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01. Mai 2010

Demokratie und Dividende

Zum Mythos der "attraktiven Autokratien"

Sind demokratische Herrschaftsordnungen notwendige Bedingung für wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt, oder können auch Autokratien eine ökonomische „Entwicklungsdividende“ erzielen? Die Antwort: In Einzelfällen kann es unter autokratischen Regimen zu Modernisierungserfolgen kommen. Langfristig aber sind die Demokratien auch hier überlegen.

Wenn es um den Vergleich demokratischer Herrschaftsordnungen mit autoritären geht, ist eine zentrale Frage die nach der sozialen und wirtschaftlichen Performance. Erzielen Demokratien gegenüber Autokratien eine ökonomische „Entwicklungsdividende“, verhält es sich umgekehrt oder ist die Herrschaftsordnung weitgehend bedeutungslos für Wohlstand und Prosperität einer Gesellschaft?

Die neuere Forschung kommt hier zu einem recht eindeutigen Befund. Wenn Demokratie im Kern regelmäßige freie und faire Wahlen, Informations-, Presse- und Versammlungsfreiheit sowie rechtsstaatliche Beschränkungen der Regierung meint, so erwirtschaften Demokratien im Vergleich zu Autokratien eine Wohlfahrtsdividende. Demokratien sind Autokratien vor allem deswegen überlegen, weil sie aufgrund des inklusiven politischen Wettbewerbs und rechtsstaatlicher Beschränkungen größere Teile der Bevölkerung zufriedenstellen müssen. Hingegen sind autokratische Regierungen stärker abhängig von einer kleineren Elite oder Staatsklasse, die sie deswegen zu Lasten der Allgemeinheit mit hohen wirtschaftlichen Privilegien ausstatten.

Statistische Studien zeigen, dass das Demokratieniveau zwar nicht die wirtschaftliche Entwicklung einer Gesellschaft determiniert, aber als ein wichtiger positiver Einflussfaktor wirkt. So zeichnen sich demokratischere Systeme durch inklusivere Bildungs- und Gesundheitssysteme aus und setzen höhere Priorität auf Armutsbekämpfung und soziale Sicherung. Daneben fördern demokratischere Systeme auch wirtschaftliche Wettbewerbsordnungen, die Innovationen und deren Verbreitung begünstigen.1

Diese allgemeinen Befunde sind leicht zu illustrieren. Die Diktaturen in Myanmar, Simbabwe oder Nordkorea haben ihre Volkswirtschaften zugrunde gerichtet. Auch die wirtschaftliche Performance der meisten autoritären Systeme des Nahen Ostens fällt bescheiden aus, insbesondere wenn man sie um die regelmäßigen Einkünfte aus dem Erdölexport, die so genannte Erdölrente korrigiert. Korruption und Vetternwirtschaft, welche die Wirtschaftskraft eines Landes hemmen und die Einkommenskonzentration begünstigen, finden in autoritären Systemen einen wesentlich besseren Nährboden, ganz zu schweigen von den Menschenrechtsverletzungen, für die diese Systeme verantwortlich sind. Umgekehrt verdeutlichen neben den etablierten Demokratien der OECD-Welt auch erfolgreiche Demokratisierungsprozesse in Entwicklungsländern – ob in Botswana, Costa Rica oder Südkorea –, dass ein steigendes Demokratieniveau mit Vorteilen gerade für die breite Bevölkerung einhergeht.

Privilegien statt Partizipation

Doch all diesen Befunden zum Trotz ist die repräsentative, rechtsstaatlich eingehegte Demokratie keinesfalls unumstritten. Gerade in den vergangenen Jahren haben viele Regierungen von Entwicklungsländern öffentlich Zweifel daran geäußert, dass demokratische Regierungen Garanten für allgemeinen Wohlstand seien. Etliche bekennen sogar offen ihre Präferenz für autoritär gelenkte Modelle oder kokettieren zumindest mit solchen Entwicklungspfaden. Das kann verschiedene Gründe haben. So werden die herrschenden Eliten in autoritär geführten Ländern kaum daran interessiert sein, durch die Einführung politischer Rechte und ziviler Freiheiten ihre wirtschaftlichen Privilegien massiv beschneiden zu lassen. Doch gibt es auch Fälle, in denen Regierungen bereits gestartete Demokratisierungsprozesse zurückgefahren haben – etwa in Äthiopien, Ruanda oder in einigen Ländern des Anden-Raums. Einschränkungen der Gewaltenteilung oder der Pressefreiheit werden oft damit begründet, dass ein Weniger an Demokratie einem Mehr an wirtschaftlicher Entwicklung zugute komme. Denn letztere bedürfe eines starken Staates, der sich notfalls über die widerstreitenden Interessen gesellschaftlicher Gruppen hinwegsetzen müsse.

