Weltspiegel

26. Febr. 2024

Nicht ob, sondern wie

Das ist die Frage, die bei der Entwicklungszusammenarbeit zu stellen ist. Es gilt, Solidarität und aufgeklärtes Eigeninteresse wirkungsvoll zu kombinieren.

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Bild: Ein junger Mann an der Wahlurne in Kongo

 

Noch bis ins Jahr 2022 hatte sich in Deutschland ein breiter entwicklungspolitischer Konsens gehalten. Doch seitdem hat sich die Debatte um Angemessenheit und Ausrichtung von Entwicklungszusammenarbeit (EZ) und humanitärer Hilfe verschärft. In einem unter innerer Reformlast ächzenden und durch den Angriffskrieg gegen die Ukraine zusätzlich geforderten Bundeshaushalt wurde die bis 2022 auf über 33 Milliarden Euro gestiegene deutsche Official Development Assistance (ODA) kritisch hinterfragt und auch gekürzt. 

Die teils polemisch vorgebrachte Kritik fordert, dass EZ-Mittel besser für die Belange der Bevölkerung im Inland wie Investitionen in Infrastruktur oder Bildung verwendet werden sollen als in fernen Ländern „für Weltverbesserungsprojekte mit zweifelhafter Wirkung“. Solche Argumente zeigen in Zeiten angespannter Finanzen leicht Wirkung, wenn heimische Interessengruppen öffentlichkeitswirksam gegen Einsparungen protestieren.

Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden argumentiert, dass 

–  Beiträge für nachhaltige Entwicklung in ärmeren Staaten im Eigeninteresse Deutschlands und Europas sind,

–  geopolitische Konfliktlinien auch die Spannungsfelder im Zielsystem der EZ verschärfen werden, und

–  der Bedarf an einem kohärenteren Wirkungsmanagement steigen wird.


Das traditionelle Solidaritätsprinzip

2022 wurde die Rekordsumme von 211 Milliarden Dollar an offizieller Entwicklungszusammenarbeit durch die Mitglieder der OECD ausgegeben. Hinzu kommen Mittel von anderen Geberstaaten wie China, zu deren Höhe keine gesicherten Angaben vorliegen. Einerseits ist dieser Mittelaufwuchs, der auch die deutsche EZ bis 2022 kennzeichnete, beachtlich. Andererseits ist er aus mehreren Gründen relativierbar.

Erstens wurden 2022 über 28 Milliarden ODA-Mittel für die Ukraine verwendet; in den Geberländern selbst wurden über 14 Prozent der Gesamtsumme für Geflüchtete ausgegeben. Zweitens hat trotz dieses Anstiegs nur eine Handvoll Geberstaaten das bereits Anfang der 1970er Jahre ­formulierte Ziel erreicht, wonach 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für humanitäre und Entwicklungshilfe verwendet werden sollen. Drittens ist der Anteil der EZ als einer staatlichen Gestaltungsaufgabe im Verhältnis zu privaten Finanzströmen wie Rücküberweisungen oder Direktinvestitionen in die Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas stetig zurückgegangen – obgleich ODA für besonders arme Länder noch immer eine bedeutsame Ressource darstellt. Und viertens legen internationale Schätzungen nahe, dass die verfügbaren ODA-Mittel nur einen Bruchteil der Summe ausmachen, die jährlich benötigt wird, um die in der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung formulierten Ziele zu erreichen. 

Zudem hat sich die Begründungslogik für EZ verändert: Neben das traditionelle Solidaritätsprinzip ist ist ein aufgeklärtes Eigeninteresse in einem durch Interdependenz gekennzeichneten internationalen System getreten.

