Denken vor Publikum
Die Flüchtlingskrise zeigt: Politik muss von Grund auf neu ansetzen
Nichts hat Gewissheiten so erschüttert wie die Flüchtlingsfrage. Die Grenzen zwischen Innen- und Außenpolitik sind aufgelöst, mit herkömmlichen Mitteln ist dem Problemgewirr nicht beizukommen. Rückzug scheint vielen eine sichere Option. Dabei müsste Europa sich jetzt der Verwerfungen annehmen, die es mit angerichtet hat.
Die deutsche Politik taumelt, kein Zweifel. An der Flüchtlingsfrage doktert sie herum, schlägt diese und jene Maßnahme vor. Fast allen ist klar, dass vieles davon nur symbolischen Wert hat, fast alle wissen oder ahnen zumindest, dass sie von einer „Lösung“ des Problems noch sehr weit entfernt sind. Der schlichte Verstand lehrt ja, dass das komplexe Problemgewirr, das hinter der Flüchtlingsfrage steht, in Wochen, Monaten, Jahren gewiss nicht zu entwirren sein wird. Und weil die Politik taumelt, wirft man ihr dieses Taumeln vor. Weil aber die Kritiker, die diesen Vorwurf erheben, auch keine Ahnung haben, wie denn das Problem aus der Welt zu schaffen sei, ist das ein langweiliges, dummes und selbstreferenzielles Spiel. Wer es spielt, verpasst womöglich einen höchst spannenden Findungsprozess.
Zu Anfang des 19. Jahrhunderts brach Heinrich von Kleist – ein heller, aber unordentlicher Geist – eine Lanze für das Unausgereifte, noch in Gärung Befindliche. In seinem Fragment gebliebenen Aufsatz „Über das allmähliche Verfertigen der Gedanken beim Reden“ trat er der allgemeinen Überzeugung entgegen, wer rede, müsse seine Gedanken zuvor säuberlich so geordnet haben, dass sie ihm in logischer Folge über die Lippen kommen. Nein, sagt er, es gehört zur Besonderheit des Kommunikationswesens Mensch, dass es fähig ist, in der Mitteilung an einen anderen, an den Nächsten dem in ihm aufflackernden Gedanken auf die Sprünge zu helfen. Kleist spricht von der „verwegensten Begeisterung“, die den Redenden zu neuen Ufern, neuer Klarheit und ungeahntem Mut mitzureißen vermag. Es sieht ein wenig so aus, als sei die Politik – in Deutschland zumal, wohl aber auch in ganz Europa – gerade dabei, ihre Gedanken und Entscheidungen zur Flüchtlingsfrage allmählich und vor allem in aller Öffentlichkeit zu verfertigen. Zieht man das obligatorische Parteiengehakel und den nicht minder obligatorischen Hang ab, mit aufgeplusterten Teillösungen brillieren zu wollen – dann fällt der Blick auf ein politisches Personal, das von der Wirklichkeit überwältigt ist, das stammelt und allmählich ein Gespür dafür bekommt, vor einer Aufgabe zu stehen, die man mit dem Griff in den bekannten Instrumentenkasten nicht bewältigen kann.
Europas Selbstbezogenheit
Man blickt in die – sonst vor fremden Blicken abgeschirmte – Werkstatt der Politik. Es wird wild experimentiert, alle laufen wie die Hühner durcheinander. Am auffälligsten ist das bei der deutschen Bundeskanzlerin. Sie bewahrt zwar die Ruhe, aber ihr ist eine fast jugendliche Gespanntheit anzumerken, als spüre sie, dass gerade Neuland betreten wird. Außenpolitik macht sie ja schon lange – jetzt hat sie, eigentümlich verwundert und fast naiv, gesagt: Ja, man spüre jetzt, dass uns das, was in Syrien, Afghanistan, Libyen etc. geschehe, wirklich angeht. Es liegt auf unserem Tisch. Es ist wie die andere Seite von uns selbst. Außen- kann man von Innenpolitik nicht mehr trennen. Das sagen Politiker und Wissenschaftler in ihren rationalen Diskursen schon lange. Jetzt aber ist es unmittelbar zu spüren. Wenn Politiker zurzeit sichtlich um Worte und Gedanken ringen, dann werden sie damit natürlich nicht dem herkömmlichen Bedürfnis der Bürger und der Kritiker nach Klarheit und auch nicht dem Bedürfnis gerecht, geführt zu werden. Doch die brodelnde Offenheit, die in die Küche der Politik Einzug gehalten hat, hat auch ihren großen Charme. Politik muss nun sichtlich mehr als Verwaltung und Anwendung bekannter Regeln sein. Sie muss gewissermaßen von Grund auf neu ansetzen.
