Das zerrissene Erbe der Aufklärung
Die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika zählen zu den unumstößlichen Bestandteilen
der (ungeschriebenen) auswärtigen Doktrin Deutschlands. Tief greifende Meinungsunterschiede
im transatlantischen Verhältnis werden, so das Geschäftsführende Vorstandsmitglied
der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, bestehen bleiben, so lange eine
„neokonservative Kamarilla“ die Macht in Washington in den Händen hält.
Die Beziehung zu den Vereinigten Staaten zählt – wie die zu Frankreich und die europäische Integration – zu den unumstößlichen Bestandteilen der ungeschriebenen auswärtigen Doktrin Deutschlands. Dafür gibt es auch nach dem Ende des Ost-West-Konflikts gute Gründe, wenn auch der wichtigste, die Garantie der deutschen Sicherheit gegen einen übermächtigen Gegner, entfallen ist.
Nur mit den USA lassen sich eine Reihe von Problemen bearbeiten, deren Lösung im ureigensten Interesse Deutschlands liegt. Dazu zählen die „globalen Fragen“ von der Weltwirtschaft über die Umweltpolitik, die Migration und die Weltgesundheitspolitik bis zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Nur mit den Vereinigten Staaten lassen sich an den Brennpunkten der Welt von Ostasien bis zum Nahen Osten Konflikte einhegen oder sogar regeln. Nur in enger Zusammenarbeit mit den USA können der internationale Terrorismus bekämpft und die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen eingedämmt werden. Die Mithilfe der „unverzichtbaren Nation“, wie die frühere amerikanische Außenministerin Madeleine Albright einmal gesagt hat, ist notwendig. Denn die USA verfügen auf absehbare Zeit über eine unvergleichliche Konzentration von Macht, die, gut genutzt, der Lösung jener drängenden internationalen Probleme dienen kann, die unter den Schlagworten „erweiterte Sicherheit“ oder „neue Risiken“ zusammengefasst werden.
Aus dieser Überlegung ergibt sich zunächst einmal ein klarer Imperativ zur Solidarität mit den USA. Die Beziehung will gepflegt werden, amerikanische Denkweisen und Interessen werden in Rechnung gestellt werden müssen, weil schließlich Zusammenarbeit eine zweiseitige Sache ist. Da liegt der Schritt zur „unbedingten Solidarität“ nahe, die der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder unter dem Eindruck des 11. September 2001 verkündet hatte. Das hat ihm landauf, landab, seinerzeit Beifall eingetragen. Die Zerwürfnisse, die seither im deutsch-amerikanischen Verhältnis eingetreten sind, wirken demgegenüber als schwere Hypothek, als Politikversagen. Gleichwohl ist zu verzeichnen, dass auch aus den Reihen der Opposition seit dem Frühjahr 2004 zusehends kritische Töne gegenüber dem amerikanischen Bündnispartner angeschlagen werden. Unbedingte Solidarität herrscht heute anscheinend weder auf den Regierungs- noch auf den Oppositionsbänken.
Und unbedingt kann sie auch nicht sein. Denn unbedingte Solidarität hieße, sich an die Seite Washingtons zu stellen, was immer die amerikanische Regierung unternimmt. Eine solche Haltung wäre nicht nur ein vorauseilender Ausverkauf eigener Interessenprüfung, sondern auch der demokratischen Grundlage unserer Außenpolitik. Denn wie das Bundesverfassungsgericht festgestellt und die Debatte über die Parlamentsbeteiligung an der Entscheidung über Auslandseinsätze der Bundeswehr deutlich gemacht hat, kann die Überlegung, deutsche Bürgerinnen und Bürger in Uniform unter Gefahr ihres Lebens in Krisen und Kriege zu schicken, nur unter Zustimmung der gewählten Vertreter des Volkes getroffen werden. Nur ihre Mitwirkung stellt auf minimalem Niveau sicher, dass die Exekutive gezwungen wird, die Gründe für einen solchen Einsatz darzulegen und einer kritischen Prüfung auszusetzen. Alles andere wäre ein Rückfall in finstere Zeiten, in denen Regierungen nach Gutdünken kriegerische Handlungen in die Wege leiten konnten – und sei es aus Bündnissolidarität.
