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01. März 2004

Abschied vom Unilateralismus?

Colin Powells „Strategie der Partnerschaften“

In einem viel beachteten Artikel hat Amerikas Außenminister Powell eine „Strategie der Partnerschaften“
entworfen; Harald Müller verweist auf Unterschiede in Theorie und Praxis.

Die Ausführungen des amerikanischen Außenministers Colin Powell1 erwecken Zustimmung und Sympathie. Ein äußerst wichtiger Gesichtspunkt ist hervorzuheben: Die Interessenkoinzidenz der Großmächte im Kampf gegen den transnationalen Terror, der verbleibende Interessendivergenzen – zumindest für absehbare Zeit – etwas verblassen lässt.

Tatsächlich zählt es zu den bleibenden Verdiesten Powells, die Beziehungen zu Russland, China und Indien nach dem 11. September 2001 auf eine neue Basis gestellt zu haben. Sie sind nicht konfliktfrei – Einflusskonkurrenz im Kaukasus, Taiwan und die Behandlung Pakistans bleiben jeweils Reibungspunkte. Aber ein gravierender Konflikt zwischen ihnen, der die Gefahr des Krieges in den Horizont rücken würde, besteht nicht und es gibt jetzt vielfältige Kontakte, die eine Behandlung auch der kontroversen Themen ermöglichen, ohne dass Eskalationsgefahren greifbar würden. Dies ist eine historisch neue Situation, die keinesfalls als selbstverständlich hingenommen, sondern der amerikanischen Regierung als Verdienst zugerechnet werden muss.

Liest man darüber hinaus Powells Ausführungen Wort für Wort, so ergibt sich das Bild einer Supermacht, die ihr eigenes Interesse in ihrer globalen Aufgabe erblickt, für die Welt öffentliche Güter, nämlich Sicherheit, Menschenrechte, Freiheit, Gesundheit bereitzustellen. Diese Definition von nationalem Interesse ist außerordentlich aufgeklärt, weitsichtig und human. Wer könnte dagegen sein?

Unser Problem beginnt dort, wo wir versuchen, diesen großzügigen Entwurf mit der weltpolitischen Praxis der Regierung von George W. Bush in Übereinstimmung zu bringen. Dabei fallen Reibungsflächen auf, die doch den Verdacht nähren, Powell habe hier seiner eigenen Vision freien Lauf gelassen und sie kurzerhand mit der Politik jener Regierung in eins gesetzt, der er an prominenter Stelle dient, in der er jedoch immer wieder einen sehr schweren Stand gegen durchaus anders orientierte Leitfiguren wie Donald Rumsfeld, Paul Wolfowitz oder Dick Cheney hatte.

Aber starten wir an einer verräterischen Stelle in Powells Text selbst. Dort spricht er – als Erweis der multilateralen Neigung seiner Regierung – von der Entschlossenheit, ihre Politik im Rahmen amerikanischer Allianzen durchzuführen, an erster Stelle in der NATO, aber auch in anderen, wie den UN. Nun ist auch die NATO nicht unbedingt immer der bevorzugte Partner des Pentagon gewesen, wenn man dort glaubte, die Dinge besser im Rahmen kleinerer „Koalitionen der Willigen“ angehen zu können – das recht verächtliche Beiseiteschieben des atlantischen Bündnisses im Falle Afghanistan ist aus dem Jahr 2001 noch in frischer Erinnerung.

Kahlschlag beim Völkerrecht

Eigentlich verräterisch ist jedoch die Einordnung der Vereinten Nationen unter „anderen amerikanischen Allianzen“. Denn genau das ist Weltorganisation natürlich nicht; sie ist vielmehr das repräsentative Organ der Staatengemeinschaft, in deren Sicherheitsrat das Völkerrecht die Entscheidungskompetenz über jegliche Gewaltanwendung jenseits der Selbst- und Bündnisverteidigung gelegt hat. Exakt dieser Umstand ist von der Regierung Bush mehr als von jeder anderen amerikanischen Regierung zuvor ignoriert worden. Die „Nationale Sicherheitsstrategie“ vom September 2002,2 auf die sich Powell in seinem gesamten Artikel immer wieder bezieht, erwähnt die Vereinten Nationen genau einmal – und zwar als humanitäre Hilfstruppe. Selbst Colin Powell, der gutwillige multipolare Exponent in Washington, kann sich nicht dazu verstehen, die Vereinten Nationen als das zu benennen, was sie sind.