Natürlich besteht die Gefahr, dass am Ende die Routine obsiegt. Und das geschieht ja leider auch: teils noch, teils schon wieder. Es lohnt daher, etwas grundsätzlicher anzusetzen. Bei der deutschen, bei der europäischen Selbstbezogenheit. Wahrnehmung und Bewusstsein passen sich in der Regel nur sehr langsam und verzögert der Wirklichkeit an. Als 1918/19/20 nach dem Ende des Ersten Weltkriegs vier Reiche von der Bühne der Geschichte abtraten, war – nicht zuletzt durch den Eintritt der USA in den Großen Krieg – das lange Zeitalter zu Ende, in dem Europa die Weltgeschichte bestimmte und sich geistig wie wirtschaftlich überaus produktiv als Zentrum des Globus sehen und bewundern konnte. Doch fast ein Jahrhundert später ist diese unabweisbare Erkenntnis den Europäern noch immer nicht in Fleisch und Blut übergegangen. Das kann man etwa daran erkennen, dass im europäischen Bewusstsein der Zweite Weltkrieg am 8. Mai 1945 endete; die für den weiteren Lauf der Welt so entscheidende Schlussphase im pazifischen Raum gehört nicht einmal für die involvierten Nationen, vor allem die Kolonialstaaten Frankreich und Großbritannien, zum Kernbestand der Erinnerung.
Und so ging es noch lange weiter. Das größte Fest feierte diese Selbstbezogenheit in und nach dem Moment, in dem sich der Kommunismus aus der Geschichte abmeldete. Auch wenn er im nur halb europäischen Russland sein Gravitationszentrum hatte, war er eine ganz und gar europäische Angelegenheit – nicht nur, weil die Ideen dazu aus Frankreich, Deutschland, Italien und der Donaumonarchie kamen. Der Kommunismus war von vielen seiner -geistigen Schöpfer als die Vollendung der Aufklärung gedacht, die trotz ihres universalistischen Ansatzes eine originär europäische, christliche Traditionen bekämpfende und beerbende Geistesbewegung war. 1989 schien gewisser-maßen das ganze böse und katastrophische Erbe der Welt gebannt und bestattet zu sein. Der faschistische und nationalsozialistische Totalitarismus, der einen Teil der nationalistischen Traditionen des 19. Jahrhunderts aufgesogen hatte, war längst niedergerungen, er hatte jeden Kredit und seine Kraft verloren. Nun, 1989, war auch sein Gegenspieler, der totalitäre Kommunismus, zerschellt. Und es schien so, als habe nun jene schwache und doch mächtige Kraft gesiegt, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum je zum Zuge gekommen war: die evolutionär unwahrscheinliche Kraft des Liberalismus, der Gewaltenteilung, der repräsentativen Demokratie. Der zum Buchtitel gewordene Spruch vom „Ende der Geschichte“ war zwar nie wörtlich gemeint gewesen – aber eigentlich dachten viele doch, die Menschheit hätte jetzt das Gröbste hinter sich. Die Menschheit? Wer so dachte, dachte in den geistigen Grenzen Europas: Europa als pars pro toto für die ganze Welt. Im Rückblick ist kaum zu verstehen, dass so vieles übersehen wurde, als sei es gar nicht existent: die Folgen des Kolonialismus, der schon in Gang befindliche rasende Aufstieg Chinas und die überraschende Vitalität des Religiösen und einer sich auf sie berufenden Gewaltpolitik, um nur drei Beispiele zu nennen.