Manche amerikanische Politiker sehen das ganz anders. So hat Tom Lantos, einer der führenden Mitglieder der Demokratischen Partei im amerikanischen Kongress, einer deutschen Parlamentarierdelegation die Leviten gelesen: Ein massiver Einsatz in Irak sei angezeigt, mit höherem Einsatz als in Afghanistan. Und es sei Deutschlands Pflicht, die NATO gleich mitzubringen. Lantos meint aufrichtig, die Entscheidung über Einsätze deutscher Soldaten werde legitimerweise in Washington gefällt. Er wünscht keine Verbündeten, sondern Vasallen. Viele Kommentatoren aus der neokonservativen amerikanischen Szene sehen dies ähnlich. Das Motto ihres Präsidenten: „Ihr seid entweder für uns oder gegen uns“ – und damit sind letztlich alle strategischen politischen Entscheidungen gemeint – lässt eigene Erwägungen der Bündnispartner nicht zu. Ihre Souveränität, so scheint es, soll an der amerikanischen Garderobe abgegeben werden.
Der Preis, der uns hier abgefordert wird, ist zu hoch. Er übersteigt die Dankesschuld, die Deutschland gegenüber den USA zweifellos trägt. Diese Dankesschuld verlangt von uns Solidarität, soweit wir sie nur immer leisten können. Sie erfordert jederzeit die Bereitschaft zu prüfen, wo man amerikanischen Interessen entgegenkommen kann. Selbstaufgabe und Unterwerfung kann sie nicht von uns erzwingen. Im Übrigen würden wir damit Ideale verraten, welche die Vereinigten Staaten der jungen und schwachen Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg selbst beigebracht haben. Solidarität bleibt daher unweigerlich geknüpft an die Vereinbarkeit der Positionen des Partners mit denjenigen Prinzipien, die man selbst für unverzichtbar hält. Eine Menge an Geben und Nehmen, an Nachgeben und Kompromiss ist denkbar. Jedoch gibt es Grenzen, die schlechterdings nicht überschritten werden können, ohne das eigene Gemeinwesen ernsthaft zu beschädigen. Solche Grenzen werden erreicht, wenn eine große Mehrheit der eigenen Bevölkerung im Ergebnis einer langen, offenen Diskussion gegen eine Kriegsteilnahme ist und die Regierung diesen klar artikulierten Mehrheitswillen um des Gleichklangs mit dem Bündnispartner willen ignorierte.
Neokonservative gegen Multilateralismus
Dies ist ein besonders klares Beispiel, das sich am Irak-Krieg manifestiert hat. Die dahinter liegenden deutsch-amerikanischen Divergenzen greifen gleichwohl viel tiefer. Sie haben sich bereits in der zweiten Amtszeit Bill Clintons mehr und mehr in europäischem Unbehagen an amerikanischem Unilateralismus gezeigt. Clinton war hier weniger die Ursache des Problems. Er war ein Getriebener einer Kongressmehrheit der Republikaner, die zusehends von den Ideologien des Neokonservatismus und des protestantischen Fundamentalismus geprägt wurde.
Beide Ideologien vertreten inhaltliche Positionen, für die sich auf europäischer, zumal auf deutscher Seite keine Entsprechungen finden. Der Unilateralismus, in dem diese Positionen ihren Ausdruck finden, ist mehr als ein Stilelement. Er ist an von sich selbst überzeugte ideologische Positionen geknüpft, deren Selbstgewissheit und Selbstgerechtigkeit Zweifeln keinen Raum lässt und gegenüber Einwänden und begründeten Gegenargumenten keine Offenheit oder noch weniger Toleranz, sondern nur Unduldsamkeit kennt. Da man sich im Besitz absoluter Wahrheit glaubt, sind die Abweichungen unverständlich und moralisch verwerflich, ja, womöglich Ausdruck antiamerikanischer, feindlicher Gesinnung, wie dies vor allem Frankreich mit Vehemenz unterstellt wird.