 

Neben die moralische ­Verpflichtung zur Hilfe tritt das Eigeninteresse von wohlhabenden Staaten 

 

Das Solidaritätsprinzip bildet das normative Fundament von humanitärer Hilfe und EZ. Dort, wo Not und Armut herrschen, gibt es eine moralische Verpflichtung zur Hilfe. Dieses Prinzip zielt unter dem alten Motto „Hilfe zur Selbsthilfe“ meist darauf, auch einen Beitrag zur Verankerung nachhaltiger Entwicklungsprozesse zu leisten: bei der Förderung inklusiver Bildungs- und Gesundheitssysteme, der Stärkung der Gleichberechtigung der Geschlechter, bei lokaler Wirtschaftsförderung, wirksamen Umweltpolitiken oder meritokratischen Staats- und Verwaltungsstrukturen. Solche Unterstützung ist nur durch die Zusammenarbeit mit staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren vor Ort möglich. Sie sollte sich primär an deren Reformpräferenzen orientieren, wenn nicht hochfragile Staatsstrukturen nur eine regierungsferne Kooperation mit kurzfristigeren Perspektiven ermöglichen.
 

Komplexe Interdependenz

Neben dem Solidaritätsprinzip wird immer stärker ein aufgeklärtes Eigeninteresse wohlhabender Staaten als gutes Argument für strukturell orientierte Entwicklungszusammenarbeit angeführt. Dass EZ auch im eigenen Interesse wohlhabender Staaten liegt, leitet sich aus dem in der vergleichenden Außenpolitikforschung dargelegten Phänomen „komplexer Interdependenz“ ab, das bei zunehmender Durchlässigkeit nationaler Grenzen ein Ansteigen der innergesellschaftlichen Auswirkungen von internationalen Ereignissen feststellt.

Deutschland, Europa und andere wohlhabende Demokratien profitieren von grenzübergreifenden Transaktionen mit Gesellschaften, die einen positiven Entwicklungspfad eingeschlagen haben: Sei es durch Handel, Investitionen, Technologie- oder Wissenstransfer. Gleichzeitig wirken sich Gewaltkonflikte, Armut, mangelhafte Gesundheitssysteme oder Umweltzerstörung in anderen Teilen der Welt immer unmittelbarer auf unsere Gesellschaft aus: sei es in unkontrollierter Migration, organisierter Kriminalität, Terrorismus oder globalen Phänomenen wie Klimawandel oder Pandemien.

Insofern sind nationale Migrationspolitiken, Investitionen in Infrastruktur, Sicherheit oder nationalen Klimaschutz wichtig und gut begründet. Doch eine wie auch immer optimierte nationale oder europäische Politik wird die transnationalen Probleme und deren Auswirkungen auf uns nicht bewältigen können. Eine entwicklungsförderliche Kooperation mit ärmeren Ländern Afrikas, Lateinamerikas und Asiens ist dafür notwendig. Kurzum: Eine auf die Beseitigung lokaler und regionaler Entwicklungsprobleme gerichtete Zusammenarbeit mit Entwicklungs- und Schwellenländern liegt auch im Eigen­interesse Deutschlands und Europas.
 

Nach Ländern differenzieren 

Die Entwicklungszusammenarbeit muss mit unterschiedlichen Instrumenten und entlang variierender Zielsetzungen ausgestaltet werden. Rückschritte oder Stagnation bei der Armutsbekämpfung erfordern die Fortsetzung von EZ und humanitärer Hilfe mit den bedürftigsten, oftmals hochfragilen Ländern. Aber mit Mittelmächten wie Südafrika, Brasilien, Indonesien, Ägypten oder gar Indien braucht es eine andere Kooperation. Diese Länder sind aus unterschiedlichen Gründen wichtig für Europa, was ihnen auf internationaler Ebene mehr Handlungsspielräume und die Verfolgung eigener Interessen ermöglicht. Innenpolitisch aber sind ihre Optionen begrenzt, da auch sie vor gewaltigen Modernisierungsaufgaben stehen. Sie dabei zu unterstützen, liegt aus den zuvor genannten Gründen im Interesse Deutschlands und Europas. Aber dies sollte weniger in klassischer und teils kleinteilig projekt­basierter EZ stattfinden.

