Das gespaltene Gedenken
Eine gesamteuropäische Erinnerungskultur ist noch nicht in Sicht
Ökonomisch geht der Prozess der EU-Osterweiterung zwar voran. Doch immer deutlicher zeigt sich, dass die jahrzehntelange Teilung sich bis heute auf die unterschiedlichen westlichen und östlichen Mentalitäten auswirkt. Nicht nur die Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Stalinismus, sondern auch das aktuelle Verhältnis zu den USA zeigt die kulturellen Gräben, die zwischen Osten und Westen nach wie vor bestehen.
Vor zwei Jahren, im Mai 2004, sind Polen, Ungarn, Tschechien, Slowenien, die Slowakei, Estland, Lettland, Litauen sowie Zypern und Malta offiziell der EU beigetreten. Länger als zehn Jahre währten die Verhandlungen über die Osterweiterung der EU. Doch Freude und Begeisterung löst dieser historische Schritt heute kaum noch aus. Allzu lange wurde die Rückkehr der Ostmitteleuropäer nach Europa verzögert und verschleppt, die Hürden für den Beitritt wurden über die Jahre immer höher geschraubt. Darüber sind die Bilder von den friedlichen Revolutionen von 1989, die der jahrzehntelangen kommunistischen Herrschaft den Garaus bereiteten und die Teilung Europas beendeten, fast in Vergessenheit geraten. Ökonomisch ist die Wiedervereinigung Europas inzwischen schon recht weit gediehen, doch politisch und kulturell, gar mental, steckt der Einigungsprozess noch in den Kinderschuhen. Das Desaster um die europäische Verfassung hat die Begeisterung gegen Null sinken lassen.
Die Gründerväter und -mütter der Europäischen Union sahen in dem Projekt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs einst die Antwort auf die totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts – auch wenn es bis 1989 eine westeuropäische Angelegenheit blieb. Was ist aus dem antitotalitären Gründergeist geworden, jener Idee, die der Uniformierung, der Monopolisierung, der Gleichschaltung und dem Fanatismus des Totalitarismus mit einem Europa der Vielfalt und Freiheit, des Pluralismus und der Toleranz antworten wollte? Er ist offensichtlich in den Mühen der Ebene verloren gegangen.
In gewisser Weise füllt das europäische Einigungsprojekt eine Leerstelle aus, die die Verdrängung der Traumata und unglücklichen Erinnerungen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der jeweiligen nationalen Geschichte hinterlassen hat. Der Europa-Gedanke diente deshalb nicht zuletzt als Ersatz für jene nationalen Identifikationen, die in der Vergangenheit so tiefe Wunden geschlagen hatten. Die Anerkennung der in Jalta vorgenommenen Aufteilung des Kontinents und der auf beiden Seiten der neuen Grenze bestehende Wunsch, die jüngste Vergangenheit zu vergessen und einen neuen Kontinent zu schaffen, prägten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Vorstellungen von Europa. Der Preis war nicht zuletzt eine Hypermnesie im Hinblick auf die Verbrechen des Nationalsozialismus und eine Amnesie im Hinblick auf die Verbrechen des Kommunismus.1 Die Verzerrung, Sublimierung und Instrumentalisierung der Erinnerung an die Kriegserfahrungen bescherte der Nachkriegszeit eine äußerst fragwürdige Identität. Denn sie orientierte sich an einer im Bewusstsein der europäischen Öffentlichkeit letzlich unnatürlichen und unhaltbaren Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Nach 1989 ist das Gedächtnis wieder erwacht und das Verdrängte kehrt zurück. In der Kollision der verschiedenen Erinnerungskulturen geraten nationale Selbstbilder in Bewegung, Mythen erodieren und andere verfestigen sich wieder neu. In jedem Fall haben Debatten begonnen, die an Tabus der jeweiligen Nationalgeschichte rühren und den offiziell beschworenen Zustand des versöhnten und einigen Europas hinterfragen. Doch von einem antitotalitären Konsens zwischen Ost und West, gar einem europäischen Gedächtnis, in dem die aufgespaltenen Erinnerungen aufgehoben wären, sind wir noch sehr weit entfernt.