Worin besteht die Substanz dieser Positionen? Den Vereinigten Staaten ist nach dem Ende des Ost-West-Konflikts aufgrund ihrer unvermeidlichen Machtfülle eine Führungsrolle zugewachsen, die sie in der kurzen Zeit, in der sie erhalten bleiben wird, zur Neuordnung der Welt nach den eigenen Maßstäben nutzen muss. Dies ist nicht einfach Interessenpolitik, sondern die Erfüllung der Aufgabe, welche die Geschichte, oder – in der protestantisch-fundamentalistischen Version – die Vorsehung den USA gestellt hat, also universale Führungspflicht.
Es geht um die Durchsetzung der marktwirtschaftlichen Wirtschaftsweise, die in neoliberalem Gewand, also als radikale Deregulation, daherkommt – bis auf jene Wirtschaftssektoren natürlich, in denen Interessengruppen in den USA nach Schutz vor äußerem Wettbewerb verlangen, wie etwa die Stahlindustrie. Dem Neoliberalismus fällt natürlich auch der Umweltschutz weitgehend zum Opfer. Gesellschaftspolitisch wird ein konservatives Bild der Familie nach außen vertreten, Elternrechte dominieren Menschenrechte der Kinder, auf den einschlägigen Konferenzen der Vereinten Nationen wird eine rigide Sexualmoral propagiert. Dies wären eher Kuriosa am Rande, würden nicht tragischerweise Jugendliche in Aids-geplagten Entwicklungsländern, deren Aufklärung unterbleibt, diesem moralischen Rigorismus zum Opfer fallen, weil sich Washington weigert, entsprechende Programme zu unterstützen.
Kern des amerikanischen Einsatzes bleibt jedoch der massive Kampf gegen die Übel, die der Ausbreitung des eigenen Gesellschafts- und Politikmodells entgegenstehen: die diktatorischen Schurkenstaaten mit ihren Menschenrechtsverletzungen und ihrem unstillbaren Ehrgeiz, sich Massenvernichtungswaffen zuzulegen, und ihrer möglichen terroristischen Verbündeten. Gegen diese vorgestellte Allianz ist jedes Mittel gerechtfertigt, auch der Krieg zum Umsturz diktatorischer Regime, um künftige größere Gefahren abzuwenden. Entscheidungen darüber möchten die Vereinigten Staaten an niemanden delegieren. Sie fallen in den Verantwortungsbereich der Führungsmacht.
Deren Handlungsfreiheit darf auch sonst keinen Einschränkungen unterliegen, soll sie denn ihre Aufgabe wahrnehmen können. Was humanitäres Völkerrecht, Rüstungskontrolle, der Internationale Strafgerichtshof oder die Entscheidungsregeln der Vereinten Nationen den USA an begrenzten Einschränkungen ihrer Souveränität zumuten würden, ist aus amerikanischer Perspektive weder mit eigenen noch mit Weltordnungsinteressen vereinbar. Es sei vielmehr Ausdruck eines rückwärts gewandten, schwächlichen Idealismus, der die Anforderungen an die Führungsfähigkeiten der USA, wozu die Kriegführung maßgeblich gehört, ignoriere.
Macht und Völkerrecht
Für Deutschland stellt sich dieser Politikentwurf als praktisch unlösbares Problem dar. Er widerspricht allem, was in mehr als 50 Jahren zur außenpolitischen Kultur des Landes geworden ist. Deutschland hat aus seiner Vergangenheit den richtigen Schluss gezogen, dass nur die multilaterale Einbindung Frieden und Sicherheit gewährleistet. Es sieht in der rechtlichen Regulierung der Weltprobleme den richtigen Weg zu ihrer Lösung: Ohne Recht lassen sich die vielfältigen Interessen und Handlungsstränge von 190 staatlichen und unendlich vielen privaten Akteuren im internationalen Raum nicht steuern. Macht, so diese Konzeption, ist immer weniger Instrument nationaler Interessenentfaltung und immer mehr Sanktionsinstrument für internationales Recht, an dessen Regeln sie dann selbstverständlich gebunden bleiben muss.
