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01. Jan. 2003

Das große Europa

Nach dem Gipfel von Kopenhagen

Die Erweiterung der Europäischen Union führt neue Staaten und Gesellschaften in die Gemeinschaft, die ihre eigene Geschichte und ihre besonderen Erfahrungen mit einer schwierigen Transformation mitbringen. Henning Schröder stellt vier Neuerscheinungen vor, die sich mit der Integration der Staaten Mittel- und Osteuropas in ein „großes Europa“ befassen.

Die Erweiterung der Europäischen Union führt Staaten und Gesellschaften in die Gemeinschaft, die nach 1945 einen anderen Entwicklungspfad durchlaufen haben als die ursprünglichen Mitgliederländer, die durchweg dem „Westen“ zuzuzählen sind und deren Wirtschaft am Markt und deren politische Systeme an demokratischen Vorstellungen orientiert waren. Die neuen Mitglieder haben diesen Weg erst nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und dem Zusammenbruch des „sozialistischen Lagers“ einschlagen können. Sie bringen ihre Geschichte und ihre besonderen Erfahrungen mit einer schwierigen Transformation in die Union ein, deren Identität davon ganz gewiss berührt werden wird.

Zugleich bleibt eine Reihe europäischer Staaten weiterhin vor der Tür des „erweiterten Europas“, die direkte Nachbarn und Partner sind und als solche in ein politisches Konzept integriert werden müssen. Europa gewinnt mit der Erweiterung ein neues Gesicht. Insofern ist die Auseinandersetzung mit den osteuropäischen Staaten inner- und außerhalb der Europäischen Union eine Aufgabe der Politik, der Öffentlichkeit und der Politikwissenschaft. Dazu hat uns der Dresdner Politikwissenschaftler Wolfgang Ismayr jetzt ein nützliches Werkzeug an die Hand gegeben. Das Handbuch, das er herausgegeben hat, stellt die politischen Systeme aller Staaten Ost- und Südosteuropas dar und bezieht dabei auch die Nachbarn Türkei und Zypern mit ein.

Die einzelnen Beiträge wurden von namhaften Länderspezialisten verfasst – z.B. stammt der Artikel über Russland aus der Feder von Margareta Mommsen, derjenige über die 1992 neuverfasste Bundesrepublik Jugoslawien von Duöan Reljib – und folgen einem einheitlichen Aufbau. Systematisch werden Staatsbildung und Systemtransformation, Verfassungsentwicklung, politische Institutionen, Wahl- und Parteiensystem, Interessenverbände, Massenmedien, Rechtssystem und Grundsätze der Außen- und Europa-Politik abgehandelt. Ein weiterführendes Literaturverzeichnis, das jedes Länderkapitel abschließt, eröffnet die Möglichkeit zu vertiefter Beschäftigung. Die einzelnen Abschnitte, die gut mit Übersichtstabellen und grafischen Darstellungen ausgestattet sind, vermitteln nicht nur eine präzise Vorstellung von den politischen Strukturen, sie zeigen auch die Probleme auf, mit denen die Demokratie in den einzelnen Staaten noch zu kämpfen hat.

Der Herausgeber selbst versucht in der Einleitung einen länderübergreifenden Vergleich, der auch einen Bezug zu den politischen Systemen in Westeuropa herstellt. Mit Recht weist Ismayr darauf hin, dass die politische Entwicklung auch durch die sozioökonomische bedingt ist, wenn er feststellt: „Eine Zunahme der Zufriedenheit mit der aktuellen Demokratie und des Vertrauens in die demokratischen Institutionen und möglicherweise auch der Partizipationsbereitschaft wird bis auf weiteres von ökonomischen und sozialen Verbesserungen abhängen.“ (S. 62). Dies muss aber eben auch Aufgabe der Politik der Europäischen Union gegenüber diesen Ländern sein.

