Der entfesselte Gulliver
In einer unipolaren Welt trägt die Supermacht große Verantwortung
Die Politik der zweiten Amtszeit George W. Bushs zeigt: Man beugt sich den Realitäten, Multilateralismus ist kein Schimpfwort mehr, Diplomatie ersetzt Gewalt. Dem Krieg gegen den Terror wird sich Mr. Big nicht entziehen können oder wollen. Aber der Verantwortung einer Supermacht für den Rest der Welt auch nicht.
Die Frage ist uralt: Bestimmen innere oder äußere Faktoren die Außenpolitik? Gibt man dem Primat der Innenpolitik den Vorzug, sollte man die Gründe für die Ausnahmestellung der USA eruieren. Einer ist der alte republikanische Traum der „cittie upon the hill“ und „Neu-Jerusalems“ – Amerika als „Licht für die Nationen“. Ein zweiter der Begriff „Novus Ordo Saeculorum“ – etwas völlig Neues unter der Sonne. Ein dritter die Revolte gegen das „Alte Europa“, dessen in ewige Machtspiele verwickelte Potentaten den korrupten Begriff der Staatsraison vorschützten, um moralische Grundsätze zu verletzen, die sie im eigenen Land respektieren würden. Jefferson bemerkte dazu: „Für Menschen wie für Nationen gilt nur eine einzige Ethik.“ Der vierte und wichtigste Grund für die Ausnahmestellung der USA aber ist die Neigung, lieber für ein freundlich gesonnenes Umfeld zu sorgen als sich Besitz aneignen zu wollen. Von den Gründervätern über Wilsons 14-Punkte-Programm bis zur Bush-Doktrin lag es in Amerikas nationalem Interesse, international ein kompatibles, also demokratisches Milieu zu fördern. „Warum führen Republiken keine Kriege gegeneinander?“, fragte sich Thomas Paine. „Weil die Natur ihrer Regierung keine Interessen erlaubt, die sich von denen ihres Volkes unterschieden.“ James Madison entwickelte diese Theorie weiter. Wenn die Demokratie dem Frieden nützt, dann schadet der Krieg der Demokratie. „Der Krieg ist es, der die Machtanmaßung des Staates nährt“, schrieb er 1793 in seinen „Letters to Helvidius“. Wenn Amerikas Novus Ordo Saeculorum Erfolg in der Welt haben sollte, dann musste die Welt so werden wie Amerika – ein Verbund demokratischer Republiken.
Diese entscheidenden innenpolitischen Faktoren der amerikanischen Außenpolitik existierten schon zwei Jahrhunderte vor George W. Bush. Selbst wenn die Idee des demokratischen Friedens von Kant stammt, ist sie doch so amerikanisch wie der 4. Juli. „Bushismus“ ist Bestandteil des amerikanischen Nationalcharakters. Die USA verstanden sich seit jeher als Motor einer globalen Transformation. Sie versuchten, als Beispiel zu wirken, wenn die Machtverhältnisse sie darauf beschränkten. Oder forcierten Veränderungen, wenn sie dazu in der Lage waren. Wie aber sieht es in der heutigen Welt aus, in der Macht und nicht Prinzipien zählen?
Die Realität rächt sich immer. Schon sehr früh, im Krieg gegen die Briten von 1812, musste die Republik lernen, dass man wohl die „Freiheit der Meere“ von der imperialen britischen Herrschaft fordern konnte. Aber dass man auch eine Marine benötigt, die solch hehre „Milieu-Ziele“ gegen eine Macht durchsetzen kann, welche die Weltmeere beherrschte und während des Krieges halb Washington zerstört hatte. Seit 1812 – und gelegentlich auch schon davor – vermieden die USA allzu heroisches Benehmen. Während der Revolutionskriege manipulierten die Gründerväter eiskalt Europas Großmächte. Dem erklärten Gegner der Staatsraison, Thomas Jefferson, gelang es, Napoleon für nur 15 Millionen Dollar das noch französisch regierte Louisiana abzukaufen, weil er Frankreichs Schwierigkeiten während der Revolutionskriege geschickt auszunutzen wusste. Entschloss Amerika sich denn zum Krieg, wählte es seine Feinde mit Bedacht: schlecht bewaffnete Indianer, Mexikaner, die unter mieser militärischer Führung kämpften, und zentralamerikanische Republiken mit schwachen Regierungen. Diese Kriege waren klassische Beispiele für ein Handeln im Sinne der Staatsraison: Was zählte, waren Kontrolle, Sicherheit und Expansion, und nicht moralische Gründe.