Apropos Völkerrecht: Es kommt bei Powell überhaupt nicht vor. In der „Nationalen Sicherheitsstrategie“ erscheint es nur unter der Perspektive, wie es umzuinterpretieren und gegebenenfalls durch fortgesetzten Bruch so zu ändern ist, dass es die präventive Strategie, entstehende Risiken militärisch zu beseitigen, lange bevor sie Gefahren oder gar Bedrohungen werden, rechtfertigen kann.

Recht ist jedoch das subtilste Steuerungsinstrument, um die Handlungsrichtungen zahlreicher Akteure in komplexen Handlungssituationen zu koordinieren und im beunruhigenden Gewirr unendlich vieler Zukunftsszenarien Erwartungssicherheit über das künftige Verhalten der überwiegenden Zahl der Rechtsgenossen zu schaffen (die sich nämlich – im Inneren wie in den internationalen Beziehungen – ganz überwiegend an die Rechtsvorschriften halten). Es ist daher das unverzichtbare Instrument von „globalem Regieren“,3 gerade dann, wenn ein Weltstaat nicht in Sicht und vielleicht auch nicht erwünscht ist. Überdies bedeutet es für den Führungsstaat eine gewaltige Entlastung, weil nicht in jeder neuen Situation mit jedem neuen Partner Regeln des wechselseitigen Verkehrs neu fixiert werden müssen, sondern sich die Hegemonialmacht auf die verhältnismäßig wenigen Fälle konzentrieren kann, wo Recht in gefährlicher Weise gebrochen und Ordnung gestört wird. Die Förderung von Völkerrecht müsste also in einem Konzept des „aufgeklärten Selbstinteresses“ ganz vorn stehen.4 Stattdessen sehen wir ein Vakuum. Hier liegt der Grundfehler der neokonservativen Weltkonzeption, die in großen Teilen Gospel der Regierung Bush geworden ist.

Dieses Versäumnis ist besonders tragisch, da die von Powell zu Recht hervorgehobene relative Harmonie der Großmächte die einmalige Chance eröffnet hat, unter amerikanischer Führung die internationale Rechtsordnung zu festigen und zu vertiefen. Russland und mittlerweile auch China rufen geradezu nach der Kodifizierung sicherheitspolitischer Prinzipien. China hat hier regelrecht eine Kehrtwende gezogen, nachdem es noch zu Mitte der neunziger Jahre Bindungen nach Möglichkeit vermeiden wollte. Die Europäische Union ist sowieso äußerst rechtsfreudig. Natürlich spielen im russischen und chinesischen Fall die Kräfteverhältnisse eine wesentliche Rolle; sie fördern ohne Zweifel die Wieder- oder Neuentdeckung des Völkerrechts.

Woher die Motivation kommt, ist aber letztlich gleichgültig. Rechtliche Bindungen üben erfahrungsgemäß eine verhaltenssteuernde Wirkung jenseits der Ausgangsmotivationen aus, welche die Staaten zunächst veranlassen, sie einzugehen. Diese Situation wäre also zu nutzen, um die westlich-demokratische Vision einer rechtsgesteuerten Weltordnung voranzutreiben. Genau an diesem Punkt versagt die Regierung Bush.