Doch eine solche Argumentation muss nicht in jedem Falle mit dem simplen Versuch einer Regierung zu tun haben, sich und ihre Klientel in politisch wie wirtschaftlich privilegierte Positionen bringen zu wollen. Die vergangenen Jahrzehnte haben gelehrt, dass der Übergang von der Autokratie zur Demokratie ein komplizierter Prozess ist, der oft mit erheblichen Umverteilungskonflikten und mit politischer Instabilität einhergeht.2 Dementsprechend können Regierungen dazu tendieren, Demokratisierungsbemühungen zu vermeiden, wenn sie überzeugt sind, dass sie sich auch über wirtschaftliche Erfolge hinreichend Legitimation verschaffen können.

Aber sind wirtschaftliche Modernisierungserfolge auch ohne Demokratie möglich? Grundsätzlich weisen die vergleichenden Länderstudien eine Überlegenheit der Demokratie auch in wirtschaftlichen Belangen nach. Doch gleichzeitig ist zu konstatieren, dass es in Ausnahmefällen auch autoritären Regimen gelingen kann, hier Beachtliches zu leisten. Diese Fälle sind es, die dann als legitimierende Bezugsgrößen für autoritäre Entwicklungsstrategien herangezogen werden.

Die Volksrepublik China ist ein Paradebeispiel für vergleichsweise erfolgreiche Modernisierung unter autoritärer Herrschaft. Auch andere, mittlerweile meist demokratische Staaten Asiens wie Taiwan oder Südkorea haben unter autoritärer Herrschaft einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt. Und autoritär gelenkte Modernisierungserfolge waren nicht auf Ostasien beschränkt. In Lateinamerika sorgte das autoritär-korporatistische Regime Mexikos über drei Jahrzehnte (1940–1970) für einen wirtschaftlichen Aufschwung und konnte diesen mit Hilfe steigender Erdölgewinne gar um ein weiteres Jahrzehnt verlängern.3 Chile gilt als weiteres Land Lateinamerikas, das es unter einem menschenverachtenden Militärregime zu wirtschaftlichen Erfolgen brachte, während die übrigen Militärdiktaturen Lateinamerikas meist kläglich versagten. Was aber macht einige autoritäre Regime wirtschaftlich erfolgreich, während die meisten anderen aus entwicklungspolitischer Sicht versagen?

Kulturalistische Argumente greifen nicht

Als Erklärung für den Erfolg mancher autoritärer Systeme wird gerne der kulturelle Faktor herangezogen. Insbesondere die konfuzianisch geprägten Gesellschaften Asiens seien für ökonomisch „attraktive“ Autokratien empfänglich. Doch stellt sich dann die Frage, warum die Teilung Koreas so schnell solch fundamentale Entwicklungsunterschiede provozierte. Auch bleibt ungeklärt, weshalb Taiwan und Südkorea trotz ihrer autokratieempfänglichen Kultur mittlerweile zu wirtschaftlich ebenso erfolgreichen Demokratien zählen. Und schließlich: Warum haben auch Autokratien in anderen Kulturkreisen, wie etwa Mexiko, über mehrere Dekaden positive Wachstumsraten verzeichnet?

Ebenso wenig wie der kulturelle Faktor überzeugt der Versuch, die Existenz wirtschaftlich erfolgreicher Autokratien durch Rohstoffreichtum zu erklären. Gerade am Beispiel der Ölstaaten des Nahen Ostens wird deutlich, dass es in rohstoffreichen Autokratien starke Anreize für Eliten gibt, das Gewaltmonopol des Staates und den Zugriff auf die Ressourcen besonders repressiv und exklusiv zu gestalten, die Rohstofferlöse mithin in nur geringem Maße breiten Bevölkerungsschichten zugutekommen zu lassen.

Bessere Erklärungen bieten Faktoren, die den autoritären Systemen immanenten Ausbeutungsmechanismus zumindest mittelfristig hemmen und dadurch dafür sorgen, dass auch autoritären Regierungen Anreize erwachsen, sich wenigstens wirtschaftlich stärker am Gemeinwohl zu orientieren.

Ein Faktor, der die wirtschaftliche Gemeinwohlorientierung autoritärer Regime befördern kann, ist das Vorhandensein einer starken äußeren Bedrohung. Je stärker eine Autokratie feindlichen Mächten ausgesetzt ist, desto mehr ist sie auf die Unterstützung der eigenen Bevölkerung angewiesen. Da eine autoritäre Regierung solch eine Legitimation kaum über die Gewährung politischer Freiheiten erreichen wird, gelingt ihr dies am ehesten über eine Wirtschaftspolitik, die zumindest einem breiteren Teil der Bevölkerung zugute kommt. So konnten es sich die damaligen autoritären Regierungen des Frontstaats Südkorea oder der durch China bedrohten Insel Taiwan nicht leisten, ihre Bevölkerungen hemmungslos auszubeuten. Auch für das autokratische Mexiko stellte die Systemkonkurrenz zu den USA einen wichtigen Anreiz da, die innenpolitische Legitimation über eine breitenwirksamere Wirtschaftspolitik zu erhöhen.