Wie eingangs beschrieben wurde, ist es gerade der unschätzbare Wert der Vereinigten Staaten in einer so vom Recht bestimmten Welt, der nach dem Ende des Ost-West-Konflikts das deutsche Interesse an den Bündnispartner bindet. In der neokonservativen Praxis füllen die USA diese erwünschte Rolle jedoch nicht aus, sie dekonstruieren vielmehr die von Deutschland und anderen europäischen Partnern sehnlichst gewünschte Rechtsordnung, um sie durch die machtgestützte Aufherrschung von Ordnung zu ersetzen, die sich ausschließlich aus dem von den Vereinigten Staaten, bzw. den ihre Regierung tragenden Kräften, für richtig gehaltenen Ideologien speist.
Das Recht ist aus dieser Konzeption als Wesensgrundlage jeder vernünftigen Ordnung, in der sich alle Beteiligten wiederfinden können, verdrängt durch den amerikanischen Machtwillen. Es verschwindet nicht gänzlich, aber ist einem Opportunitätsprinzip untergeordnet: Wenn das Recht den gesetzten Zielen dienlich ist, wird auf seine Anwendung gedrungen. Enthält das Recht einen internationalen Konsens, der den amerikanischen Präferenzen widerspricht, wird es ignoriert. Und im Übrigen soll es, wie schon erwähnt, die Handlungsfreiheit der USA nicht einschränken. Wie im klassischen absolutistischen Souveränitätsbegriff soll der weltpolitische Souverän durch das Recht nicht gebunden sein, sondern nur dessen Bindewirkung gegenüber Dritten sicherstellen.
Damit steht die weltpolitische Vision der gegenwärtigen amerikanischen Regierung zur deutschen in einem Gegensatz, wie er größer kaum sein könnte. Unterstrichen werden soll aber, dass die deutsche Vision sich keinem machtpolitisch naiven, interessefreien Idealismus verdankt. Macht dem Recht unterzuordnen und Recht als Satz von handlungsregelnden Normen zu verstehen, in denen sich die Interessen aller Beteiligten wiederfinden lassen, ist eine Zielsetzung, die sich aus zwei Motiven speist. Beide entsprechen nicht idealistischem Spintisieren, sondern harten Interessen: Der Verarbeitung der deutschen Geschichte und der Erkenntnis, dass sich angesichts der weltweiten Vernetzung von Interessen, angesichts des Angewiesenseins auf das, was andere tun, nur durch geregelte Kooperation eigene Ziele verwirklichen lassen. Dass Recht und Macht, Recht und Interesse in einem unversöhnlichen Gegensatz stünden, ist eine der stupidesten Unsinnigkeiten, die sich in den Gazetten finden lassen. Das Gegenteil ist der Fall.
Der deutsch-amerikanische Denkgegensatz ist um so bedenklicher, als er sich letztlich aus denselben Quellen, aus der liberalen Tradition der Aufklärung speist. Von dort stammt die Idee vom Recht als der einzig vernünftigen Möglichkeit, die auseinander strebenden Handlungen vieler Menschen zu koordinieren und zwischen ihren konfligierenden Interessen einen geregelten Ausgleich zu finden. Jegliche Art von militärischer Gewaltanwendung – außer im Falle der Selbstverteidigung – stößt auf den Einwand, dass sie unvermeidlich die Rechte anderer Menschen verletzen wird. Der viel zitierte „Kollateralschaden“ an Zivilisten ist für sich genommen bereits ein schlagender Einwand gegen die Intervention; die verlorenen Leben stellen eine nicht umkehrbare Verletzung von Menschenrechten dar. Nichtdemokratische Staaten werden aber nicht freundlich betrachtet. Es wird ihnen jedoch die Fähigkeit zur Evolution nicht abgesprochen. Die Kooperation, auf die man sich mit ihnen einlässt, soll die Bedingungen für eine solche Entwicklung schaffen und befördern. Die Überwindung des Ost-West-Konflikts durch die Doppelstrategie der verteidigungsbereiten Wachsamkeit und der Entspannung und blockübergreifender Kooperation gilt als das Erfolgsmodell dieser Linie.