Der Kahlschlag, den die Regierung Bush quer durch die verschiedenen Politikfelder im „harten“ und im „weichen“ Völkerrecht angerichtet hat, ist beispiellos.5 Am schlimmsten hat sie im Feld der Rüstungskontrolle gehaust. Der ABM-Vertrag, das Protokoll zur Biowaffenkonvention und der Teststoppvertrag fielen ihr zum Opfer. Die Ratifizierung des reformierten Vertrags über die Konventionellen Streitkräfte in Europa liegt auf Eis. Das Aktionsprogramm zum Kampf gegen den illegalen Kleinwaffenhandel hat sie verwässert. Über Weltraumwaffen will sie nicht sprechen. Die Verpflichtungen aus dem Chemiewaffenübereinkommen werden durch die Entwicklung „nichttödlicher“ Kampfstoffe verletzt.

In der Umweltpolitik seien das Kyoto-Protokoll und das Übereinkommen über Biodiversität erwähnt. In der Wirtschaftspolitik wurde die Seerechtskonvention endgültig abgelehnt. Im Bereich der Menschenrechte opponiert man gegen das Übereinkommen über Frauen- und Kinderrechte. Besonders grotesk ist die Verweigerung von Beiträgen für das Bevölkerungsprogramm der Vereinten Nationen, wo man moniert, dass vergewaltigten Minderjährigen die Abtreibung bezahlt und Heranwachsende mit dem Gebrauch von Kondomen vertraut gemacht werden; Präsident Bush zieht es vor, jungen Leuten die Enthaltsamkeit als Heilmittel gegen AIDS zu empfehlen, sehr zur Freude der christlich-fundamentalistischen Klientel der Republikanischen Partei.

Es fällt daher schwer, die Behauptung Powells ernst zu nehmen, die amerikanische Politik sei nicht unilateralistisch. Donald Rumsfeld hat dies jüngst in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung unvergleichbar drastisch zum Ausdruck gebracht. Auf die Frage, ob die Handlungsfreiheit der Staaten nicht durch „rechtliche Rahmen, Verträge, einen Verhaltenskodex“ beschränkt werden sollten, antwortete Rumsfeld: „Jedes Land sollte tun, was es für richtig hält und wird mit den Konsequenzen leben müssen. Entweder ist es danach stolz auf sich oder weniger stolz. Jedes Land hat eine andere Geschichte, eine andere Politik, eine andere Perspektive. Stört mich das? Zum Teufel, nein. Ich stehe jeden Morgen auf und nehme die Welt, wie sie ist.“6 Diese Weltsicht, die noch hinter das 19. Jahrhundert zurückfällt, ist eine Rezeptur für das Chaos.

Ein jüngeres Beispiel zeigt das Problem besonders plastisch: Die Vollversammlung der Vereinten Nationen hat die Eröffnung von Verhandlungen über einen Vertrag beschlossen, der die Markierung von Kleinwaffen verbindlich machen soll. Dies würde es erlauben, die Handelsströme dieser tödlichen Objekte zu verfolgen, die gerade in Afrika die blutigen Bürgerkriege anheizen. Darin wird übereinstimmend ein entscheidendes Mittel zur Eindämmung des illegalen Waffenhandels gesehen; bei der Abstimmung gaben die USA die einzige Gegenstimme ab. Begründung: die Kosten der Verhandlungen. Es handelt sich um sage und schreibe laut Voranschlag um 1,9 Millionen Dollar.7

Damit fällt auch ein eigenes Licht auf Colin Powells Aussage, es gebe keine Überbetonung militärischer Mittel. Nun ja; der Jahresetat des Pentagon für 2004 ist auf 401 Milliarden Dollar veranschlagt, wozu noch Sonderausgaben für die Streitkräfte in Irak und Afghanistan von ca. 50 Milliarden Dollar kommen. In der Fünfjahresplanung wird die Marke von 500 Milliarden Dollar überschritten. Damit werden die USA nach dem Wunsch ihrer Regierung in absehbarer Zeit mehr für ihr Militär ausgeben, als alle anderen Nationen zusammen, also mehr als 50% der Welt-Verteidigungsausgaben. Zieht man in Betracht, dass das Militär bei der Bekämpfung der wichtigsten Bedrohung, des transnationalen Terrorismus, nur eine begrenzte Rolle spielen kann, wird die Schieflage offenbar. In seinen Ausführungen freut sich Powell berechtigtermaßen darüber, dass das Verschwinden der Großmachtkonflikte es vermeidbar macht, „Schätze zu verschwenden“. Es fällt aber doch schwer, angesichts dieser gigantischen Rüstungsausgaben den Begriff „Verschwendung“ zu vermeiden.

