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01. Jan. 2006

Der Countdown läuft

Europa braucht eine Vision für das 21. Jahrhundert

Spätestens wenn Deutschland im ersten Halbjahr 2007 die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, muss klar sein, wohin der gemeinsame Weg die Europäer führt: ins Abseits weltpolitischer Bedeutungslosigkeit oder in eine Zukunft globaler Mit-Gestaltungsmacht im Interesse europäischer Werte. Die Weichen dafür müssen jetzt gestellt werden. Europas Aufgabe heißt mutige Projektion, nicht ewige Nabelschau.

Noch 15 Monate bis zum 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge im März 2007. Doch die Europäische Union ist am Vor-abend ihres bedeutenden Jubiläums in der Verfassung einer Person, die ihrer Frühverrentung entgegensteuert, wenn sie jetzt nicht noch schnell radikale Fortbildungs- und Dynamisierungsmaßnahmen unternimmt, um ihren Marktwert zu erhalten und noch weitere Jahre gestalterisch tätig sein zu können.

Europa muss sich fit machen für das 21. Jahrhundert und alte Zöpfe abschneiden. Dazu gehört vor allem eine Umsteuerung der europapolitischen Diskussion auf allen Ebenen. 15 Monate sind ein guter Zeitrahmen, um sich dieser Selbstreflexion zu unterziehen und die Bürger der Union am 27. März 2007 mit einem redynamisierten Europa-Bild auch emotional „abzuholen“.

Zeitgleich zur deutschen EU-Ratspräsidentschaft muss eine neue Vision von Europa im 21. Jahrhundert entstehen: Wo wollen. wir hin mit der europäischen Integration? Wie sieht das Europa des Jahres 2025 aus? Wie muss die EU beschaffen sein, um die Risiken des 21. Jahrhunderts zu meistern und seine Chancen zu nutzen?

Diese Vision zu skizzieren ist nicht schwierig. Denn in Dutzenden Sonntagsreden wurde bereits bekundet, dass die Mitgliedsstaaten in Zukunft nur im Rahmen der EU in der Lage sein werden, den großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu begegnen: ob Kampf gegen Terror und innere Sicherheit, ob Flüchtlingsströme oder Migrationsprobleme, ob Friedenssicherung an den Grenzen der EU, ob Milleniumsagenda oder Klimaschutz – allen ist klar, dass der nationale Arm zu kurz greift.

Europa muss mit einer Stimme sprechen, vor allem auf der internationalen Bühne. Damit dieser Satz demnächst etwas von seinem Déjà-vu- Charakter verliert, sollte mit einigen Schritten, die die EU diesem Ziel näher bringen könnten, ernst gemacht werden. Denn vielen scheint noch immer nicht klar zu sein, dass es dabei nicht um ein wenig „added value“, sondern um den schieren Erhalt europäischer Lebensgrundlagen geht.

Im Jahr 2050 werden die Europäer nur noch 4,9 Prozent der Weltbevölkerung stellen. Selbst wenn man die Türkei und einige andere Staaten, die jetzt in der Nachbarschaft der EU liegen, einrechnet, kommt Europa nicht über acht Prozent. Mit anderen Worten: Die Dynamik der Weltgeschichte wird sich unweigerlich in den nächsten Jahrzehnten in andere Regionen der Welt verlagern. Andere Zahlen sprechen eine ähnliche Sprache: 2,3 Hektar pro Person sind im mittleren Wert notwendig, um die Ernährung auf heute üblichem Niveau zu sichern. Die biologische Kapazität der Erde liegt aber nur bei 1,9 Hektar pro Person. Davon verbraucht die EU heute 5 Hektar pro Person (die USA sogar 9,6 Hektar), die Least Developed Countries und Afrika verbrauchen hingegen nur 0,8 Hektar. Von weltweiter Verteilungsgerechtigkeit, die die Welt von morgen so dringend braucht, kann also keine Rede sein. Ein Europa, das sich dafür einsetzt, darf kein nach innen gekehrtes, schwaches, nur mit sich selbst beschäftigtes Europa sein.