In der neokonservativen Sicht hingegen ist der Unterschied zwischen liberaler Demokratie und Nichtdemokratie absolut. Man mag durch die Umstände widerwillig genötigt sein, Zweckbündnisse mit gewissen Diktaturen einzugehen, um die noch gefährlicheren Exemplare wirksamer bekämpfen zu können. Diese taktischen Allianzen heben jedoch den grundlegenden Gegensatz nicht auf. Diktaturen sind in sich gefährlich; im Zeitalter von Massenvernichtungswaffen und transnationalem, fanatischem Terrorismus gibt ihre Existenz allein bereits Anlass zu vorbeugenden Verteidigungsmaßnahmen bis hin zu ihrer mit Gewalt durchgesetzten Demokratisierung. Selbst das Ende des Ost-West-Konflikts wird in dieses Denkschema eingeordnet: Die UdSSR sei von den USA totgerüstet worden, ihr Zerfall also Ergebnis der militärischen Übermacht der USA, aber keinesfalls der Entspannungspolitik.
Zwischen Demokratie und Diktatur kann es kein gemeinsam bindendes Recht geben, da nur die Demokratie zu rechtsstaatlichem Handeln fähig ist. Gerade deshalb sind auch rechtsförmige Entscheidungsprozesse wie jene in den Vereinten Nationen keinesfalls bindend, verleihen sie doch den Unrechtsstaaten einschränkende Mitspracherechte über das Handeln der Demokratien. Wie es Richard Perle, einer der einflussreichsten Vordenker des Neokonservatismus, einmal gefordert hat: Nicht den Vereinten Nationen mit ihrer gemischten Mitgliedschaft, sondern allein der NATO als Allianz der Demokratien stehe das Recht zur Entscheidung über Krieg und Frieden zu.
Die in Washington vorliegende Erwartung, die europäischen Bündnispartner mögen sich amerikanischen Positionen anschließen, richtet sich daher nicht lediglich auf einen Mitspracheverzicht zu Fragen, in denen man im Grunde einer Meinung ist. In der Konsequenz geht es letztlich um die Unterwerfung unter Maximen, die uns durch und durch falsch, riskant und unseren Interessen widersprechend erscheinen. Darauf kann Deutschland sich nicht einlassen. Und damit besteht ein großes Dilemma: Die Grundprinzipien deutschen Weltordnungsdenkens und das Axiom harmonischer deutsch-amerikanischer Beziehungen lassen sich unter den obwaltenden Umständen nicht unter einen Hut bringen. Und das wird so lange gelten, wie der Neokonservatismus in Exekutive oder Kongress maßgeblichen, Richtung weisenden Einfluss auf die amerikanische Weltpolitik ausübt.
Vier Grundsätze
Wie mit dieser Lage umgehen? Die vier Grundsätze, die hier zur Anwendung kommen müssen, lassen sich mit selbstbewusster Standhaftigkeit, Europäisierung, Ressourceneinsatz und transatlantischem Pragmatismus umschreiben.
Selbstbewusste Standhaftigkeit verlangt von uns zunächst einmal, dass wir uns in unseren Grundpositionen nicht dadurch verunsichern lassen, dass der Bündnispartner anderer Meinung ist. Wenn man sich ansieht, wie mancher Politiker, aber auch mancher Sicherheitsexperte nahezu unbesehen die amerikanischen Bedrohungsanalysen und ihre Strategie der nationalen Sicherheit mit der Betonung auf militärischer Prävention übernommen hat, kann man sich nur wundern.