Die großen Kriege jedoch focht Amerika nicht aus freien Stücken, sondern aus Notwendigkeit. Im heißen Krieg gegen Deutschland wie im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion traten die USA gegen Rivalen an, die das Gleichgewicht der Macht ins Wanken brachten. Gegen kleinere Mächte wie Nordkorea, Nordvietnam oder den Irak (1991) trat man wohl im Namen der Freiheit an. Aber wie jeder Großmacht der Geschichte ging es ihnen um die Wiederherstellung der jeweiligen regionalen Machtbalance. Als klassische Realpolitik lässt sich das dennoch nicht bezeichnen, denn all diese Kriege wurden auch im Namen eines „juste milieu“ ausgetragen. Wilhelm II. oder Hitler, Stalin oder Saddam stellten eine Bedrohung der regionalen Machtverhältnisse dar – und waren zugleich auch ideologische Gegner. Die USA handelten so rechtschaffen wie rücksichtslos. Realpolitik und Idealismus verbanden sich aufs Angenehmste.
Die amerikanische Reaktion auf den 11. September entspricht diesem Muster. Deshalb ist die Amtszeit George W. Bushs keine Zäsur, sondern Ausdruck einer Kontinuität. Genau wie Hitler oder Stalin ist auch der islamistische Terrorismus ein realer und ideologischer Feind. Dieser Feind attackierte New York und Washington. Amerika und alles, wofür es steht und was es sein will, ist ihm zutiefst verhasst. Es handelt sich um eine globale und – mit Einschränkungen – totale Herausforderung. Die Ziele Al-Qaidas sind total, schließlich will sie nichts weniger als die Zerstörung der westlichen Zivilisation. Ihre Mittel aber sind im Vergleich zur Supermacht USA glücklicherweise beschränkt.
Kein rechter oder linker, säkularer oder religiöser amerikanischer Präsident hätte sich dieser Herausforderung in ihrer globalen und totalen Dimension entziehen können. Franklin D. Roosevelt brachte Amerikas geballte Macht gegen Japan und Deutschland in Stellung, obwohl er diesen Konflikt ein Jahrzehnt lang standhaft gescheut hatte. Auch Bill Clinton, der Roosevelt der neunziger Jahre, zeigte sich zögerlich – von der gelegentlichen Bombardierung Afghanistans, des Iraks oder Sudans abgesehen. Nach dem Massenmord des 11. September jedoch, nach einem Angriff auf amerikanischem Boden, hätte auch Clinton umfassend und massiv reagiert.
Was unterscheidet George W. Bush von seinen Vorgängern? Die Veränderungen in der amerikanischen Außenpolitik sind enorm, aber sie begannen nicht mit 9/11, sondern schon zehn Jahre früher mit 12/25. Die Attacken des 11. September waren so beängstigend wie empörend und rechtfertigen schon deshalb moralisch eine harsche Reaktion. Aber der entscheidende Moment war der erste Weihnachtsfeiertag 1991 – der Tag, an dem die Sowjetunion Selbstmord durch Selbstauflösung beging. Die Ära der Bipolarität war zugunsten einer unipolaren Welt beendet. Nach dem Untergang des ideologischen Widersachers betraten die USA als entfesselter Gulliver die Weltbühne – stärker und von Bedrohungen freier denn je seit 1945.
Kühler Professionalismus statt hitzigem Eifer
„Es ist die Außenpolitik, Dummkopf“, würden die Clintonites behaupten. Solange die USA auf Moskau Rücksicht nehmen mussten, hätten weder Vater Herbert W. Bush 1991 noch dessen Sohn George W. zwölf Jahre später den Irak angegriffen. Auch Bill Clinton hätte in der harschen Welt des Kalten Krieges wohl kaum Kampfflugzeuge gegen Moskaus Protégés, die Serben, eingesetzt. Vielleicht muss man ein Neokonservativer sein, um einen Regimewechsel zu befürworten. Aber es bedarf schon einer äußerst günstigen Machtkonstellation, um 160000 amerikanische Soldaten um die halbe Welt zu schicken und einen Regimewechsel auch durchzuführen. Der Irak-Krieg war ein Krieg der Wahl – aber diese Wahl wurde aufgrund einer kühlen Analyse der Möglichkeiten und nicht aus hitzköpfigem Eifer getroffen.
George W. Bush mag ein glühender Idealist sein. Aber das war Woodrow Wilson auch. Welcher Präsident wäre das nicht, berücksichtigt man die oft pathetische Rhetorik, die die amerikanische Außenpolitik seit jeher auszeichnet? Der Unterschied zwischen der Bush-Administration und all ihren Vorgängern während des Kalten Krieges ist: Es gibt keine existenzielle Bedrohung mehr, dafür aber eine amerikanische Militärmaschinerie, die etwa die Hälfte der weltweiten Verteidigungsausgaben verschlingt.