Man kann nicht mit dem Dreirad auf die Datenautobahn
Die ganze Diskussion über den rechten Umgang mit der Flüchtlingsfrage leidet unter dieser geistigen Selbstbezogenheit. Natürlich, ein Politiker ist nicht für die Welt, sondern für sein Land verantwortlich. Aber da beginnt bei der Flüchtlingsfrage (und nicht nur bei ihr) schon das Problem. Die Migration scheint heute eine Durchdringungskraft erreicht zu haben, dass ein Politiker, der nur sein Land und nur seine Bürger im Auge hat, wie einer wirkt, der sich mit dem Dreirad auf die Datenautobahn begeben will. Horst Seehofer, das sollte man ihm abnehmen, will seine Bayern vor Unheil bewahren. Indem er aber beharrlich nur von Abwehr, Sicherung der Grenzen und dem oberen Rand der Belastbarkeit spricht, pflegt er – trotz einiger fast apokalyptischer Untertöne – ein geradezu biedermeierliches Weltbild. Als müssten wir nur aufpassen und auf der Hut sein, dann würden wir unser Vaterland schon beisammen halten können.
Noch herrscht innerhalb von Europa ein heilloses Durcheinander. Der -Süden gegen den Norden, der Osten gegen den Westen. Und jeder einzelne Staat versucht – Deutschland diesmal gottlob ausgenommen – so wenig wie möglich vom Flüchtlingsproblem tangiert zu werden. Das mag Land für Land zwar verständlich sein, hat aber mit Vernunft nichts zu tun. Denn jeder klar Denkende kann wissen, dass es sich um ein gemeineuropäisches Phänomen handelt, das auch nur gesamteuropäisch angegangen werden kann. Kommt es nicht dazu, muss das auch ohne nur einen einzigen Populisten unweigerlich das Zerbröseln der Europäischen Union befördern.
Ist dieses Problem schon schwer genug, wird es von einem weiteren überragt: dem Problem der so genannten Fluchtursachen. 60 Millionen Flüchtlinge gibt es zurzeit auf der Welt, und ein Teil von ihnen – nicht der größte – wird auch weiterhin versuchen, nach Europa zu gelangen. Die Gründe dafür, dass Menschen fliehen und ihre Heimat auch ohne politische Verfolgung verlassen, sind vielfältig. Es wäre irreal zu glauben, in absehbarer oder auch nur etwas fernerer Zeit ließen sich die Miseren in Luft auflösen, die so viele Menschen auf Wanderschaft zwingen. Und selbst wenn, die Migration nähme kein Ende. Denn es geht um das wirkliche Leben vieler wirklicher Menschen, die allesamt über nur ein Leben verfügen. Auch die besten Pläne, in ihren Ländern eine nachhaltige und sich selbst tragende Entwicklung in Gang zu setzen, könnten nicht viele von ihnen zum Bleiben veranlassen. Wenn es nun allerorts heißt, es gelte – um Europas Grenzen sichern zu können –, zuvörderst, „die Fluchtursachen zu bekämpfen“, dann ist das zwar allgemein richtig, hilft heute und morgen aber keinen Schritt weiter. Wir sollten so ehrlich sein, das auch auszusprechen. Zudem: Die offene Welt des globalen und digitalisierten Zeitalters wird zwar nach wie vor viele Heimaten kennen; sie wäre aber auch ohne alle Fluchtursachen eine Welt der Migration.
Klar benennen, was historisch schiefgelaufen ist
Soll den Fluchtursachen ernsthaft zu Leibe gerückt werden, dann bedürfte es in der Tat einer Politik, die den Unterschied zwischen Innenpolitik und -Außenpolitik nicht mehr kennt. Da jeder von seinem Ort aus – von der Kommune, dem Land, dem Staat – denkt, wird das unendlich schwierig werden. Wir haben die Welt nicht auf dem Schirm, und die ganze politische Philosophie, Kant letztlich eingeschlossen, hat sie auch nicht auf dem Schirm. Das war einmal berechtigt, ist es jetzt aber nicht mehr, wo die Welt, bei Weitem nicht nur in Gestalt von Migranten, zu uns kommt. Politik neu denken: Das steht an. Nicht visionär, sondern strikt realistisch: also ohne den Glauben an die unbezwingbare Kraft der guten Idee und des guten demokratischen Beispiels, der in den vergangenen 20 Jahren so viele Versuche begleitete, Demokratie und Rechtsstaat zu exportieren. Afghanistan, Irak, Libyen: Diese Versuche sind gescheitert. Soll das Bemühen, die Welt etwas sicherer zu machen, Erfolg haben, setzt das wohl voraus, dass sich die westliche Welt Klarheit verschafft über das, was schiefgelaufen ist. Ein einziges, historisch weit zurückreichendes Beispiel soll genügen, um ein paar Hinweise zu geben.