Die irakischen Ereignisse haben diesem blinden intellektuellen Vasallentum einen gründlichen Dämpfer versetzt. Dass keine Massenvernichtungswaffen gefunden wurden, dass die Blütenträume des demokratisierten Nahen Ostens nicht reifen und die Terrorismusgefahr größer, nicht kleiner geworden ist, dass also die guten Gründe der Kriegsskeptiker sich weitgehend als richtig herausstellten, sollte dem proamerikanischen Gefolgschaftswahn den Boden entzogen haben. Der deutsche Multilateralismus baut auf einem äußerst soliden Fundament richtiger Analyse sowohl der Chancen wie der Risiken gegenwärtiger Weltpolitik auf. Die Zögerlichkeit, schnell zum militärischen Instrument zu greifen – die ja kein absoluter Pazifismus ist, siehe Afghanistan oder Exjugoslawien – verdankt sich der völlig richtigen Einsicht, dass Interventionen in vielen Fällen mehr und gefährlichere Probleme schaffen, als sie lösen können. Diese Positionen können wir guten Gewissens auch unter politischem Druck mit Selbstbewusstsein vertreten.
Zweitens: Europäisierung. Durchhalten lässt sich dieser Ansatz sehr viel komfortabler, wenn er im Verbund mit den europäischen Partnern vertreten wird. Europa ist eine wirtschaftliche Weltmacht. Ihr Bruttosozialprodukt übersteigt nach der Erweiterung das der Vereinigten Staaten deutlich; für die Bevölkerungszahl gilt dies natürlich auch.
Militärisch halten sich die Europäer gern für Zwerge. Aber nur im Vergleich mit der grotesken Überrüstung der USA trifft dieses Urteil wirklich zu. Die Streitkräfte aller anderen „global player“ verblassen im Vergleich zu den europäischen. Was sie gemeinsam für ihre Verteidigung ausgeben, ist mehr als genug, um jede selbstgestellte militärische Aufgabe wahrnehmen zu können.
Ihr Problem ist nur, dass sie ihr Geld verschleudern: Zu viele Soldaten und zu wenig Technik, zu viele Stäbe in 25 Militärbürokratien, zu viele einzelne Beschaffungsprozesse statt gebündelter Aufträge, zu viele Häuptlinge bei zu wenig Indianern. Nicht ein Aufstocken der Verteidigungshaushalte steht an, sondern eine Grund stürzende Remedur, die Strukturveränderungen und Integration vorantreibt. Dabei sind nicht die Vereinigten Staaten der Maßstab, deren Militarisierung längst jedes vernünftige Maß verloren hat, sondern die Aufgaben, die sich die Europäer im Rahmen ihrer vereinbarten Sicherheitsstrategie selbst gestellt haben.
Diese Sicherheitsstrategie sollte eine höchst solide Grundlage sein, um eine eigenständige Position gegenüber den Vereinigten Staaten behaupten zu können. Sie wird ergänzt durch die europäischen Maßnahmen zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus und die europäischen Prinzipien und den Aktionsplan gegen die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen. Nahezu unbemerkt von der Öffentlichkeit und den Medien – was übrigens typisch ist, wenn den Europäern etwas gelingt – hat sich die Europäische Union damit eine Agenda für die eigene Sicherheitspolitik gesetzt. Sie schließt die Anwendung von Gewalt als letztem Mittel vernünftigerweise nicht aus, knüpft diese jedoch an das Völkerrecht und an ein Mandat der Vereinten Nationen.