Über den aktuellen Stand der sozioökonomischen Situation gibt das „Transformationsbarometer Osteuropa“ Auskunft, das die „Forschungsstelle für empirische Sozialökonomik“ jetzt zum fünften Mal vorgelegt hat. Die Kölner Forscher führen regelmäßig in einer Reihe von Transformationsländern – in der Regel in Polen, der Tschechischen Republik, Ungarn, Russland und der Ukraine – Erhebungen durch, um den institutionellen Wandel zu messen. Unter Institutionen verstehen sie im Sinne der Institutionenökonomie ein System von Einstellungen, Werten, eingeübten Verhaltensweisen sowie die „selbst auferlegten Beschränkungen der Individuen, welche die Spielregeln einer Gesellschaft darstellen“, durch die der Charakter der Wirtschaftsordnung und des politischen Systems entscheidend geprägt wird. Übergang zur Marktwirtschaft muss mit einem Wandel dieser – formellen und informellen – Spielregeln einhergehen. Dass dies nicht eben einfach ist, wird aus den Umfragewerten deutlich, die die Autoren anführen. So stimmt ein hoher Anteil der Befragten (in Polen sind es 50–60%, in Russland 70–75%) der Aussage zu, „Entscheidungsfreiheit führt nur zu Chaos“, und negiert damit ein entscheidendes Merkmal marktwirtschaftlichen Handelns. Eine Mehrheit bezeichnet große Einkommensdisparitäten als „unerträglich“ (Polen 58%, Russland 73%) und fordert eine staatliche Preiskontrolle (Polen 66%, Russland 85%). Und wenn 85% der befragten Russen, 88% der Ukrainer und immerhin 50–60% der Polen dem Satz zustimmen: „Die wirtschaftlichen Probleme unseres Landes können nur durch einen starken Mann gelöst werden“, so kann man füglich an der Stabilität des demokratischen Konsenses in diesen Ländern zweifeln.

Korruption, das Reformklima und die Haltung zur EU-Mitgliedschaft sind weitere Themen der Erhebung, die zeigt, wie weit der Weg zu einer konsolidierten Demokratie in vielen Transformationsländern noch ist. Allerdings wird aus den Daten auch deutlich, dass der Wertewandel in Polen sehr viel rascher vor sich geht als etwa in Russland und in der Ukraine. Die größere Nähe zum Westen und die Aussicht auf einen baldigen EU-Beitritt spielen hier sicher eine Rolle.

Die Perspektive der gemeinsamen EU-Mitgliedschaft hat das Deutsche Polen-Institut in Darmstadt und das polnische Deutschland- und Nordeuropa-Institut in Stettin zu einem interessanten Experiment veranlasst. Ausgehend davon, dass Deutschland wie Polen ein starkes Interesse daran haben, die künftige gemeinsame Osteuropa-Politik der Europäischen Union mitzugestalten, führten sie im Juni 2001 Politiker und Wissenschaftler aus Polen, Deutschland und mehreren anderen europäischen Ländern zusammen, um Grundlagen einer europäischen Außenpolitik gegenüber dem Europa „jenseits von Europa“ zu diskutieren. Die Ergebnisse dieser Tagung liegen nun in Form eines Sammelbands vor, der in drei großen Abschnitten die deutsche und die polnische Perzeption der Entwicklungen in Russland, der Ukraine und Weißrussland vorstellt. Ein viertes Kapitel befasst sich mit der Osteuropa-Politik und der Osteuropa-Forschung beider Länder.