Der Phantomschmerz des Gebietsverlusts
Als im vergangenen Jahr des Beginns des Großen Krieges vor 100 Jahren gedacht wurde, spielte auch in den meisten grundlegenden Werken, die aus diesem Anlass zum Thema erschienen, der Untergang eines Reiches, der am Ende des Krieges geschah, allenfalls eine marginale Rolle: der Untergang des Osmanischen Reiches. Und auch die ihm folgenden Versuche der politischen Neuordnung von dessen verbliebenem Territorium blieben unbedacht. Auch hier waren es 1919/20 die Pariser Verträge, die neues Unheil zu schaffen begannen. Weil es – nicht notgedrungen übrigens – an der Seite des Deutschen Reiches gestanden hatte, gehörte das Osmanische Reich zu den Verlierern des Krieges. Einst hatte es sich von der Türkei nach Süden und Westen bis zum heutigen Marokko hin gestreckt. Schon länger war seine Macht am Schrumpfen. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs stand die ganze Kette der nordafrikanischen Städte von Ceuta im Westen bis Port Said im Osten unter der Herrschaft oder Schutzherrschaft europäischer, christlich geprägter Mächte: Spanien, Frankreich, Italien und Großbritannien.
Wegen der Niederlage im Krieg und wegen des Genozids an den Armeniern hatte die „Pforte“ 1918/19 denkbar schlechte Karten. Auch deswegen, weil die Siegermächte von 1918 eine Regel missachteten, die Henry Kissinger in seiner großen Studie „Das Gleichgewicht der Großmächte“ als das A und O jeder Nachkriegsdiplomatie bezeichnet hat: die Regel, dass jede Friedenslösung sich des Verlierers annehmen und ihm einen Weg aus der Niederlage eröffnen muss. So verlor die „Pforte“ alle Gebiete, die nicht zum Kernbestand der heutigen Türkei gehören: Syrien, Jordanien, Libanon, Mesopotamien, Palästina, Saudi-Arabien. Und selbst innerhalb der Türkei verlor sie vorübergehend Territorien, etwa an die Kurden, aber auch an Franzosen wie Italiener, und war im Prinzip auf Zentral-Anatolien geschrumpft. Dass sie das wie auch die Verurteilung von 13 Verantwortlichen für den Genozid an den Kurden hinnahm, gab der jungtürkischen Bewegung neuen Auftrieb, die am Ende siegte und damit die jahrhundertelange Tradition des Osmanischen Reiches beendete. In dem neuen Staat Atatürks saß von Anfang an ein Stachel: der Phantomschmerz des Gebietsverlusts. Das gab dem laizistischen Staat Türkei bis auf den heutigen Tag einen aggressiven Zug. Die westliche Welt ist daran nicht unschuldig.
Viel schlimmer noch waren die Folgen für die außertürkischen Territorien des Osmanischen Reiches. Zwar wurde ihnen in den Pariser Verträgen der Vision des amerikanischen Präsidenten Woodrow folgend ausdrücklich das allmählich zu verwirklichende Recht auf Selbstbestimmung und das hieß: auf Staatsbildung zugestanden. Doch so kam es nicht, denn guter Wille und Interessen lagen im Konflikt miteinander und letztere obsiegten weithin. Schon während des Krieges hatten Frankreich und Großbritannien in dem geheimen Sykes-Picot-Abkommen von 1916 versucht, sich auf die zukünftigen Einflusssphären zu einigen. Die Pariser Verträge bestätigten das Abkommen im Großen und Ganzen: Großbritannien bekam das Mandat für Mesopotamien (Irak) und Palästina (wozu auch das heutige Jordanien gehörte), Frankreich erhielt Syrien und den Libanon.