Europas Aufgabe ist daher, möglichst schnell seine noch vorhandene politische und ökonomische Machtposition zu nutzen, um die Welt nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, effektiver Multilateralismus, soziale Marktwirtschaft, Nachhaltigkeit, Good Governance: Um diesen Prinzipien international zum Durchbruch zu verhelfen – für eine Zeit, in der Europa vielleicht nicht mehr soviel Einfluss auf das Weltgeschehen haben wird wie heute –, muss jetzt gehandelt werden. Schon Jean Monnet wußte, dass die europäische Integration nur ein erster Schritt auf dem Weg in eine gemeinsame Welt sein könne. Denn, um mit Thomas Friedman zu sprechen: „Die Welt ist flach.“1

Schluss mit dem Vogel-Strauß-Prinzip

Die Realität scheint indes eine andere zu sein, und dies ist zutiefst beklagenswert. Renationalisierungstendenzen sind derzeit in allen EU-Mitgliedsstaaten zu spüren, Deutschland nicht ausgenommen. Berlin hat sich mit seinem Begehren nach einem deutschen Sitz im UN-Sicherheitsrat und durch seine jüngste Russland-Politik europäische Sympathien, vor allem bei den kleineren Nachbarstaaten, verscherzt. Bundeskanzlerin Merkel wird viel Fingerspitzengefühl brauchen, um das Vertrauen in ein europäisch gesinntes Deutschland wieder zu stärken.

Andere Alarmzeichen sind der Ausgang der polnischen Wahlen2 und die Schwierigkeiten der britischen Ratspräsidentschaft, der EU einen entscheidenden Modernisierungsschub zu geben. Zwar hat sie es zur allgemeinen Überraschung geschafft, quasi in letzter Sekunde doch noch eine Einigung über den nächsten Finanzrahmen von 2007 bis 2013 zu erzielen, indem sie selbst Zugeständnisse hinsichtlich des „Britenrabatts“ machte. Dabei hat sie nachhaltige Verstimmungen der osteuropäischen Neumitglieder, die auf Transferzahlungen aus Brüssel für ihre begonnenen Modernisierungsprojekte angewiesen sind, gerade noch abfangen können.

Aber Europa leidet noch immer unter den Folgen des französischen und des niederländischen Nein zur europäischen Verfassung; mehr noch als die rechtlich-institutionellen Fragen, die sich durch diese Ablehnung auftun, macht die depressive Stimmungslage, die sich wie Mehltau ausbreitet und den Europäern jede Energie zu rauben scheint, der Union zu schaffen. Frankreich fällt nach diesem Votum seiner Bürger als europäische „Führungsnation“ auf absehbare Zeit aus; wirtschaftliche Schwäche und brennende Vorstädte taugen in dieser Kombination nicht als Vorbild. Ohne Frankreich indes kein deutsch-französischer Motor: Es war immer ebenso unmöglich wie unratsam für Deutschland, in Europa allein zu entscheiden. Kurz: Die Großen fallen alle aus, die Kleinen halten alle still. Spieltheoretisch ist Europa damit in einer No-Win-Situation, in der jeder sich auf den anderen verlässt, aber selbst das Spiel nicht vorantreibt, sondern unterminiert. Europa ermangelt der Führung. Dies ist umso bedenklicher, als viele Aufgaben unabdingbar europäischer Führungskraft bedürfen. Die weitere Stabilisierung des Balkans, die weitere Demokratisierung der Ukraine, die kontinuierliche Transformation der Türkei, die Befriedung des Nahen Ostens, eine gemeinsame Migrations-, Energie- und Antiterrorpolitik sind Projekte, denen sich die EU nicht entziehen darf. Vor allem Deutschland und Frankreich müssten hier dringend das Europa von morgen (vor-)denken.

Europa braucht eine neue Debatte

Das Europa des 21. Jahrhunderts wird ein anderes Europa sein als das des 20. Jahrhunderts, und andere Dinge werden prioritär sein. Die Nahrungsmittelsicherheit, Grundidee für die Gemeinsame Agrarpolitik in den Römischen Verträgen, kann nicht mehr das tragende Motiv für das moderne Europa sein; Demokratie- und Stabilitätsexport hingegen schon. Es ist wahrscheinlich, dass die Erfolge der europäischen Integration in den nächsten Jahren nicht in ihrer inneren, sondern in der Entfaltung ihrer äußeren Dynamik liegen. Darum sollte sich die Europa-Diskussion auch auf diesen Bereich konzentrieren. Europa braucht eine Geostrategie, und zwar nicht aus Altruismus, sondern weil die europäische Lebensgrundlage von der Gestaltung der Nachbarschaft im Süden und im Osten abhängt. Das heißt nicht, die Diskussion über die Europäische Verfassung ad acta zu legen. Aber es heißt, unterhalb der Ebene der Europäischen Verfassung möglichst viel durch pragmatische Schritte zu erreichen. Denn Europa hat nicht nur ein Demokratiedefizit, sondern auch ein Output-Defizit. Einige konkrete Schritte könnten helfen, die „eine Stimme“ Europas in der Welt für alle vernehmbar zu machen. Politischer Wille würde reichen. Europa braucht neue Ambitionen und vielleicht sogar eine neue Utopie – so wie auch der Euro zu Beginn ein utopisches Projekt war.

