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01. Jan. 2006

Der diskrete Charme des Imperiums

Buchkritik

In einer meisterlichen Studie über die Wirkung von Soft Power beschreibt die New Yorker Historikerin Victoria de Grazia die „Eroberung“ Europas durch den amerikanischen Kapitalismus im 20. Jahrhundert.

Die Besucher des ersten „Weltkongresses für Geschäftstüchtigkeit“ (World’s Salesmanship Congress) erlebten am 10. Juli 1916 in Detroit einen inspirierten und sendungsbewussten Hauptredner: Amerikas „Geschäftsdemokratie“ (democracy of business) solle die Führung beim „Kampf zur friedlichen Eroberung der Welt“ übernehmen, erklärte USPräsident Woodrow Wilson den versammelten 3000 Handelsvertretern. Um dies zu erreichen, müsse es neue Standards in konsumentenfreundlichem Handel setzen.

Während auf dem alten Kontinent seit zehn Tagen die Schlacht an der Somme tobte, die am Ende über eine Million Soldaten auf britischer, französischer und deutscher Seite das Leben kosten sollte, sprach Wilson davon, dass wahres staatsmännisches Verkaufsgeschick zur Produktion von Gütern führen müsse, die die Welt wünsche, und nicht diejenigen, die sich amerikanische Geschäftsleute wünschten. „Salesmanship“ und „statesmanship“ seien verbunden, führte Wilson aus, die größten Barrieren der Gegenwart seien nicht die der Prinzipien, sondern die des Geschmacks. Am Ende gab er seinen Zuhörern die „einfache Botschaft“ mit auf den Weg: „Bewegt von dem Gedanken, dass Sie Amerikaner sind und Freiheit, Gerechtigkeit und die Prinzipien der Menschlichkeit mit sich tragen, wo immer Sie hingehen, gehen Sie in die Welt und verkaufen Sie Waren, die die Welt komfortabler und glücklicher machen und sie zu den Prinzipien Amerikas bekehren.“

Wilsons wegweisende Rede ist Ausgangspunkt der grandiosen Studie Victoria de Grazias über den „Vormarsch“ des amerikanischen „Marktimperiums“ in Europa. Der Export der US-Konsumgesellschaft auf den alten Kontinent verwandelte dessen bürgerliche Zivilisation mancherorts bis zur Unkenntlichkeit und war der Schlüssel zu jener globalen Hegemonie Amerikas, die heute vielerorts in Frage gestellt wird. Mit dieser glänzend, mit Verve geschriebenen und von neuen Erkenntnissen, aufschlussreichen Begebenheiten und sprechenden Details überquellenden Arbeit ist der an der New Yorker Columbia University lehrenden Historikerin ein Meisterwerk gelungen. Ihre Forschungen in nichtstaatlichen Archiven, in den Hinterlassenschaften von Verbänden, Unternehmen und Gesellschaften haben ganz neue Seiten dessen offengelegt, was gemeinhin mit „Amerikanisierung“ umschrieben wird.

Auf verschiedenen Themenfeldern wie die Definition von „erstrebenswertem Lebensstandard“, Kettengeschäfte, modernes Marketing, die Werbung von Großunternehmen oder Hollywoods „Star-System“ spürt de Grazia den Ursprüngen des Siegeszugs nach, zu dem der konsumorientierte US-Kapitalismus mit seinen standardisierten Waren Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa ansetzte, oft unter Applaus der kulturellen Avantgarde. So war der junge Elias Canetti entsetzt, als er bei seiner ersten Begegnung mit Bertold Brecht auf der Suche nach einem unverfänglichen Gesprächsthema über Werbung nach amerikanischer Art herzog, die Berlin „verunstalte“, und feststellen musste, dass dies den berühmten Dramatiker nicht kümmerte – ganz im Gegenteil: Für einen Werbeslogan habe ihm der Autofabrikant Steyr das neueste Modell vor die Tür gestellt.

Allerdings: Ganz so „unwiderstehlich“, wie der Titel suggeriert, war das amerikanische „Marktimperium“ trotz seiner Überwindung von Gegenmodellen wie dem „Kommando-Konsum“ Nazi-Deutschlands oder der sozialistischen Planwirtschaft im sowjetischen Herrschaftsbereich nie. Sein Triumph war oft unvollständig, kam auf verschlungenen Pfaden und in Adaption zustande. Dies zeigt beispielsweise de Grazias Fallstudie über den Rotarierclub. 1905 in Chicago als „networking“- Verein gegründet, fand „Rotary International“ in den zwanziger Jahren rasend schnell in Europa Verbreitung, so auch in Deutschland, wo Thomas Mann in München und Konrad Adenauer in Köln zu den jeweiligen Gründungsmitgliedern gehörten.

Doch während sich in den USA in den Rotarierclubs die amerikanische Mittelklasse auf die Schultern klopfte, sammelte sich in Europa die „haute bourgeoisie“ aus Geschäftswelt, Industrie und Kunst unter dem Zahnradsymbol – im deutschen Fall, um nach dem gescheiterten „Griff nach der Weltmacht“ im Ersten Weltkrieg zurück in die internationale Gesellschaft zu finden. Nichtsdestoweniger verpflanzte der Rotary-Club (Motto seit 1910: „Service above Self“) als Träger der „Regeln und Gewohnheiten der neuen kapitalistischen Geschäfts- Zivilisation“ sein „Service“- Ethos nicht nur nach Europa.

Auf die Frage sowohl nach der Funktionsweise des amerikanischen Ausgreifens als auch nach der europäischen Reaktion gibt de Grazia stets vielschichtige, abwägende Antworten. Sie zeigt damit, wie komplex die Wirkungsmächtigkeit der zuletzt so oft beschriebenen Soft Power war und ist. Es ist zu bedauern, dass sich de Grazia auf das „Verwurzeln“ der USKonsumgesellschaft in der Zwischenkriegszeit beschränkt hat und die Nachkriegszeit nur im knappen letzten Drittel des Werkes abhandelt. Auch ihr gedankenreicher Ausblick am Ende macht Appetit auf mehr.

Markierte das Jahr 1989, als mit dem Fall der Berliner Mauer der USKapitalismus einerseits die Elbe überschritt, während sich andererseits in der Pariser Opéra Comique die aus Italien stammende „Slow Food“-Bewegung international etablierte, den Wendepunkt? Hat die Konsumgesellschaft „made in USA“, die – was heute schnell vergessen wird – mit ihren materiellen und sozialen Ambitionen lange als revolutionäre Kraft wirkte, ihren Zenit überschritten, wo Ikea als Markenname Ford in den Schatten stellt, wo Woolworth im Stammland keine einzige Filiale mehr unterhält, wo sich dagegen Carrefour und selbst Aldi etablieren? Wo die einst allmächtige Werbeagentur J. Walter Thompson, deren militärisch anmutende Feldzugkarte von 1930 einst in Europa die dichtesten Aktivitäten verzeichnete, heute eine Unterabteilung der aus London gesteuerten WPP ist, und McDonald’s fast verzweifelt gegen den „brand backlash“ kämpft?

Wie immer die Antwort ausfällt: In der archäologischen Schicht von Europas 20. Jahrhundert zumindest hat Amerika – „the great imperium with the outlook of a great emporium“ – tiefe Spuren hinterlassen.

Victoria de Grazia: Irresistible Empire. America’s Advance through Twentieth-Century Europe. The Belknap Press of Harvard University Press, Cambridge und London 2005. 568 Seiten, $ 29,95 / £ 19,95.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar 2006, S. 134 - 135.

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