Dem Rückfall der Bush-Regierung in einen unzivilisierten Unilateralismus des 19. Jahrhunderts haben die Europäer damit ein kluges Konzept gegenübergestellt, in dem Macht und Recht eng verknüpft bleiben. Dies entspricht nicht nur der grundlegenden europäischen Erfahrung des letzten Jahrhunderts, sondern drückt auch die Wünsche der europäischen Bevölkerungen, wie sie in der Irak-Debatte überall eindrucksvoll zum Vorschein kamen, angemessen aus. Dass auch George Bushs liebster europäischer Vasall, Tony Blair, diese Dokumente akzeptiert, gibt eine gewisse Hoffnung, dass sich langfristig eine europäische Position formulieren lässt, die in Washington hinreichenden Respekt hervorruft, um ernst genommen zu werden.
Hegemonie über alles
Indes muss immer wieder mit Erfolgen amerikanischer Störmanöver gerechnet werden, da der amerikanischen Regierung europäische Einigkeit in auswärtigen Fragen als Herausforderung der eigenen Hegemonie missfällt. Daher darf eine Bundesregierung nicht zögern, kleinere europäische Koalitionen einzugehen, wenn sich in Grundsatzfragen transatlantische Risse auftun. In der Irak-Frage ist taktisch nicht immer glücklich operiert worden. Im Kern waren die Opposition und der Zusammenschluss mit Frankreich, Belgien und Luxemburg jedoch richtig.
Der dritte Pfeiler: Ressourceneinsatz. Weltpolitische Geltung im Angesicht der Vereinigten Staaten kostet Geld. Daran gibt es nichts zu rütteln. Der Trost: präventiv eingesetzte Investitionen ersparen meist weit mehr Aufwand, wenn es gilt, die Trümmer gescheiterter, weil verschlafener Politik aufzuräumen: siehe Afghanistan oder den Balkan. Wie in der Diskussion über militärische Investitionen schon angesprochen, sind Ausgaben für die Außen- und Sicherheitspolitik immer in einen europäischen Rahmen zu stellen. Ohne ihn machen sie keinen Sinn, weil sich Deutschland allein als größenwahnsinniger Gartenzwerg nur übernehmen kann. Dabei gilt es, dem amerikanischen Irrtum zu entgehen, nur militärische Investitionen zahlten sich letztlich in politischer Münze aus. Im Gegenteil, gerade im Zeitalter diffuser Sicherheitsbedrohungen ist es von allergrößter Bedeutung, eine Palette von Instrumenten zur Verfügung zu haben, mit denen man situationsgerecht handeln kann. Von der Entwicklungshilfe über die Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen reicht diese Palette bis hin zu Abrüstungshilfe und der Stationierung von Polizeieinheiten. Das Militär bleibt die letzte Zuflucht in seltenen, außerordentlichen Notsituationen.
Das Gerüst eines solchen Instrumentariums ist auf nationaler und europäischer Ebene bereits vorhanden. Was freilich fehlt, ist die zureichende materielle Ausstattung. Der Etat des Auswärtigen Amtes ist beispielsweise im Laufe der letzten Jahre in atemberaubender Weise kannibalisiert worden, so, als sei die Stellung Deutschlands in der Welt, die maßgeblich auf der Präsenz und den Operationsmöglichkeiten der deutschen Diplomatie beruht, nachrangig im Vergleich zu den deutschen Bauern oder der Kohle-, Werft- oder Stahlindustrie, die alle nach wie vor zu Lasten des arglosen Steuerzahlers subventioniert werden. Vom Kulturdialog ist im Zusammenhang mit dem Islamismus an jeder Ecke die Rede, die deutsche auswärtige Kulturpolitik ist jedoch einer Schlachtorgie unterzogen worden, die gar nicht mehr erahnen lässt, wie der vielbeschworene Dialog eigentlich in Gang gehalten werden soll.