Die Kosten der Alleingänge

Der amerikanische Außenminister ist zu Recht besorgt darüber, dass „die Motive der Vereinigten Staaten in einigen Ländern angegriffen“ würden. Allerdings ist das ein Euphemismus für den katastrophalsten Verfall des Ansehens der USA in der Welt, die die Geschichte verzeichnet. Dieser Verfall, von der konservativen Pew-Stiftung in regelmäßigen Umfragen minutiös dokumentiert, begann mit dem Amtsantritt Bushs und erreichte nach dem Irak-Krieg neue Tiefpunkte. Er ist am dramatischsten in der arabischen Welt, schlägt sich aber auch bei getreuen Bündnispartnern wie Großbritannien im Rückgang der Sympathie um 15 Prozentpunkte nieder.8 Die wackere Margaret Tutwiler soll nun als Goodwill-Beauftragte die Sache richten.9 Aber der Ansatz ist falsch: Es geht nicht um den bislang schlechten Verkauf guter Politik, sondern um die Unverkäuflichkeit schlechter Politik.

Das schlechte Image Amerikas weltweit zählt also zu den unerwarteten Erfahrungen, welche die amerikanische Regierung nachdenklich machen. Die noch viel greifbareren Probleme in Irak, die für die amerikanischen Soldaten so tragische Folgen haben, tun das natürlich noch viel mehr. Bush stößt an die Grenzen seines Unilateralismus. Der harsche, arrogante Ton gegenüber Frankreich und Deutschland ist milder geworden und einer (bemühten) Harmonie gewichen. Auch die Vereinten Nationen, im Frühjahr 2003 noch mit Verachtung bedacht und nach Ende des Irak-Kriegs beiseite geschoben, werden wieder umarmt. Die großzügige amerikanische Offerte für den Wiederaufbau Liberias – mehr als 200 Millionen Dollar an Hilfe plus Finanzierung des Peacekeeping – war für das Hauptquartier in New York eine sehr freudige Überraschung.10

Aber das hat seinen strategischen Grund: Kofi Annan soll Bush jetzt herauspauken aus seinem irakischen Schlamassel. Den Vereinten Nationen wird damit ein Risiko größten Ausmaßes zugemutet, das die Bush-Regierung mit ihrer hastigen und schlecht begründeten Kriegsentscheidung und dem völligen Versagen, eine sofort greifende und realisierbare Nachkriegskonzeption zu schaffen, selbst verursacht hat. Jetzt soll die Verantwortung schnellstmöglich auf die Vereinten Nationen abgeschoben werden. Es ist abzusehen, dass der innere Widerstand zur Jahresmitte nicht vorbei sein wird und die Vereinten Nationen als verantwortlicher Träger des Übergangs noch mehr ins Fadenkreuz der Terroristen rücken werden als zum Zeitpunkt des Anschlags auf ihr Hauptquartier in Bagdad im August 2003.