Es waren wirtschaftliche und geopolitische westliche Interessen, die hier die neuen Grenzen zogen. Bisher war es in diesen Gebieten unter der vergleichsweise milden Obhut der fernen „Pforte“ ziemlich friedlich zugegangen. Nun hatten der Ausgang des Krieges und die Botschaft, die Wilson um die Welt sandte, in der ganzen Region, Ägypten eingeschlossen, die Hoffnung der Völker, Ethnien und Stämme auf ein neues Zeitalter der Selbstbestimmung stark befördert. Der ohnehin schon virulente Volks- und Stammes-Nationalismus nahm weiter Fahrt auf und wurde durch die neuen, oft völlig willkürlichen Grenzziehungen düpiert. Vier Jahrhunderte lang waren die Araber in einem multinationalen Reich unter osmanisch-muslimischer Herrschaft vereint; jetzt fanden sie sich getrennt und in einer Reihe neuer Staaten wieder, die unter britischer und französischer Herrschaft standen. Unruhe und eine bisher nicht gekannte Zwietracht waren die erwartbaren Folgen.
Das Problem, das Europa geschaffen hat
Und so blieb es – durch Kriege, Umstürze, Revolutionen hindurch – bis heute. Der amerikanische Historiker Eugene Rogan zieht gegen Ende seiner umfangreichen Untersuchung „The Fall of the Ottomans. The Great War in the Middle East, 1914–1920“ eine bittere Bilanz: „Die Grenzen, die nach dem Großen Krieg gezogen wurden, haben sich als bemerkenswert fest erwiesen – wie sich auch die Konflikte, welche die Nachkriegsordnung geschaffen hat, als außerordentlich beständig erwiesen haben. Die Kurden – aufgeteilt zwischen der Türkei, Iran, Irak und Syrien – sind in den vergangenen 100 Jahren beim Verfolg ihrer kulturellen und politischen Rechte in den Konflikt mit allen Staaten getrieben worden, unter die sie aufgeteilt wurden.
Der Libanon, 1920 von Frankreich als ein christlicher Staat gegründet, erlebte eine Kette von Bürgerkriegen, weil die politischen Institutionen nicht mit den demografischen Veränderungen Schritt zu halten vermochten und die Muslime zur Mehrheit wurden. Syrien hat sich mit der Schaffung des Libanon nie abfinden können, den viele syrische Nationalisten als einen integralen Bestandteil ihres Landes betrachten. So besetzte Syrien 1976 den Libanon; die Besetzung dauerte fast drei Jahrzehnte an. Und trotz seiner großen natürlichen und menschlichen Ressourcen hat es der Irak nie zu einem dauerhaften Frieden und zu Stabilität in seinen Nachkriegsgrenzen gebracht. Das Land putschte während des Zweiten Weltkriegs gegen Großbritannien, erlebte die Revolution von 1958, den Krieg mit dem Iran von 1980 bis 1988 und einen offensichtlich nicht enden wollenden Zyklus von Kriegen, der mit der Invasion Kuwaits durch Saddam Hussein im Jahre 1991 begann und der mit der amerikanischen Invasion zum Sturz Saddams wohl nicht endete.“
Verpasste Suche nach einer neuen Ordnung
Aus all diesen Konflikten spricht (auch) die westliche Welt. Wenn wir auf die zerrissene und zerfressene politische Landschaft der Region schauen, dann schauen wir uns (auch) selbst an. Der Grundriss, welcher der Region einst verordnet wurde, garantiert Friedlosigkeit, Unruhe und Nicht-Entwicklung. Es gibt sie wirklich, nicht nur in Europa, nicht nur mentalitätsgeschichtlich: die longue durée. Man kann George W. Bushs Bemühen, dem Irak durch den Sturz seines Diktators den Weg in Freiheit und Selbstbestimmung zu eröffnen, auch als einen Versuch deuten, die Wunden zu heilen, die der ganzen Region nach dem Großen Krieg durch die Verweigerung von Selbstbestimmung und die Unterordnung unter westliche Interessen zugefügt wurden. Indes, dieser Versuch, den Universalismus zu exportieren und schmackhaft zu machen, scheiterte grandios. Wir tragen Verantwortung, wissen aber nicht, wie wir ihr gerecht werden können. Dass Flüchtlinge nach Europa kommen, hat auch damit zu tun. Das Problem, das Europa mit geschaffen hat, wandert nun – nach Jahrzehnten der Zerrüttung – selbst nach Europa. Eine Welt.