Wie Wilson 1919 konnte auch Bush den Realitäten nach dem Sieg nicht entgehen – so schnell und brillant der Krieg 2003 auch gewonnen wurde. Und die Realitäten erlaubten wesentlich weniger Spielraum als der Krieg selbst. Ohne Frage erlitten die Despoten des Nahen Ostens einen empfindlichen Schlag. Aber der Aufbau einer Demokratie folgt anderen Regeln als ein „network-centric warfare“, der auch noch keine passable Antwort auf die asymmetrischen Kriege ist, die der internationale Terror uns aufzwingt. Verbündete, die beim Nation Building in Friedenszeiten noch wichtiger sind als in Zeiten des Krieges, stellten sich als unzuverlässig, wenn nicht schlicht halsstarrig heraus. In den USA wächst die Ungeduld, was nicht weiter verwunderlich ist. Schließlich sollen die Amerikaner einen Krieg der Wahl unterstützen, der kein Ende zu nehmen scheint. (Deshalb erzählte mir einer der klügsten Befürworter des Krieges schon im Dezember 2002, dass „wir nicht länger als 18 Monate bleiben werden“ – da war wohl der Wunsch Vater des Gedankens).
Nicht zum ersten Mal erkennen wir, welchen Beschränkungen das Mittel der Gewalt unterliegt. Jemandem die Beine brechen zu können, bedeutet noch lange nicht, dass man ihn auch Demokratie zu lehren vermag. Und wie soll man Leuten Manieren beibringen, die sich nach nichts mehr sehnen als einem Tod als Selbstmordattentäter? Dem berauschenden Aktivismus der ersten Amtszeit Bushs folgte nun die große Ernüchterung. Die Strategie der Demokratisierung vertritt die Bush-Administration während ihrer zweiten Amtszeit so nachdrücklich wie zuvor. Doch jetzt geht es um wirtschaftliche und politische Anreize statt um Militäraktionen. Von Syrien bis Ägypten, von der Ukraine bis Kirgisien zählt wieder eine Kombination aus gutem Zureden und Druck. Auch macht man sich wieder auf die Suche nach Verbündeten. Multilateralismus gilt in Washington nicht mehr als Schimpfwort. Behutsam findet der Begriff wieder Eingang in das Vokabular amerikanischer Staatskunst.
Neue, oder besser alte Gesichter in der Regierung symbolisieren diesen Wechsel von Enthusiasmus zu Mäßigung. Paul Wolfowitz, Richard Perle und Douglas Feith, alle eifrige Verfechter eines Regimewechsels, haben das Pentagon verlassen. Der erfahrene Diplomat Robert Zoellick ist jetzt Vizeaußenminister, Robert Kimmitt, ehemaliger amerikanischer Botschafter in Deutschland, wurde zum stellvertretenden Finanzminister ernannt. Condoleezza Rices Berater Philipp Zelikow spielte eine wichtige Rolle in den delikaten Verhandlungen, die zur deutschen Einheit führten. Kühler Professionalismus ersetzt hitzigen Eifer.
Ja, die Realitäten rächen sich immer, und deshalb erleben wir eine Renaissance des Realismus. War das nicht immer so? Amerikanischer Diplomatie ist es zu verdanken, dass die mächtigen Briten nach 1812 nicht mehr als Feinde, sondern als Freunde den Atlantik kontrollierten. In Jalta versprach ein vertrauensseliger Roosevelt dem sowjetischen Diktator Stalin, er würde die amerikanischen Truppen innerhalb von zwei Jahren aus Europa abziehen. Dessen Nachfolger Truman aber beugte sich den Realitäten, nahm den Fehdehandschuh auf und entwarf das brillante Konzept des containment. Der entschlossene Antikommunist Richard Nixon suchte Beziehungen zu China und beendete den Vietnam-Krieg. Und hat Ronald Reagan nicht schließlich das „Reich des Bösen“ mit Verhandlungen und damit weit geschickter in die Knie gezwungen, als dessen harsche Rhetorik je hätte vermuten lassen?
Mächtig, entschlossen – und für Demokratie
Die zweite Amtszeit George W. Bushs unterscheidet sich also sicht- und hörbar von der ersten. Aber was wird sich nicht verändern? Weder wird der Krieg gegen den Terror einfach verschwinden, noch können sich die USA einem solchen Krieg verweigern. Für sie gibt es keinen Ausweg wie für unbedeutendere Staaten. Spanien konnte sich drücken, indem es seine Truppen nach dem Bombenattentat von Madrid im März 2004 aus dem Irak abzog. Aber der amerikanische Riese kann nicht zum Zwerg schrumpfen. Die USA sind nicht einfach ein Ziel, sondern das Ziel – der „Kreuzfahrerstaat“, der vernichtet und aus der Umma, einer islamischen Weltgemeinschaft, ausgestoßen werden muss. Dem kann sich weder die Bush-Regierung entziehen noch wird sich für deren Nachfolgerin auf wundersame Weise irgendein Ausweg öffnen.
