ein weiterer Aspekt von nationaler Macht ist etwas, das ich einmal eine „Kriegskultur“ nenne würde. Amerika besitzt eine solche Kultur, ebenso Großbritannien. Europa dagegen – obwohl den USA in Sachen Bevölkerung, Wirtschaftsleistung und Militär entweder überlegen oder zumindest gleichauf mit ihnen liegend – verfügt nicht mehr über die Mentalität, die den Kontinent einst zum Weltherrscher hat aufsteigen lassen. In Europa sind die Armeen nicht mehr Gegenstand des Nationalstolzes; sie dienen nicht mehr als soziale Aufstiegsleitern und sind nicht mehr die wichtigsten Protagonisten, wenn es darum geht, nationale Interessen zu artikulieren. Trotz all seiner Reichtümer ist Europa kein Hauptdarsteller auf der Weltbühne mehr: Weder denkt es wie eine Großmacht noch ist es in der Lage, so schnell und entschlossen wie ein richtiger Staat zu agieren. Europa ist stolz darauf, eine Zivilmacht zu sein, die sich kraft ihres leuchtenden Beispiels erweitert und nicht mit Waffengewalt. Und warum auch nicht, solange Amerika im Notfall für Europas Sicherheit in die Bresche springt?
Was Amerika vom Rest der Welt unterscheidet, sind die Rolle, die es sich entschlossen hat, in der Welt zu spielen, und sein Sendungsbewusstsein. Das lässt sich am besten im Vergleich mit Russland zeigen, das zurückgewinnen möchte, was es verloren hat, oder mit China, das mehr möchte, als es hat. Beide Staaten streben nach mehr, aber für sich selbst, nicht für die Allgemeinheit. Egoistische Mächte wie China und Russland können nicht werden, was Amerika zu seiner besten Zeit im 20. Jahrhundert für die Welt war: Ein Land, das, indem es seine eigenen Interessen verfolgte, zugleich die Interessen der anderen befriedigte und so eine globale Nachfrage für die Leistungen schuf, die es erbrachte. Dabei handelt es sich weder um Altruismus noch Egoismus, sondern um aufgeklärtes Eigeninteresse.
Dieses Selbstverständnis machte Amerika zusammen mit seinem immensen materiellen Reichtum im 20. Jahrhundert als Nation unverzichtbar. Indem es im eigenen Interesse handelte, rettete es Europa zweimal vor sich selbst und später vor der Sowjetunion. In der Zwischenkriegszeit versuchten die USA – wiederum im Einklang mit den eigenen Wirtschaftsinteressen – abzuschöpfen, was John Maynard Keynes „die ökonomischen Konsequenzen des Friedens“ nannte, indem sie Dollars in die europäische Wirtschaft pumpten.
Amerika versorgte den Rest der Welt mit dem, was ihm selbst zum Vorteil gereichte. Allerdings geschah all das in Zeiten heißer und kalter Kriege, als schiere Notwendigkeit der Anreiz war, Verpflichtungen einzugehen und den Preis dafür zu zahlen. Was macht die USA heute so unentbehrlich?
Amerika ist eine „Weltmacht aus Notwendigkeit“. Sie besetzt den Spitzenplatz, weil es schlichtweg kein anderes Land gibt, das vergleichbare Machtmittel und Ambitionen besitzt. Es fällt schwer, sich China, Indien, Japan, Russland und die EU als Wächter des Allgemeinwohls vorzustellen. Europa kommt dem Ideal recht nahe, doch verfügt es weder über die Mittel noch den Willen, entsprechend strategisch zu handeln. Japan könnte die Mittel aufbringen, wird aber weiterhin unter den amerikanischen Sicherheitsschirm flüchten, sobald es ungemütlich wird. Indien besitzt die erforderliche Größe und Bevölkerungsdichte, doch abgesehen davon, dass es der ärmste der potenziellen Herausforderer ist, ist das Land verstrickt in einen Dauerkonflikt mit Pakistan – latent auch mit China –, der seine Ressourcen und Aufmerksamkeit bindet. China und Russland sind revisionistische Mächte, die nur im eigenen Interesse handeln. Zudem fehlt ihnen das richtige politische System. Großbritannien und die USA sind die einzig wahren liberalen Großmächte in der Geschichte. Um sich im Ausland für eine freiheitliche Ordnung einzusetzen, braucht ein Staat eine solche Ordnung daheim und muss sein nationales Interesse in eine universelle Sprache übersetzen. Mögen China und Russland auch weiterhin im Glanz der autoritären Modernisierung erstrahlen: Um die politische Phantasie der Menschen anzuregen, braucht es ein Land, das nicht nur wohlhabend ist, sondern auch demokratisch und frei.
Entfesselter Gulliver
Unter Präsident George W. Bush wurden die USA in der Welt nicht unbedingt geliebt. Angesichts der Kriege in Afghanistan und im Irak und der von den Amerikanern boykottierten internationalen Abkommen und Institutionen – von Kyoto bis Den Haag – warf man Washington vor, es missbrauche seine unipolare Machtstellung. Amerikas Autonomie, so die Botschaft des entfesselten Gulliver, sollte von der Allgemeinheit nicht kontrolliert oder eingeschränkt werden. Und doch sind die USA die wichtigste Weltmacht geblieben. Als Amerika sich in den frühen Bush-Jahren aus dem Nahost-Konflikt heraushielt, fand sich kein anderer Staat, der das entstandene Vakuum hätte füllen können. Und als die USA 2007 in Annapolis wieder in den Friedensprozess einstiegen, waren alle Beteiligten dabei; keiner anderen Macht wäre es gelungen, alle an einen Verhandlungstisch zu bringen. Auch das weltweite Bündnis, das in Afghanistan gegen die Taliban kämpft, hätte niemand anderes zusammentrommeln können. Die Sechs-Parteien-Gespräche in Nordkorea wurden von den USA geleitet; den Troika-Verhandlern Frankreich, Deutschland und Großbritannien wiederum gelang es nicht, das iranische Atomprogramm zu stoppen. Kurz: Entweder Amerika erledigt die Schmutzarbeit, oder sie bleibt liegen. Das ist knapp und präzise die Definition einer „Weltmacht aus Notwendigkeit“.