Die Kooperation mit diesen Ländern sollte stärker über kreditbasierte Reform­finanzierungen geschehen und Privatkapital mobilisieren, ergänzt um qualifizierte Beratungsprozesse sowie Netzwerkförderung zwecks gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Zusammenarbeit. Dabei wird sich eine solche Kooperation viel stärker an den Prioritäten dieser Länder orientieren, solange dem nicht fundamentale Divergenzen im Hinblick auf Demokratie und Menschenrechte ent­gegenstehen. Entsprechend sollte EZ auf Augenhöhe erfolgen, bei unterschiedlichen Interessen muss sie überzeugen und nicht belehren. Ist eine solche EZ wirksam, wird sie die Zusammenarbeit bei drängenden internationalen Problemen und Regulierungs­fragen begünstigen. 

 

Mit Mittelmächten wie Südafrika, Brasilien, Ägypten oder Indien, die auf internationaler Ebene eigene Ziele verfolgen, braucht es eine andere Form der Entwicklungszusammenarbeit

 

Der Bedarf für eine nach Ländern differenzierte und an Solidarität oder aufgeklärtem Eigeninteresse orientierte EZ ist nicht neu. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung richtet bereits seit einigen Jahren seine Instrumente nach unterschiedlichen Typen von Partnerländern aus. Besonders herausfordernd sind jedoch die mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine hervorgetretenen geopolitischen Konfliktlinien. Der Systemwettbewerb zwischen autoritären und demokratischen Staaten sowie rückläufige Tendenzen von Demokratisierung weltweit verschärfen ein altes Spannungsfeld in der EZ.  
 

Mehr Demokratie fördern

Entwicklungszusammenarbeit sollte heute noch mehr in Demokratieförderung und die Resilienz von Demokratisierungsprozessen investieren: durch Zusammenarbeit zwischen zivilgesellschaftlichen Akteuren, die Arbeit politischer Stiftungen, Beratungs- und Kapazitätsbildungsprojekte für Staatsreformen oder auch unterstützende Reformfinanzierungen für Staatsmodernisierung. Dies nicht nur aus normativer Überzeugung oder schon gar nicht aus „westlichem“ Sendungsbewusstsein, sondern auch aus der Erkenntnis, dass mehr Demokratie überall auf der Welt mit einer innergesellschaftlichen Wohlfahrts- und Entwicklungsdividende einhergeht. Im Vergleich zu Autokratien begünstigen Demokratien inklusivere Gesundheits- und Bildungssysteme, rechtsstaatliches Regierungs- und Verwaltungshandeln oder lokalen Umweltschutz. Auch ist belegt, dass Demokratien kooperativer als Autokratien in ihrem Außenverhalten sind. Demokratien führen keine Kriege gegeneinander, sind kooperativer in ihren Außenwirtschaftsbeziehungen und ambitionierter in ihren internationalen Umweltverpflichtungen. Maßnahmen zur Förderung und zum Schutz von Demokratie sind daher entwicklungspolitisch aus mehreren Gründen gut zu erklären.

Gleichzeitig wird im gegenwärtigen internationalen Umfeld Demokratieförderung schwieriger und die Spannungsfelder im Zielsystem der Entwicklungszusammenarbeit nehmen zu. Dies erschwert auch die Kommunikation in die Politik und gegenüber der Bevölkerung. Paradoxerweise hat das Ordnungsmodell Demokratie international an Attraktivität eingebüßt, rückläufige Demokratisierungsprozesse bieten weniger Ansatzpunkte für erfolgreiche Demokratieförderung. Demokratie und Menschenrechte können kaum mehr und allenfalls koordiniert innerhalb der Gebergemeinschaft als wirksame Konditionalität für Reformimpulse eingesetzt werden. Denn autokratische Großmächte versuchen immer zielgerichteter, Demokratisierungsprozesse auszubremsen, umzukehren oder mit ihresgleichen Zweckpartnerschaften einzugehen.

Deshalb muss die EZ genauer und kritischer als bislang austarieren, wann eine reformorientierte Zusammenarbeit mit autoritären Staaten noch tolerierbar ist. Denn sonst droht die Gefahr, dass EZ trotz geopolitisch legitimer Zielsetzungen kontraproduktiv wird, weil sie autoritäre Staaten und deren konfliktträchtiges ­Außenverhalten alimentiert.
 