Es gab einmal eine Zeit, da traten die Parteien nach Zerwürfnissen und schrecklichen Kriegen erschöpft zusammen und handelten die Voraussetzungen für eine Zukunft ohne Krieg aus. Der Westfälische Frieden von 1648, der den Dreißigjährigen Krieg beendete, ist ein Beispiel; der Wiener Kongress von 1815, der Europa nach Napoleon neu zu ordnen versuchte, ein anderes. Beide Friedensschlüsse erwiesen sich als haltbar. Aus zwei Gründen. Erstens waren die Friedensschließenden darauf bedacht, ein System des Gleichgewichts, der Balance zu schaffen, das durch vielerlei Fäden der Bindung und Selbstbindung jeden beteiligten Staat möglichst wirkungsvoll davon abhielt, aus der Ordnung auszubrechen und die anderen Mächte zu überbieten oder gar zu unterwerfen. Und zweitens kam den Friedensstiftern sehr zupass, dass hier die politisch--diplomatischen Eliten unter sich waren, dass kein zum Überschwang und zur Selbstbestimmung neigendes Volk eine Rolle spielte und dass auch keine öffentliche Meinung ernsthaft Druck auf die Verhandelnden ausübte.
Das Friedenschließen auf Konferenzen und Kongressen funktionierte, weil es nicht demokratisch war. Ein letztes Mal wurde auf diesem Konferenzweg nach dem Großen Krieg versucht, dem Frieden auf die Sprünge zu helfen. Die Folgen waren am Ende katastrophal. Auch deswegen, weil Volk, öffentliche Meinung und das goldene Kalb des Selbstbestimmungsrechts der Völker nun mehr als nur ein Wort mitredeten.
Wohl auch, weil man die Schattenseiten der Pariser Friedenskonferenz warnend vor Augen hatte, gab es seitdem keine großen Friedenskonferenzen mehr. Nach dem Schrecken des Zweiten Weltkriegs nicht, und auch nicht nach dem überall Freude auslösenden Ende des Eisernen Vorhangs. Nach diesem entstand eine „neue Ordnung ohne Neuordnung“ (Andreas Rödder). Dass passte gut zu der Fortbewegungsart, in dem ohnehin schon der europäische Integra-tionsprozess voranging und noch vorangeht: Zwar eine endlose Kette von Treffen und Konferenzen der Staats- und Regierungschefs sowie vor allem der ihnen nachgeordneten Instanzen – aber stets im Modus des „Eins ergibt sich aus dem anderen“. Keine Akzentuierungen, kein Stauen der Zeit, kein Schürzen der Knoten, sondern stets die Ausfaltung und Perpetuierung eines eisern feststehenden Prinzips, das man das Prinzip „Weiter so“ oder das Prinzip „Mehr Europa“ nennen kann.
Beamtisches Europa
Es gab keinen politischen und diplomatischen Ort der Selbstvergewisserung Europas mehr. Selbst der Versuch, der Europäischen Union eine Verfassung zu geben, war nur ein Kamel der endlosen Karawane des europäischen Integrationsprozesses. Das hatte etwas Einschläferndes. Europa wurde zu dem, was gerade der Fall ist. Der EU und all ihren fleißigen Beamten und wohlmeinenden Politikern ist das Politische abhanden gekommen. Europa ist eine Maschine, die läuft und läuft und läuft. Und vor lauter Laufen die Selbst- wie die Fremdwahrnehmung verloren hat. Die EU ruht – ihrer Außenbeauftragten Federica Mogherini zum Trotz – zu sehr in sich. Aber was ist das denn für ein global player, der so großzügig und zur Verantwortung entschlossen ist, sich eine A-u-ß-e-n-b-e-a-u-f-t-r-a-g-t-e zu leisten?