Es ist gleichfalls prognostizierbar, dass die vielfältigen Konflikte zwischen den das irakische Volk ausmachenden Großgruppen durch keine Verfassung kurzfristig zu befrieden sind: der Wunsch der Schiiten nach einem unierten Staat mit einer absehbaren eigenen Dominanz – die Schiiten machen 60% der Gesamtbevölkerung aus; natürlich sind Kurden und Sunniten dagegen; die Forderung der Kurden nach einer hart an Souveränität grenzende Autonomie, wogegen Schiiten und Sunniten opponieren; der Streit zwischen Kurden und Sunniten um Kirkuk und seine Umgebung mit den gewaltigen Ölfeldern; der Streit zwischen Sunniten und Schiiten um die Dominanz in der Region zwischen Basra und Bagdad sowie in Bagdad selbst, also in den gemischt besiedelten Regionen. Dabei ist von den Spaltungen innerhalb der jeweiligen Gruppierungen noch nicht die Rede. Die Vereinten Nationen werden auf ein Pulverfass gesetzt und im Zweifelsfall mit ihren Problemen allein gelassen; hinterher werden kluge Leute dann wieder vom „Versagen der UN“ reden.

Gegenwärtig jedoch hört man im politischen Diskurs der USA wenig Böses über die Weltorganisation. Im Gegenteil, alle demokratischen Bewerber strahlen geradezu UN-Euphorie aus. Zum erstenmal seit Menschengedenken wird in einem Wahlkampf ein positives Image der Vereinten Nationen gezeichnet. Dazu trägt die Aufarbeitung des Irak-Desasters bei. Und hier zeigt sich nun, was die Antiamerikanisten bei uns (die es ja wirklich gibt) nicht verstehen: die vitale Robustheit der amerikanischen Demokratie, die schon Alexis de Tocqueville so bewundert hat.

Nach dem 11. September 2001 war die politische Szene in den USA verständlicherweise wie gelähmt. Sie scharte sich hinter der Exekutive zusammen, um durch größtmögliche Loyalität die Konzentration aller Kräfte gegen die tödliche Gefahr zu erlauben. Die Opposition stellte sich willig ins Glied. Diese Stimmung hielt bis durch den Irak-Krieg hin an, obwohl sich vor dessen Beginn auf der Straße die ersten Zeichen von Protest zeigten.11

Drei Viertel der amerikanischen Bürgerinnen und Bürger waren für den Irak-Krieg, weil sie sich bedroht fühlten. David Kay, Anhänger der republikanischen Partei, von Präsident Bush eingesetzter Leiter der amerikanischen Inspektionsteams und vor dem Krieg zutiefst davon überzeugt, dass Saddam Husseins biologische und chemische Arsenale prall gefüllt und sein Kernwaffenprogramm auf einem fortgeschrittenen Stand war, hat seinen eigenen Irrtum und den der Regierung in völliger Offenheit bekannt.12 Die Einsicht, dass Irak nicht über einsetzbare Massenvernichtungswaffen verfügte, schon gar nicht über solche, die den USA hätten gefährlich werden können, das Eingeständnis, dass zwischen Saddam Hussein und Osama Bin Laden keine greifbaren Verbindungen auszumachen sind, zeigt ihre Wirkung in den USA.

Die Amerikaner, die in Europa als uninformiert, desinteressiert und unpolitisch angesehen werden, beginnen, Fragen zu stellen. Der Wahlkampf tut das Seinige dazu, dass diese Fragen nicht verstummen. Man lässt sich von der eigenen Regierung ungern belügen; man mag es auch nicht, wenn diese Regierung selbst ohne hinreichende Informationen ihre Entscheidungen trifft. Beides führt dazu, dass das Ansehen des Präsidenten im eigenen Lande zerfällt.13

Multilaterale Wende?