Neben dem Vorhandensein einer externen Bedrohung kann aber auch eine außergewöhnliche Konstellation innenpolitischer Faktoren zu Modernisierungserfolgen in autoritären Regierungen führen. So zeigt sich, dass mittel- und langfristig ökonomisch erfolgreiche Autokratien meist vergleichsweise stark mit den für die wirtschaftliche Entwicklung entscheidenden gesellschaftlichen Gruppen vernetzt sind. Doch das führt eben nicht zu einer Vereinnahmung der staatlichen Strukturen und zu einer Wirtschaft, die ausschließlich auf die regelmäßigen Einkünfte etwa durch Bodenschätze setzt. Der stetige Kontakt zu strategischen Gruppen der Gesellschaft wird entweder direkt über die staatliche Bürokratie hergestellt, wie etwa in Südkorea geschehen, oder aber dominierende Parteien, die eng mit dem Staat verquickt sind, reichen tief in die Gesellschaft hinein, wie seinerzeit in Mexiko oder heute in China. Der korporatistischen Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) in Mexiko gelang es jahrzehntelang, über den nach gesellschaftlichen Interessengruppen differenzierten Parteiapparat ganz unterschiedliche Akteure zumindest in begrenztem Rahmen in politische Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Eine ähnliche Funktion versucht die Kommunistische Partei Chinas wahrzunehmen, die ihre verästelten Strukturen auch dazu nutzt, die Interessen strategisch wichtiger Gruppen an die Entscheidungszentren des Regimes zu vermitteln. Diese Mischung aus Autonomie und Einbettung des Regimes in gesellschaftliche Strukturen versetzt auch eine autoritäre Regierung in die Lage, einigermaßen flexibel auf die Interessen der Bevölkerung zu reagieren.

Wird diese Kopplung um eine gewisse Interessenpluralität innerhalb des autoritären Systems ergänzt, dann ist die Wahrscheinlichkeit noch größer, dass die wirtschaftliche Modernisierung gelingt. Längerfristig ökonomisch erfolgreiche Autokratien weisen oft ein fragiles System an informellen Checks and Balances zwischen unterschiedlichen Fraktionen des Regimes auf. So wirk(t)en im China der Gegenwart wie auch früher im autokratischen Mexiko die Staats- und Regierungsoberhäupter als strenge Moderatoren zwischen den Elitefraktionen. Im PRI-Regime war die Machtfülle des Präsidenten durch eine einmalige sechsjährige Amtszeit begrenzt. Auch in China hat sich ein klarer Wandel von einem totalitären System unter Mao hin zu einem relativ stark institutionalisierten autoritären System vollzogen, in dem Präsidenten und Parteiführer sich in den Dienst des Regimes stellen. Solche Regime sind keine totalitären Systeme, in denen die Willkür eines einzelnen Führers durch eine Partei in die Gesellschaft getragen wird. Vielmehr existiert eine begrenzte Interessenpluralität, die eine gewisse Offenheit und Flexibilität der Wirtschaftspolitik begünstigt.

Allerdings sind auch in wirtschaftlich erfolgreichen Autokratien Repression, Pressezensur und Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung. Wirtschaftlich profitiert eine vergleichsweise kleine Regimeelite überdurchschnittlich stark, und politisch wird die große Mehrheit der Bevölkerung ihrer Grundrechte beraubt. Die Checks and Balances sind meist fragil und gelten nur für die Regimeeliten. Langfristig neigen auch solche autoritären Systeme zu Korruption, Verkrustung und massiver Einkommenskonzentration. Diese auf Dauer begrenzte Anpassungsfähigkeit kann zur Achillesferse solcher Regime werden: Ihr anfänglicher wirtschaftlicher Erfolg bringt eine ausdifferenzierte Gesellschaft hervor, die immer weniger autoritär zu steuern ist und irgendwann einen Regimewechsel nötig macht. Schließlich wird die „Attraktivität“ solcher Regime dadurch beschränkt, dass sie kaum in andere Länder transplantierbar sind; viel weniger als Demokratien, die durch die Offenheit des politischen Prozesses anpassungsfähiger an spezifische Länderkontexte sind. Dies alles gilt es zu berücksichtigen, wenn von der vermeintlichen ökonomischen Attraktivität autokratischer Herrschaft für Entwicklungsländer gesprochen wird.

Dr. JÖRG FAUST leitet die Abteilung „Governance, Staatlichkeit und Sicherheit“ am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) in Bonn.

  • 1Vgl. u.a.: Matthew A. Baum und David A. Lake: The Invisible Hand of Democracy. Political Control and the Provision of Public Services, Comparative Political Studies, 6/2001, S. 587–621; 
Jörg Faust: Die Dividende der Demokratie: Politische Herrschaft und wirtschaftliche Produktivität, Politische Vierteljahreschrift 1/2006, S. 62–83.
  • 2Wolfgang Merkel und Aurel Croissant: Formale Institutionen und informale Regeln in defekten Demokratien, Politische Vierteljahresschrift 1/2000, S. 3–30.
  • 3Jörg Faust: Autocracies and Economic Development: Theory and Evidence from 20th Century Mexico, Historical Social Research 4/2007, S. 305 – 329.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, Mai/Juni 2010, S. 26 - 31

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