Es ist diese europäische Selbstbezogenheit, die zwar – so das unvergleichliche EU-Idiom – Frontex, die „Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union“, schaffen konnte. Die aber trotz dieses Mittelmeerauges bis fünf nach zwölf Uhr die Anzeichen einer verstärkten Migrationsbewegung gen Europa nicht erkannt hat. Und geglaubt hat, das anschwellende Problem sei mit Appellen an die europäische Solidarität, flankiert von Abwehrbereitschaft, zu lösen. Deutschland, die anderen Staaten der EU und die EU als, wenn man so will, Körperschaft waren nicht in der Lage zu erkennen, dass von Syrien (vielleicht sogar von der Türkei) über den Libanon, Jordanien, Israel, die Palästinensergebiete, Ägypten, Libyen und Tunesien bis vielleicht gar nach Marokko ein lange vorbereiteter Krisencocktail angerührt wurde, der Europa doppelt angeht: wegen der historischen Verantwortung, die auch Europa für diese Krisen trägt. Und wegen der Migrationsbewegung in Richtung Europa, die nicht erst seit 2015 im Gange ist.
Einmischung ist die beste Wahl
Die EU soll, ja muss, sagen Elmar Brok und all ihre anderen gewichtigen Kavaliere, ein global player werden, um nicht in der Zweit- und Drittrangigkeit und in postimperialem Selbstmitleid zu versinken. Okay. Dann wäre es aber nicht das Schlechteste, Deutschland zum Beispiel würde das Momentum des Drucks, den Flüchtlinge gerade ausüben, nutzen, um den politischen Raum des Kontinents und seiner „Ränder“ neu zu kartografieren. Wir: Das endet nicht in Gibraltar, nicht auf Lampedusa, nicht in Thrakien. Weil das so ist, wäre es vielleicht an der Zeit, eine Außenpolitik zu begraben, die letztlich immer noch nach dem Telegrafenmodell des Kaiserreichs funktioniert: Wir informieren die Zentrale darüber, dass – wie in Goethes „Faust“ – „hinten, weit, in der Türkei / Die Völker aufeinander schlagen“. Die Folge, so Goethes Osterspaziergangsbürger: „Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus / Und sieht den Fluss hinab die bunten Schiffe gleiten; / Dann kehrt man abends froh nach Haus, / Und segnet Fried und Friedenszeiten.“
Die mehr oder minder bunten Schiffe gleiten in unseren Breiten – wieder – die Flüsse hinab, und dabei wird es hoffentlich auch bleiben. Aber von Friedenszeiten kann, blicken wir nur ein wenig über den bundesdeutschen und europäischen Tellerrand hinaus, die Rede nicht mehr sein. Und weil wir in all dem Chaos drinhängen, wäre die Einmischung die beste Wahl.
Vietnam, Südafrika, Chile sind überall: Das waren in ihrer Gleichgültigkeit gegenüber Unterschieden und Details unsinnige, allzu voreilig generalisierende und in ihrer Absage an die westlich-christlich-demokratische Welt törichte Parolen. Aber heute stimmt es schon: Afghanistan, Syrien, Ägypten, Libyen sind zwar nicht überall, wohl aber bei uns, in Europa. Es ist noch unklar, welche Folgerungen daraus zu ziehen sein werden – Deutschland betreffend, Europa betreffend. Der inflationär verwendete Sinnspruch, Europa müsse mehr Verantwortung übernehmen, ist hohl, ziellos und selbstbezüglich. Wir Europäer sind nicht mehr die Hausmeier der Welt, wir haben nicht mehr das Privileg, von unserem sicheren Ort aus mit dem Fernrohr die Welt begutachten zu können.
Das muss kein Verlust sein. Es wäre ein guter Moment für Europa zu lernen, dass es als Insel, gar als Festung keine gute Zukunft hätte. Nicht im Claudia-Roth-Sinne. Sondern: Vielleicht ist der Zeitpunkt gekommen, dass sich Europa – Außen- zur Innenpolitik machend – energisch der außereuropäischen Verwerfungen annimmt, die es mit angerichtet hat. Es bedürfte, wenn man so will, einer globalen Metternich-Politik, eines globalen Wiener Kongresses. Doch die ruhelosen Zonen der Welt, in denen Rebellion Vorrang vor Entwicklung hat, sind so von der Unrast der Massen geprägt, dass es nicht so aussieht, als könne man dem mit Kabinettspolitik beikommen. Und doch muss es wohl versucht werden.
Thomas Schmid ist Publizist und war Chefredakteur und Herausgeber der Welt-Gruppe.
Internationale Politik 6, November/Dezember 2015, S. 112-120