Insbesondere sechs Projekte wären vorstellbar, die (unterhalb der Ebene der Verfassung) der EU eine neue Rolle und Sichtbarkeit in der Welt verschaffen könnten:

1. Bündelung der europäischen Stimmanteile im IWF

Eine Bündelung der europäischen Stimmanteile im Internationalen Währungsfonds (IWF) würde bedeuten, dass die EU die meisten Stimmanteile hätte und laut Statuten damit auch der Sitz des IWF nach Europa verlegt werden könnte. Die symbolische Tragweite eines solchen Schrittes sollte nicht unterschätzt werden. Der gestalterische Einfluss Europas auf die Welt würde gestärkt, wenn diese wichtige Institution in der EU angesiedelt wäre.

2. „Eurozone“ in der G-8

Je nachdem, welche volkswirtschaftlichen Basisgrößen angelegt werden, fallen Italien, Deutschland und Frankreich um das Jahr 2008 aus den Kriterien für eine Mitgliedschaft in der G-8 heraus, während die so genannten BRIC-Staaten (Brasilien, Russland, Indien und China) mit Ausnahme Russlands, das schon zur G-8 gehört, dabei sind, sich für die Runde der weltweit wichtigsten Industrieländer zu qualifizieren. Eine Lösung könnte sein, künftig als Eurozone in der G-8 vertreten zu sein. Die Sichtbarkeit der EU würde deutlich erhöht; die Bürger würden erkennen, dass die EU ihre wirtschaftlichen und sozialen Vorstellungen in der Welt vertritt.

3. Bessere UN-Vertretung

Die Vertretung der EU in den Vereinten Nationen muss verbessert werden. Dabei sollte man sich nicht vorrangig um einen (derzeit nicht möglich erscheinenden) permanenten europäischen Sitz im Sicherheitsrat bemühen. Aber die europäische Vertretung mit Blick auf die nicht permanenten Sitze im Sicherheitsrat muss verbessert und an die Realität angepasst werden. Eine Einteilung bei der Vergabe in EU und Osteuropa ist nicht mehr zeitgemäß.

4. Europäische Militärtechnologie

Die Anstrengungen der European Defence Agency müssen verstärkt werden. Es geht dabei vor allem um Ressourcenbündelung im Bereich militärischer Spitzentechnologie (wie etwa beim gemeinsamen Satellitenaufklärungssystem Galileo). Da eine Erhöhung der nationalen Verteidigungshaushalte nicht möglich ist, muss das verfügbare Geld besser ausgegeben werden, und zwar so, dass kein Land Technologie- oder Sicherheits-Trittbrettfahrer der anderen EU-Mitgliedsländer wird.

5. Europäische Armee

Langfristig muss die Idee einer europäischen Armee Gestalt annehmen. Die EU verfügt zusammen über 1,8 Millionen Soldaten. Davon sind aber maximal vier Prozent einsatzbereit. Dies ist weder effizient noch sicherheitstechnisch vertretbar.3 Diesen Zustand zu verändern, hat nichts mit Machtambitionen zu tun. Es sei darauf hingewiesen, dass gerade die USA sich ein Europa mit militärischen Fähigkeiten als Partner wünschen. Der teleologische Streit, dass jede Weiterentwicklung der europäischen militärischen Fähigkeiten transatlantische Spannungen verursachen könnte, sollte daher beigelegt werden. Die USA sind längst der externe „Föderator“ der ESVP, sie werden aber von europäischer Seite oft noch als bequemer Vorwand benutzt, um keine Anstrengungen auf diesem Feld unternehmen zu müssen.

6. Europäischer Diplomatischer Dienst

Unabhängig von der Ratifizierung der Europäischen Verfassung sollte der Ausbau des „Europäischen Diplomatischen Dienstes“ vorangetrieben werden. Ein europäischer Außenminister wäre endlich die symbolische „eine Stimme“ der EU, auch wenn diese Person erst über Jahre in diese neue Rolle hineinwachsen müsste.

