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01. Okt. 2003

Das rasche Scheitern des Imperium Americanum

Der in Los Angeles lehrende Soziologe Michael Mann stellt die Grundannahmen der amerikanischen Regierung unter George W. Bush in Frage. Er wirft dem Präsidenten vor, aus ideologischen Gründen eine imperialistische Politik zu betreiben, der allerdings die materiellen Grundlagen völlig fehlten. Deshalb werde das Imperium Americanum das Jahr 2004 nicht überleben.

Warum ist die amerikanische Politik in Irak ein solches Desaster? Die meiste Kritik konzentriert sich auf einzelne Fehler: Nicht genügend Truppen, die falschen Truppen, die irakische Armee wurde fatalerweise aufgelöst, das Plündern nicht vorhergesehen, die Ölerwartungen waren unrealistisch usw. Zweifellos hätten 250 000 Soldaten, darunter für Polizeiarbeit ausgebildete Kräfte, einen Unterschied gemacht. Das Gleiche gilt für irakische Soldaten, die man zu Polizeikräften ausgebildet hätte. Man hätte geringfügige Verbesserungen erwarten können, wenn etliche andere Fehler nicht gemacht worden wären. Aber solche Fehler sind nur ein oberflächliches Phänomen. Das eigentliche Scheitern geht tiefer: das gesamte Unternehmen Irak war zum Scheitern verurteilt durch eine neokonservative Ideologie, die die amerikanischen Fähigkeiten absurd übertrieben, lächerliche historische Vergleiche angestellt und generell nicht verstanden hat, in welchem Jahrhundert wir leben.

Die Neokonservativen glaubten, ein „neues amerikanisches Imperium“ schaffen zu können. „Tatsache ist,“ so der Kolumnist Charles Krauthammer, „dass kein Land jemals in der Geschichte der Welt seit dem Römischen Imperium kulturell, ökonomisch, technologisch und militärisch so überlegen war.“ Robert Kaplan verglich die Vereinigten Staaten mit Rom nach dem zweiten Punischen Krieg: Sie seien eine „universale Macht“, die „kriegerische Politik“ ausüben könne, um eine globale Pax Americana zu erreichen. Die Neokonservativen in der Regierung (darunter Dick Cheney, Donald Rumsfeld, Paul Wolfowitz und Richard Perle) entwarfen diese Politik. Sie glaubten tatsächlich, dass sie  Irak erneuern, den ganzen Nahen Osten umgestalten und Terrorismus sowie Massenvernichtungswaffen eliminieren könnten. Sie waren der Überzeugung, dass solche hohen Ideale es rechtfertigten, dafür gelegentlich zu lügen. Aber dabei verstrickten sie sich in Selbstbetrug, denn sie können keines dieser Ziele erreichen. Sie haben nicht verstanden, dass dieses Jahrhundert nicht das Zeitalter der Imperien ist, und dass wirkliche Macht über ökonomische, ideologische, militärische und politische Ressourcen verfügen muss, die den USA aber  fehlen.

Die Neokonservativen ließen sich von einem einzigen Teilbereich der militärischen Macht faszinieren – der offensiven Kriegführung. Die so genannte „Revolution im Militärbereich“, die das Pentagon in den neunziger Jahren durchführte, gab den USA enormes Vertrauen in ihre Fähigkeit, jeden Feind auf dem Schlachtfeld zu schlagen. Aus der Distanz eingesetzte Feuerkraft würde leichte Siege mit wenigen amerikanischen und zivilen Opfern möglich machen. Aber Imperien gewinnen nicht nur Schlachten, sie befrieden und beherrschen danach auch Länder. Die Erfahrung vergangener Imperien zeigt, dass die Befriedung mindestens zweieinhalb Mal so viel Soldaten erfordert wie der Sieg auf dem Schlachtfeld. Das heißt, dass in Irak mindestens 250 000 Soldaten erforderlich wären. Die amerikanischen Streitkräfte zählen 1,2 Millionen Mann. Aber wenn man davon die Zahl abzieht, die für den Nachschub, das globale Netz der Militärstützpunkte, für Korea, Afghanistan usw. gebraucht wird, dann ist es für die USA schwierig, allein die derzeitige Zahl von 140 000 Mann zu unterhalten. Sie besitzen also nicht einmal die militärische Stärke eines Imperiums. Es wird nicht von großen Machtrivalen bezwungen, sondern von wenigen bewaffneten Männern eines armen Landes mit gerade mal  24 Millionen Einwohnern.