Was das alles mit den transatlantischen Beziehungen zu tun hat? Nun, gerade weil der Bündnispartner blind und einseitig dem groben militärischen Instrument vertraut, wäre das komplementäre Angebot eines reicheren und wohlausgestatteten Mittelkatalogs für Washington besonders wertvoll. Womöglich dämmerte es den Verantwortlichen der Supermacht sogar früher oder später, dass es zu den groben Klötzen der Nationalen Sicherheitsstrategie brauchbarere Alternativen gibt und dass die viel geschmähten europäischen Verbündeten – die Deutschen an der Spitze – hier genau das zu bieten haben, was den USA abgeht. Eine solche Einsicht mag die hier zu Lande ersehnte Götterdämmerung des Neokonservatismus beschleunigen, der die Verbündeten jenseits des Ozeans so zielsicher und immer tiefer in die Sackgasse führt. Der Punkt ist jedoch, dass dieses Ergebnis ohne Mitteleinsatz nicht zu erzielen ist. Einen Einfluss auf Washington auf die billige Tour ist nun einmal nicht zu haben.
Viertens: Transatlantischer Pragmatismus. Wir wollen den Bruch mit Amerika natürlich nicht. Der Faden, der die transatlantische Gemeinschaft zusammenhält, mag unter dem Ansturm der Ideologen jenseits des Atlantiks dünner geworden sein. Reißen soll er um Gottes Willen nicht; wüster als Richard Cheney, Donald Rumsfeld, Paul Wolfowitz kann es tatsächlich kaum noch kommen.
Nach den Präsidentschaftswahlen muss es mit den transatlantischen Beziehungen vernünftigerweise weitergehen. Der Dämpfer in Irak öffnet durchaus Möglichkeiten zu engerer Zusammenarbeit, wenn auch die Stationierung deutscher Truppen in dem arabischen Land nach der Vorgeschichte auf jeden Fall ausgeschlossen bleiben muss. Kein deutscher Soldat und keine Soldatin sollten für die gravierenden Fehler und Irrtümer eines amerikanischen Präsidenten sterben müssen, vor denen ihn die deutsche Regierung nachdrücklich gewarnt hat.
Aber man kann sich pragmatisch auf gemeinsame Projekte einigen, wo dies den jeweiligen Interessen entspricht und die Wertorientierung keines der Partner verletzt. Afghanistan steht hierbei im Vordergrund. Es ist im gemeinsamen Interesse, dass dieses Land, die Brutstätte eines transnationalen Terrorismus, der jede freie Gesinnung bedroht, stabilisiert und – in einem kulturverträglichen Sinne – demokratisiert wird. Sollte dafür ein noch stärkeres deutsches Engagement notwendig werden, darf dem nichts im Wege stehen. Auch die gemeinsame transatlantische Stabilisierungsleistung auf dem Balkan verlangt nachhaltige Aufmerksamkeit, worauf gerade die Rückschläge in diesem Frühjahr schmerzlich verwiesen haben. Hinzu kommt das gemeinsame Interesse, die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen einzudämmen.
Die USA haben mittlerweile gemerkt, dass sich das irakische Schema in anderen Lagen – Nordkorea, Iran – nicht ohne dauerhaften Flurschaden anwenden lässt. Dass bringt sie näher an europäische und deutsche Positionen. Auch hier wird entscheidend sein, mögliche Differenzen auf einer europäischen, nicht einer rein nationalen Position zu artikulieren und durchzuhalten.
Solange die neokonservative Kamarilla – anders lässt sich dies kaum sagen – die Macht in Washington in den Händen hält, bleibt das transatlantische Verhältnis prekär. Aus dem gleichen liberalen Erbe der Aufklärung ziehen amerikanische Neokonservative und die deutsche (und europäische) Mehrheitsmeinung grundlegend gegensätzliche Folgerungen. Kooperation bleibt aufgrund bestimmter gleicher Sicherheitsinteressen möglich. Harmonie ist ausgeschlossen. Dies – möglichst auf europäischer Grundlage – auszuhalten, ohne in Grundsatzfragen einzuknicken oder in eine unrealistische antiamerikanische Haltung zu verfallen, bleibt die große Aufgabe deutscher Staatskunst in nächster Zeit.
Dieser Beitrag beruht auf einer Manuskriptfassung für die Sendereihe des Deutschlandfunks „Für eine bessere Außenpolitik“.
Internationale Politik 11-12, November/Dezember 2004, S. 15‑24
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