Die Einzelbeiträge und die Aufzeichnung der Diskussion vermitteln einen Eindruck von der Intensität des Diskurses, den Polen und Deutsche hier miteinander führen. Dabei scheint es in der Substanz der Analyse nur geringe Unterschiede zu geben. Bei der Beurteilung der Entwicklungen in Weißrussland und der Ukraine mit ihren Defiziten im Bereich von politischer und ökonomischer Transformation sind sich die Autoren nahezu einig. Bei der Diskussion der Rolle Russlands indes sind Irritationen spürbar, die sich nicht so sehr aus unterschiedlichen Politikanalysen ergeben, als vielmehr aus der Unsicherheit darüber, wieweit die andere Seite noch tradierten Vorurteilen anhänge. Die Befürchtung, es gäbe eine polnische „Russophobie“ oder aber ein deutsches Sonderinteresse an deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen, wirkte in der Diskussion nach, selbst wenn die Beiträge der Experten solche Annahmen keineswegs begründeten. Aber gerade in der Erörterung solcher Perzeptionen erweist sich der Wert des Buches, das darauf setzt, einen Diskurs in Gang zu bringen, der durch sachbezogene Auseinandersetzung die Basis für die Formulierung einer gemeinsamen europäischen Politik schafft. Und mit diesem spannenden Band haben beide Institute einen Beitrag dazu geleistet.

Den Versuch, die Beitrittsländer in die Diskussion über die Zukunft der Europäischen Union einzubeziehen, macht auch der von Martin Brusis und Janis A. Emmanouilidis im Namen der „Thinking Enlarged Group“ herausgegebene Sammelband. Diese Gruppe, die vom Centrum für angewandte Politikforschung in München initiiert wurde, hat Experten aus Mitgliedstaaten der EU und Beitrittsländern in einem Diskussionsprozess über die Zukunft der Europäischen Union zusammengeführt. Die Beiträge zu diesem Band decken ein breites Themenspektrum ab: Die Bedeutung von Nizza aus der Perspektive der Kandidatenländer wird ebenso behandelt wie Grenzfragen, fiskalische Solidarität in der erweiterten Union und die „finalité“ der Gemeinschaft. Diese Analysen – mit unterschiedlichen Schwerpunkten aus verschiedenen Blickwinkeln geschrieben – münden in ein gemeinsames Strategiepapier, das das Ergebnis des von der Gruppe initiierten Diskussionsprozesses zusammenfasst und den Kern des Bandes darstellt. Das Papier setzt sich dafür ein, die Ost-West-Lücke im europäischen Diskurs zu überwinden und gemeinsam ein Zukunftskonzept zu entwerfen.

Drei Themen stehen dabei im Vordergrund: zunächst die weitere Demokratisierung der EU-Strukturen, die durch Bürgerbeteiligung, den Verfassungsvertrag und die Stärkung der Rolle der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments vorangetrieben werden soll; zweitens die Schaffung einer umfassenden Sicherheit, die auch die Interessen der neuen Mitglieder integriert und die direkten Nachbarn der erweiterten Union sinnvoll einbindet; und drittens der Aspekt der Solidarität, d.h. des gleichberechtigten Zusammenwirkens aller Mitgliedstaaten zur Stärkung der Gemeinschaft. In der Orientierung auf ein politisches Handeln, das die Interessen und Sorgen der neuen Mitglieder einbezieht, liegt die Stärke des Bandes.

Wolfgang Ismayr (Hrsg.), Die politischen Systeme Osteuropas, Opladen: Leske + Budrich 2002, 916 S., 39,90 EUR.

Wolfgang Franzen/Hans Peter Haarland/ Hans-Joachim Niessen (Hrsg.), Transformationsbarometer Osteuropa 2001, Frankfurt am Main/New York: Campus 2001 (= Schriftenreihe der Forschungsstelle für empirische Sozialökonomik e.V., Band 6), 191 S., 39,90 EUR.

Dieter Bingen/Kazimierz Wóycicki (Hrsg.), Deutschland – Polen – Osteuropa. Deutsche und polnische Vorüberlegungen zu einer gemeinsamen Ostpolitik der erweiterten Europäischen Union, Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2002 (=Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt, Band 16), 369 S., 26,00 EUR.

Martin Brusis/Janis A. Emmanouilidis (Hrsg.), Thinking Enlarged. The Accession Countries and the Future of the European Union, Bonn: Europa Union Verlag 2002 (Munich Contributions to European Unification, Band 7), 162 S., 23,00 EUR.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar 2003, S. 60 - 63

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