Politisch sehen wir die Fehlhandlung, Multilateralismus mit Lippenbekenntnissen zu würdigen – aber nicht den der Vereinten Nationen oder Europas. Diese bleiben in den Augen der amerikanische Führung weiter irrelevant, während die US-Politik zerbröselt. Da spielt es auch keine Rolle, dass jene natürlich relevant wären, wenn es wieder eine echte antiterroristische Politik oder eine gegen Massenvernichtungswaffen gäbe. Aber die „neuen Imperialisten“ scheinen nicht zu wissen, dass vergangene Imperien Kolonien mit Hilfe lokaler politischer Verbündeter befriedet haben, die in der Lage waren, einheimische Truppen und Polizeikräfte zu mobilisieren.  Die britische Armee in Indien war gewöhnlich rund 250 000 Mann stark, aber nur 50 0000 bis 70 000 Soldaten davon waren Briten, der Rest war indisch. Es gab nur 1200 imperiale britische Verwaltungsbeamte. In den anderen europäischen Kolonien in Asien und Afrika war es ähnlich. Einheimische Verbündete waren immer die besseren Friedensstifter, Polizisten, Richter und Verwaltungsbeamte, weil sie die lokalen Verhältnisse kannten und die bodenständigen Netzwerke kontrollierten. Der „unilaterale“ Fehler der USA war es, in ein Land einzumarschieren, in dem sie keine lokalen Verbündeten hatten – außer den Kurden, die dort schon organisiert waren. Deshalb gibt es in den nördlichen Kurdengebieten auch eine vernünftige Entwicklung, aber eben nur dort. Die Exiliraker hatten keinerlei politische Organisationen vor Ort, die Schiiten nutzen die ihrigen nur für eigene Zwecke, und die wesentlichen Sunni-Organisationen scheinen feindselig eingestellt zu sein. Wann immer die USA zu Zeiten des Kalten Krieges im Ausland intervenierten, hatten sie substanzielle örtliche Unterstützung, zumindest von der Geschäftswelt und den grundbesitzenden Klassen. Irak wäre eine historische „Premiere“ als Land, das ohne lokale Alliierte befriedet worden wäre. Leider wird diese Premiere jedoch ausfallen.

Das erstaunt nicht im 21. Jahrhundert. Die Epoche der Imperien lief nach 1918 aus und endete in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts (bis auf das russische Imperium, das sich länger hielt). Sie wurde ersetzt durch die Epoche der Nationalstaaten, heute die politisch dominante Regierungsform der Welt, und den Nationalismus, die dominante Ideologie. Frühere Imperien mussten sich nicht mit eingeborenen Nationen oder Nationalismen auseinander setzen. Indische oder afrikanische Kollaborateure wurden nicht als Verräter ihrer Nation betrachtet, weil es diese Nationen nicht gab. In Wahrheit verschaffte die Kollaboration ihnen sogar beträchtliche Ressourcen, die sie unter den Einheimischen verteilen konnten. Als der indische und afrikanische Nationalismus sich herauszubilden begannen, war dies das Ende der europäischen Imperien.

Irak ist nur ein fragiler, zerrissener Nationalstaat. Das Maß an Misstrauen zwischen Schiiten und Sunniten, zwischen Säkularen, Konservativen, Islamisten und den einzelnen Stämmen ist so groß, dass die Bush-Administration glaubte, mittels Divide et impera regieren zu können. Aber der Nationalismus ist zu stark. Die meisten Irakis misstrauen den fremden Besatzern noch mehr. Irak den Irakern: ihr kleinster gemeinsamer Nenner ist, dass sie alle den Amerikanern misstrauen und sie so schnell wie möglich loswerden wollen.