Zuletzt übernahmen 2008 Amerika und Großbritannien – und nicht etwa die G-20 – im Kampf gegen die globale Finanzkrise die Führung und setzten massiv Stimuluspakete und Finanzspritzen ein. Und das Tempo, in dem Barack Obama nach seiner Wahl im November 2008 die Herzen der Menschen auf der ganzen Welt gewann, offenbart vor allem Erleichterung über einen US-Präsidenten, der es der Welt erlaubt, Amerika wieder zu lieben.
Natürlich können die USA weder immer und überall ihren Willen durchsetzen noch bedeutet die weltweite Begeisterung für Obama bedingungslose Zustimmung zu Amerikas Einfluss in der Welt. Die „Weltmacht aus Notwendigkeit“ bleibt eine Übermacht, und andere Staaten werden versuchen, ein Gegengewicht herzustellen. China und Russland etwa schützen den Iran und Nordkorea vor schmerzlichen US-Sanktionen. Doch fehlt es beiden an jener Legitimität, die bloße Muskelkraft in echte Führung verwandelt. Obama hat diese zeitlose Kernbotschaft der Weltpolitik begriffen und verbindet Güte mit Durchsetzungskraft, Freundlichkeit mit handfesten Druckmitteln.
Weltmächte aus Notwendigkeit gewinnen immer dann an Gewicht, wenn die Nachfrage nach ihren Diensten steigt. Sie leisten das, was andere Mächte nicht leisten können oder wollen. Amerika garantiert Europas Sicherheit gegen ein erstarkendes Russland. Als Europa mit Slobodan MiloäeviŤ überfordert war, kam Hilfe aus den USA. Amerika straft jeden Staat, der im Nahen und Mittleren Osten nach der regionalen Vorherrschaft greift; es unterstützte den Irak 1980 bis 1988 im Krieg gegen den Iran und schwächte ihn dann 1991 und erneut 2003.
Nur die Weltmacht aus Notwendigkeit ist in der Lage, ein Bündnis gegen den Iran und seine Regionalmachtambitionen zu schmieden. Sie sichert das Überleben Israels, doch zugleich schauen Palästinenser und Saudis nach Washington und hoffen auf Rückendeckung gegen Jerusalem. Kann man sich China, Europa oder Russland als überzeugendere Vermittler vorstellen? Nein, denn nur die USA können sowohl Araber als auch Israelis vor unangebrachter Gutgläubigkeit bewahren.
Amerika übernimmt im Kampf gegen die Taliban in Afghanistan und Pakistan die Führung und signalisiert Islamabad dezent, dass es Pakistans Atomwaffen einkassieren wird, sollte sich das dortige Chaos zum völligen Zusammenbruch ausweiten. Daneben hat Amerika Indien in seine Einflusszone einbezogen und damit das informelle Mächtegleichgewicht vis à vis China verstärkt. Wer vom asiatischen Aufstieg träumt, sollte die strategische Tatsache anerkennen, dass sämtliche Staaten Asiens um die USA als regionalen Sicherheitsgaranten kreisen. Ob Vietnam oder Japan, Südkorea oder Australien – ganz Asien setzt auf Amerika, wenn es darum geht, China zu zügeln oder Japan von atomarer Aufrüstung abzuhalten.
Realitätsleugner werden das chinesische Wachstum weiterhin als Vorboten einer tiefgreifenden Machtverschiebung überschätzen. Doch Zahlen, Fakten und die Geschichte der gescheiterten Aufstiegsversuche früherer Herausforderer sollten sie zum Schweigen bringen. Natürlich, Imperien unterlagen immer dem Spiel der Gezeiten der Macht. Um nicht der Erstarrung zum Opfer zu fallen, die schon das Osmanische und das Habsburger Reich, das Zarenreich und die Sowjetunion zu Fall brachte, sind die USA zur permanenten Selbsterneuerung verdammt.
Im 21. Jahrhundert werden die USA jünger und dynamischer sein als ihre Rivalen. Als liberale Weltmacht können sie das internationale System zu weitaus geringeren Kosten formen als die Kolosse der Vergangenheit. Und wer wollte ernsthaft in einer Weltordnung leben, in der China, Indien, Japan, Russland oder sogar Europa das Sagen haben, obwohl sie ihren eigenen Hinterhof nicht in Ordnung halten können? Nicht einmal jene, die seit Jahrzehnten zwischen Schadenfreude und Untergangshysterie schwanken.
Josef Joffes Essay erscheint gleichzeitig auf Englisch ("The Default Power – The False Prophecy of America's Decline") in der September/Oktober-Ausgabe 2009 der Zeitschrift Foreign Affairs.
Dr. JOSEF JOFFE ist Herausgeber der ZEIT und Abramowitz Fellow am Hoover Institute der Stanford University.
Internationale Politik 9/10, September/Oktober 2009, S. 99 - 109.