Der Schwenk der Regierung auf die Vereinten Nationen zu reflektiert diese Tendenz bereits, der Tenor von Colin Powells Artikel gleichfalls. Diese Bewegung ist natürlich hilfreich, um den tiefen transatlantischen Riss zu kitten – wenn auch die grundsätzlichen Divergenzen, wie Weltordnung zu gestalten sei, zwischen der neokonservativen Fraktion in der Bush-Regierung und dem Mainstream der Europäer fortbestehen bleiben. Die Einsicht dämmert, dass die Welt nicht nach Gutsherrenart zu leiten ist. In Libyen, in Iran, in Nordkorea setzen die USA heute mindestens so sehr auf Diplomatie – im Verein mit Partnern – wie auf militärischen Druck. Die Rede des Präsidenten vor der National Defense University im Februar 2004 enthielt – verglichen mit der Nationalen Sicherheitsstrategie – auffällig viele multilaterale Elemente. Das wichtigste war die Unterstützung für eine neue Sicherheitsratsresolution für den Umgang mit dem Proliferationsproblem; drei andere Vorschläge zielten auf die Stärkung des Nichtverbreitungsvertrags und der Internationalen Atomenergie-Organisation. Die übrigen enthielten neue Anregungen für die Proliferation Security Initiative, die Gruppe der nuklearen Lieferländer und die G-8, beinhalteten also gleichfalls multilaterale Initiativen.14

Es darf damit gerechnet werden, dass auch bei einem Wahlsieg George W. Bushs das Kabinett ein anderes Aussehen haben wird. Die Bewegung zurück zum Multilateralismus wird leichter werden, wenn einige Protagonisten des Unilateralismus die Beziehungen zu anderen nicht mehr belasten. Wenn die Demokraten siegen, wird dieser Trend noch stärker.

Die Vereinigten Staaten werden weiterhin ein Spieler in einer Sonderkategorie bleiben, aber sie werden wieder grundsätzlich nach den Regeln spielen. Insofern beschreibt Powells Artikel in seinen idealistischen und multilateralen Zügen nicht die jüngere Vergangenheit, sondern – hoffentlich – die nahe Zukunft.

Anmerkungen

1 Colin Powell, A Strategy of Partnerships, in:Foreign Affairs, Januar/Februar 2004, Nr.1, S. 22–34; dt. Kurzfassung: Eine Strategie der Partnerschaften, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.1.2004.

2 Die Nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten vom 17. September 2002, abgedruckt in:Internationale Politik, 12/2002, S. 113–138.

3 Dirk Messner/Franz Nuscheler, Das Konzept Global Governance. Stand und Perspektiven, Duisburg, INEF-Report 67, 2003.

4 Joseph S. Nye, The Paradox of American Power: Why the World’s Only Superpower Can’t Go It Alone, New York/Oxford 2002.

5 Jochen Hippler/Jeanette Schade, US-Unilateralismus als Problem von internationaler Politik und Global Governance, INEF Report 20, Duisburg 2003.

6 Süddeutsche Zeitung, 7./8.2.2004, S. 6.

7 Rebecca Johnson, Troubled and Troubling Times: The 2003 UN First Committee Considers Disarmament and Reform, in: Disarmament Diplomacy, Nr. 74, Dezember 2003, S. 3–11, hier S. 3, 9/10.

8 The Pew Research Center for the People and the Press; Views of a Changing World 2003, <http://peoplepress.org/reports/display.php3?Report=185&gt;.

9 Christopher Marquis, Public relations chief admits U.S. has a big image problem, in: International Herald Tribune (IHT), 6. 2. 2004, S. 5.

10   Warren Hoge, Powell and Villepin team up on Liberia, in: IHT,7./8.2.2004, S. 2.

11   Müller, Amerika schlägt zurück. Die Weltordnung nach dem 11. September, Frankfurt/Main 2003, Kap. 5.

12   Federal News Service, Inc., Hearing of the Senate Armed Services Committee. Subject: Iraqi Weapons of Mass Destruction Programm, 28.1.2004.

13   Brian Knowlton, The Kerry Momentum, in: IHT,5.2.2004, S. 1, 4.

14   The White House, Counter the Threat of WMD. Remarks by the President on Weapons of Mass Destruction Proliferation. Fort Lesley j. McNair – National Defense University;<http://www.whitehouse.gov/news/releases/2004/02/20040211-4.html&gt;.

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Bibliografische Angaben

Internationale Politik 3, März 2004, S. 77-83

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