Die ideologische Erwartung der Neokonservativen war, dass die USA als Befreier der irakischen Nation begrüßt werden würden. Das war bizarr, denn die amerikanische Politik konnte die Iraker nur vor den Kopf stoßen. Der „Krieg gegen den Terrorismus“ diskriminiert Muslime; die USA  stehen offensichtlich auf der Seite Israels gegen die Palästinenser. Sie haben in Afghanistan rund 10 000 Muslime getötet, ohne dass sich die Situation im Land signifikant gebessert hätte. Sie haben zahllose Lügen erzählt über die angeblichen Massenvernichtungswaffen und Terroristen in Irak. Die Iraker vermuten nicht ohne Grund, dass die USA an ihr Öl wollen, zumal der „Cheney-Report“ über den amerikanischen Energiebedarf im Jahr 2001 Saddam Hussein als das zentrale Hindernis bezeichnete. Darin wurde befürwortet, ihm mit allen nötigen Mitteln entgegenzutreten, „einschließlich der militärischen Intervention“. Al-Dschasira und andere Fernsehsender verbreiten diese Widerlegungen amerikanischer Propaganda täglich in irakischen Wohnzimmern, versehen mit drastischen Videobildern von muslimischen Opfern und grinsenden Amerikanern oder Israelis.

Aber auch die eigenen Erfahrungen der Irakis widerlegen die amerikanische Ideologie. Amerikanische Waffen haben in den vergangenen sechs Monaten wahrscheinlich mehr als 15 000 Iraker getötet, eine Todesrate, die Saddam seit 1991 nicht erreicht hat. Verängstigte amerikanische Soldaten zücken weiterhin ihre mörderischen Waffen und töten täglich einige Irakis. Elektrizität, Wasser und Öl fließen immer noch nicht, Krankenhäuser und Schulen bleiben zerstört. Die amerikanischen Behauptungen, dass die Vereinigten Staaten  Frieden, Stabilität und Demokratie bringen, haben mit der Realität nichts zu tun. Wenn an den Checkpoints „Stopp!“ gerufen wird, ist das der hilflose Ausdruck der amerikanischen Unfähigkeit, den Irakern irgendeine ideelle Botschaft zu übermitteln.

Dieses Chaos wird wahrscheinlich anhalten. Einige Wiederaufbauarbeiten finden statt, und außerhalb der sunnitischen Kerngebiete gibt es nur sporadisch Gewaltakte. Es wird wahrscheinlich weiterhin ein bis zwei amerikanische Tote pro Tag geben. Die Iraker werden weiterhin viel mehr zu leiden haben. Denn das reiche Amerika stellt für seine Aufgabe nicht einmal genügend finanzielle Mittel zur Verfügung. Die für 2003 und 2004 bereitgestellten 21 Milliarden Dollar sind nur ungefähr die Hälfte der benötigten Gelder, um die dem Land zugefügten enormen Schäden zu reparieren. Andere Länder werden dazu – wie in Afghanistan – wenig beisteuern, und auch der amerikanische Kongress könnte bei der nächsten Mittelanforderung für Irak aufmucken. Abgeordnete murren schon jetzt , dass die Iraker gefälligst selbst für ihren Wiederaufbau zahlen sollten. Womit? Sollen wir ihr Öl in Zahlung nehmen? Dann würde der Kaiser ganz ohne Kleider dastehen.

Der neue Imperialismus scheitert an seiner ersten Prüfung, weil seine ideologischen, ökonomischen, politischen und sogar militärischen Grundlagen ungenügend sind. Dies ist nicht „Empire lite“, wie manche meinen, sondern überhaupt kein Imperium. Schlimmer noch, es wird einen Rückschlag an anderer Stelle geben. Neue junge Terroristen, die die Politik der USA kreiert hat, strömen nach Irak, diesen zerfallenen Staat. Iran und Nordkorea sind jetzt davon überzeugt, dass Saddam Hussein besiegt wurde, weil er keine Massenvernichtungswaffen besaß. Sie beeilen sich deshalb, sich selbst solche zuzulegen, solange die USA in Irak feststecken und auf die Vereinten Nationen angewiesen sind, um überhaupt irgendeinen Druck auf sie auszuüben. Es fällt schwer, in der jüngeren Vergangenheit eine Außenpolitik irgend eines Staates zu entdecken, die so absurd, unehrlich und kontraproduktiv war wie diese. Ich bezweifle deshalb, dass dieses Amerikanische Imperium länger halten wird als bis November 2004 – obwohl noch offen ist, ob die irakischen Kämpfer oder die amerikanischen Wähler ihm den Todesstoß versetzen werden.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 10, Oktober 2003, S. 52 - 56

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