Die EU ist nicht statisch

Europa kann nicht zurück, sondern muss sich nach vorne entwickeln. Zugespitzt formuliert sollte es ein Ziel sein, spätestens aus Anlass des 50. Jahrestags der Römischen Verträge im März 2007 eine Art Redefinition des Projekts Europas vorzunehmen. Das Europa des 21. Jahrhunderts muss ein solidarisches Europa sein, aber nicht notwendigerweise eins der Redistribution. Ein neues Europa erfordert auch eine Reallokation von Ressourcen für Zukunftsaufgaben anstatt für die Landwirtschaft, die noch knapp die Hälfte des EU-Budgets ausmachen. Der EU-Haushalt muss für Europäische öffentliche Güter eingesetzt werden, sprich für Forschung, Entwicklung, Infrastruktur, Bildung, Technologie, gemeinsamen Grenzschutz, militärische Fähigkeiten. Nur so wird das EU-Budget nicht mehr zum Gegenstand der Verfechtung nationaler Interessen. Der im Dezember erzielte Durchbruch reicht dazu immer noch nicht aus. Eine deutliche Reduzierung des Anteils der Agrarausgaben am Gesamtbudget steht jetzt frühestens ab 2008/9 wieder auf der Agenda. Und es ist mehr als unklar, ob dann erzielte Beschlüsse noch vor 2013 wirksam werden.

Diese Diskussion einer Redefinition Europas muss angestoßen werden, und sie verlangt mehr Projektion als Retrospektive. Die derzeitige Europa-Diskussion ist in vielen Ländern, auch in Deutschland, zu „statisch“, tendenziell rückwärts gewandt und immer noch verfangen in Konzepten der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts (Stichwort Kerneuropa). Größe und Öffnung werden a priori als Gefahr gesehen, nicht als Chance. Der Wunsch nach Begrenzung und Festlegung einer „Finalität“ ist groß. Das ist verständlich, aber zu kurz gedacht. Denn gerade Europas „Nicht-Festgelegtsein“, seine Flexibilität, seine ungebrochene Attraktivität für die Nachbarn von Nordafrika bis ans Schwarze Meer ist nicht Europas Schwäche, sondern im Gegenteil seine größte Stärke. Es erlaubt der EU nämlich, sich jeweils neuen Gegebenheiten anzupassen und das Beste für sich daraus zu machen.

Die Finalität Europas bestimmen zu wollen, hieße, der EU den Todesstoß zu versetzen. Europa ist nicht statisch! Europa ist Prozess und Projekt, sein Ausgreifen – auch geographisch – in neue Räume ist Chance und Wahrnehmung von Gestaltungsspielräumen. Europa sollte sich daher schon jetzt darauf vorbereiten, dass in der nächsten Dekade eine neue Erweiterungsrunde ansteht, die den Balkan und die Türkei umfassen wird. Die institutionelle Reform muss damit bis Ende dieser Dekade abgeschlossen sein. Spätestens zeitgleich zur nächsten Kommission und zur Neuwahl des Europäischen Parlaments im Jahr 2009 muss diese institutionelle Reform auf den Weg gebracht worden sein. Der deutschen EU-Ratspräsidentschaft 2007 kommt damit eine große Verantwortung zu. Deutschland ist derzeit das einzige große Land der EU mit wahrhaft gemeinschaftlicher Ausrichtung. Deutschlands Energie wird entscheidend sein, wenn es darum geht, die EU wieder auf Integrationskurs zu bringen. Verlassen kann sich Deutschland dabei auf eine gewisse Schwerkraft, die die Integration selbst entfaltet: 2007 kommen die zehn Neumitglieder in den Schengen-Raum; vielleicht sind bis 2010 vier weitere EU-Staaten Mitglieder der Eurozone.

Die Erweiterungsdynamik zuzulassen bedeutet nicht den Verzicht auf eine politische Union. Aber Europa braucht eine neue Synthese zwischen den Anhängern von Kerneuropa und denjenigen, die eine europäische Geostrategie einfordern. Konkrete Möglichkeiten der partiellen Mitgliedschaft in der EU (Mitglied im Schengen-Raum, Mitglied im Binnenmarkt, Mitglied im Euro) unterhalb der Ebene der Vollmitgliedschaft sollten dazu entwickelt werden. Das Konzept einer partiellen Mitgliedschaft könnte die Erweiterungsskepsis in der EU-25 mindern und gleichzeitig für die betroffenen Länder eine Anbindung schaffen, ohne sie mit dem vollen acquis communautaire zu überfordern. Die Konzepte der variablen Geometrie und der verstärkten Zusammenarbeit sind richtig. Sie existieren bereits (z.B. die G-5 im Bereich der Innen- und Justizpolitik) und sollten weiter ausgebaut werden. Nur darf die Gruppenbildung keinen exklusiven Charakter annehmen.