Zweitens wird uns die Kampagne zur Demokratisierung erhalten bleiben – in dieser Regierung ebenso wie in der nächsten. Diese Kampagne ist offensichtlich erfolgreich, weil die USA nach der gewaltsamen Vertreibung der Taliban und Saddam Husseins zwar noch ebenso entschlossen vorgehen, aber weniger gewaltsame Mittel einsetzen. Amerikanische Diplomaten wiesen 2004 zuerst auf die Manipulationen der Präsidentschaftswahlen in der Ukraine hin und steuerten dann den Einmischungsversuchen Wladimir Putins mit diskreten Einschüchterungen entgegen. Amerikanischer Druck (ausnahmsweise einmal in Zusammenarbeit mit Frankreich) führte zum Abzug der Syrer aus dem Libanon und ermöglichte damit eine ganz neue Dynamik. Ägyptens Präsident Mubarak erlaubte zum ersten Mal Wahlen, die den Namen auch verdienen – nachdem Washington kein Hehl daraus gemacht hatte, wie unzufrieden man mit Mubaraks Einparteienherrschaft war. Kirgisien und Georgien sind weitere Beispiele – allerdings nicht der Iran, wo im Juni 2005 mit Machmud Achmadinedschad eines der schlimmsten Produkte der islamischen Revolution die Präsidentschaftswahl gewann.
Es gibt aber noch weitere Hinweise für das Funktionieren des Projekts Demokratisierung. Von der Arabischen Halbinsel bis Zentralasien und darüber hinaus wird heftig über Demokratie debattiert. Man muss nur die Website von memri.org studieren, um inmitten der üblichen haarsträubenden antiisraelischen Propaganda Diskussionen über Reformen zu finden, die es vor dem 11. September nicht gab. Selbst die Europäer, die den Irak-Krieg der Amerikaner bis heute zutiefst verabscheuen, haben inzwischen begriffen, dass Demokratisierung vermutlich die richtige Kur für die nahöstliche Krankheit sein könnte. Die Europäer geben es nur äußerst widerwillig zu, aber auch sie haben begriffen, dass ein Scheitern der USA im Irak katastrophale Folgen nach sich ziehen würde.
Drittens bleiben die USA die stärkste Macht der Welt. Bush mag sich zu einem echten Anhänger des Multilateralismus entwickeln und sich sogar geradezu anschmiegsam benehmen. Aber die unveränderliche Tatsache bleibt bestehen, dass niemand Mr. Big mag – gleich, wer im Weißen Haus regiert. Großmächte werden respektiert, verachtet oder gefürchtet, aber niemals geliebt. Macht provoziert – und schafft sich nolens volens Feinde. Anders als unbedeutenderen Staaten ist es den USA nicht möglich, sich ängstlich in die Ecke zu drücken, und wo andere sich zurückhalten können, muss Mr. Big handeln. Ob Chinas Eintritt in den Club der Großmächte friedlich vor sich geht oder ob Iran und Nordkorea von der Weiterentwicklung ihrer Nuklearwaffen abzuhalten sind, hängt in erster Linie von der Politik des Weißen Hauses ab. Das gleiche gilt für Angelegenheiten wie Freihandel, Tsunamis, fiskalische Stabilität und sogar Klimawandel.
Doch so deutlich die Politik der USA in jedem Winkel der Erde spürbar ist, so sehr sind für alle diese Aufgaben Verbündete nötig. Das dämmert auch George W. Bush. Sein Nachfolger wird darauf aufbauen. „Große Macht heißt große Verantwortung“, sprach Onkel Ben zu Spiderman. Und Verantwortung bedeutet, für andere zu sorgen, indem man für sich selbst sorgt. Sonst wäre die „cittie upon a hill“ zwar ein sehr exklusiver, aber auch ein sehr einsamer Ort.
Dr. JOSEF JOFFE, geb. 1944, ist Herausgeber der ZEIT und Abramowitz Fellow am Hoover Institute der Stanford University. Demnächst erscheint von ihm in den USA und Deutschland „Überpower: The Imperial Temptation of America“ („Die
Hypermacht“).
Internationale Politik 1, Januar 2006, S. 31 - 35.