Wirkungsorientiertes Management

Eine entlang der internationalen Erfordernisse ausdifferenzierte Entwicklungszusammenarbeit muss an ihren Wirkungen gemessen werden. In vielfältigen Projekt- und Länderportfolien können dabei auch Misserfolge identifiziert werden – wie etwa das Scheitern des zivilen Engagements in Afghanistan beim Aufbau eines demokratischen Staatswesens. Wenngleich solche Misserfolge wichtige Lernimpulse geben und zwecks Rechenschaftslegung transparent gemacht werden, offenbart doch eine steigende Zahl länderübergreifender Studien positive Effekte der EZ in ihrer Gesamtheit. 

Empirische Befunde zeigen, dass Entwicklungszusammenarbeit den Zugang zu Bildung verbessert hat, positive, wenn auch kleine Wirkungen auf das Demokratieniveau von Staaten hatte oder zur Verringerung von Kindersterblichkeit in Afrika beitrug. Ebenso wurden erfolgreiche Beiträge zur Klimaanpassung geleistet, etwa mit Blick auf Bewässerungssysteme und Infrastrukturmaßnahmen. 

Darüber hinaus gibt es Studien, die einen Beitrag der Entwicklungszusammenarbeit auf außenwirtschaftliche und außenpolitische Ziele der Geberstaaten identifizieren. Ein oftmals ignorierter Befund ist, dass sich ODA-Zahlungen positiv auf die Exporte der Geberländer auswirken. Zudem legt neue empirische Evidenz nahe, dass EZ irreguläre Migration zugunsten regulärer Migration reduziert und dabei armutsmindernd wirkt.

 

ODA-Maßnahmen bekämpfen nicht nur Armut, ­sondern wirken sich auch positiv auf die Exporte der Geberländer aus

 

Des Weiteren ist Entwicklungszusammenarbeit ein Bereich, in dem am systematischsten, unabhängigsten und am transparentesten geprüft wird. Methoden, Standards und Verfahren zur Evaluierung der Relevanz, Effizienz, Wirksamkeit und Nachhaltigkeit öffentlicher Ausgaben sind in der EZ auch über Deutschland hinaus fest verankert.

Gleichwohl ist das wirkungsorientierte Management noch verbesserungsfähig. Dies gilt etwa im Hinblick auf kohärente Strategiegestaltung und -umsetzung zwischen Ressorts für die Arbeit in hochfragilen Staaten und beim internationalen Klima- und Umweltschutz, wo verknüpftes, ressortgemeinsames Handeln große Bedeutung hat. Ebenso gestalten sich Koordination und Kohärenz auf europäischer Ebene aufgrund divergierender Interessen und nationalpopulistischer Tendenzen problematisch, wären aber für eine wirkungsmächtigere, auf globale Probleme gerichtete Entwicklungszusammenarbeit dringend vonnöten. 

Ohne in illusorische Planungseupho­rie zu verfallen: Es braucht Fortschritte im Hinblick auf kohärentere und wirksamere Strategie- und Portfolio­gestaltung entlang ausdifferenzierter Ziele; eine politisch polarisierende Debatte ist hierbei wenig hilfreich. Doch selbst bei optimierter Planung, Implementierung und Monitoring werden gerade in schwierigen Kontexten auch Misserfolge unvermeidbar sein. 

Diese Risiken sind es jedoch wert. Denn „zurück ins Schneckenhaus“ ist keine Option in einer Welt, in der nicht nur das Solidaritätsprinzip ein hohes Gut bleiben sollte, sondern auch das Wohl europäischer Gesellschaften immer direkter von Erfolgen nachhaltiger Entwicklung in ärmeren Regionen abhängig sein wird.                

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 2, März/April 2024, S. 100-104

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Mehr von den Autoren

Prof. Dr. Jörg Faust ist Leiter des Deutschen Evaluierungsinstituts der Entwicklungszusammenarbeit, außerordentlicher Professor an der Universität Duisburg-Essen und Vorsitzender des Evaluierungsnetzwerks im Entwicklungsausschuss der OECD.

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