Die Kosten der Nicht-Erweiterung

In diesem Zusammenhang braucht Europa auch eine Debatte über die „Kosten der Nicht-Erweiterung“ (ähnlich des Ceccini-Berichts von 1988, der damals errechnet hatte, dass Europa ohne den Binnenmarkt ca. fünf Millionen Arbeitsplätze verloren gehen würden). Es wird sehr viel über die Kosten der Osterweiterung geredet. Notwendig aber wäre eine Debatte über die politischen, geostrategischen, ökonomischen und kulturellen Kosten einer Nicht-Erweiterung für Europa. Notwendig wäre, viel deutlicher zu machen, dass Größe auch Stärke bedeutet und allen EU-Mitgliedern gleichermaßen nutzt.

Politisch würde sich die EU durch die Verweigerung von Erweiterungs-chancen Einflussräume und die Ausübung von transformativer Macht durch die Perspektive auf EU-Mitgliedschaft vergeben. Die europäischen Bürger sollten stolz darauf sein, dass sie ein attraktives politisches Gemeinwesen mit Vorbildcharakter geschaffen haben, das die Ausdehnung seiner Werte und Standards im politischen und ökonomischen Bereich sichert. Wichtig ist, sich klar zu machen, dass weitere Staaten, die der EU beitreten werden, nicht in die heutige EU zu heutigen Bedingungen kommen. Es wird, um nur ein Beispiel zu nennen, nicht mehr darum gehen, die Türkei vollständig in die europäische Agrarpolitik zu integrieren. Darum sind auch darauf gerichtete Kostensimulationen obsolet. Denn bis die Türkei – in zehn bis 15 Jahren – beitritt, müssen sowohl die Gemeinsame Agrarpolitik als auch die türkischen Agrarstrukturen reformiert sein.

Ökonomisch hieße Nicht-Erweiterung Verzicht auf die Eingliederung von Wachstumsregionen in den Europäischen Binnenmarkt und deren Regulierung durch europäische Standards. Grenzstaaten der EU verschwinden nicht von der Landkarte, wenn sie nicht in die EU kommen. Soziales und ökonomisches Dumping könnte gerade dann an den Grenzen stattfinden, wenn die EU keine Regulierungskapazitäten hätte: Andere Staaten könnten dann nämlich nicht mehr durch die Akzeptanz der EU-Binnenmarktregeln auf die sozialen und wirtschaftlichen Standards der EU verpflichtet werden.

Die kulturelle Dimension zukünftiger Erweiterungen zeigt sich insbesondere mit Blick auf die Türkei. Kulturell würde sich die EU, wenn der Türkei-Beitritt scheitert, die Chance vergeben, einen Beitrag zur Modernisierung des Islams zu leisten. Zu Beginn eines Zeitalters, das zunehmend von einem Konflikt zwischen Westen und Islam beherrscht zu sein scheint, hätte die EU durch die Aufnahme der Türkei die einzigartige Chance, einem muslimischen Land die Hand zu reichen und es damit gleichzeitig auf ihre universellen Werte zu verpflichten.

Dies wäre ein Meilenstein auf dem Weg zu einer transkulturellen und transreligiösen Kooperation, der mit neuen Ansätzen der Integrationspolitik innerhalb der EU verbunden werden muss. Denn Europa hat keine andere Wahl als eine Politik der Verständigung und der Einbindung: Seine ganze Nachbarschaft im Süden und Südosten ist muslimisch. Kurz: Die Türkei nach Europa zu führen hieße, Samuel Huntingtons Prophezeiung vom kommenden „Kampf der Zivilisationen“ praktisch zu widerlegen. Vielleicht ist dies die wichtigste außenpolitische Frage des 21. Jahrhunderts.

Dr. ULRIKE GUEROT, geb. 1964, arbeitet als Senior Transatlantic Fellow beim German Marshall Fund of the United States in Berlin. Zuvor war sie Leiterin der Arbeitsstelle Europa im Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.
 

  • 1Thomas L. Friedman: The World is flat, New York 2003.
  • 2Siehe auch den Beitrag von Basil Kerski in diesem Heft, S. 76–83.
  • 3European Defense Integration. Bridging the Gap between Strategy and Capabilities. CSIS. Initiative for a renewed Transatlantic Partnership. Lead Investigators: Michèle A. Flournoy und Julianne Smith. Contributing Authors: Guy Ben-Ari, Kathleen McInnis and David Scruggs, Oktober 2005.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar 2006, S. 70 - 75.

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