Vergangenheitspolitischer Dissens
Die Erinnerung an Holocaust und Gulag teilt Europa immer noch in West und Ost. Das haben die unterschiedlichen Reaktionen auf die Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 2005 ebenso gezeigt wie ein Jahr zuvor die heftige Ablehnung, die der ehemaligen lettischen Außenministerin Sandra Kalniete entgegenschlug: Zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse provozierte sie 2004 einen Eklat, weil sie das NS-Regime und den Kommunismus in einem Atemzug nannte. Darin offenbart sich ein fundamentaler vergangenheitspolitischer Dissens. Für den Westen ist der Holocaust negativer Gründungsmythos Europas, während der Osten darin eine Relativierung der kommunistischen Verbrechen sieht.
Folgen zeitigt diese Spaltung der Erinnerung nicht nur in den Debatten über die Vertreibungen im letzten Jahrhundert. Sie prägt auch das unterschiedliche Verhältnis gegenüber den USA, wie der Streit über den Irak-Krieg zeigte: Ein tiefer Riss ging durch Europa. Ausgerechnet im Jahr der Osterweiterung entbrannte ein Streit zwischen dem „neuen“ und „alten“ Europa über Ausübung und Eindämmung amerikanischer Macht. Während die einen Europa als Gegengewicht zu Amerika etablieren wollten, pochten vor allem die Ostmitteleuropäer auf die transatlantische Allianz unter amerikanischer Führung. Ihr Sicherheitsbedürfnis nach 50 Jahren sowjetischer Herrschaft sehen sie in der NATO (Hard Power) eher befriedigt als in der EU (Soft Power), die Konflikte durch Prosperität und Interdependenz einzudämmen sucht.
Für die Neumitglieder bedeutet die EU vornehmlich ökonomische Sicherheit, da sie politisch noch nicht als gleichwertige Partner anerkannt sind. Demgegenüber sind die NATO und die USA für sie die Garanten militärischer Sicherheit. Darüber hinaus versprechen sich die Ostmitteleuropäer von einer stabilen Allianz mit Amerika eine ausgleichende Wirkung im asymmetrischen Verhältnis ihrer Länder zu Frankreich und Deutschland, die sich als Führungsmächte im wiedervereinigten Europa profilieren möchten. Die entstandene Achse Paris-Berlin-Moskau stieß bei den neuen Demokratien angesichts ihrer Erfahrungen mit dem Sowjetimperium auf umso heftigere Kritik.
Umgekehrt misstraut das „alte Europa“ der Verlässlichkeit und Loyalität der Neumitglieder gegenüber der EU und attackiert ihre „Vasallentreue“ gegenüber den USA. Erst allmählich wird verstanden, dass Europa nach 1989 tatsächlich in Bewegung geraten ist. Dieser Streit berührt die Grundpfeiler des politischen Selbstverständnisses der Europäer und verweist auf die Spuren und Prägungen, die die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts bis heute hinterlassen haben.
Bereits in den neunziger Jahren haben die ethnischen Säuberungen des Diktators Slobodan Milosevic und die damit heraufbeschworenen Kriege im ehemaligen Jugoslawien in ganz Europa Debatten über die Erbschaft der totalitären Diktaturen und die Folgen für das eigene politische und nationale Selbstverständnis ausgelöst. Gestritten wurde über die Verharmlosung der Verbrechen des Kommunismus, über die Zulässigkeit eines Vergleichs totalitärer Regime und die Legitimation militärischer Gewalt gegenüber Despoten.
Einen „Verrat der Intellektuellen“ mussten sich György Konrád, Václav Havel und Adam Michnik entgegenhalten lassen, als sie es wagten, den Anti-Amerikanismus und westeuropäischen Pazifismus gegenüber dem Irak-Krieg zu kritisieren. Seltsamerweise wurde der Krieg gegen den Irak, längst bevor er begann, geächtet und verdammt, während Putins jahrelanger Krieg in Tschetschenien, der schon hundertausende Menschenleben gekostet hat, nicht der Rede und Proteste wert gewesen ist. Jürgen Habermas, Jacques Derrida, Adolf Muschg, Fernando Savater, Gianni Vattimo und Umberto Eco sahen hingegen in den antiamerikanischen Friedensmanifestationen die lang ersehnte Geburtsstunde einer europäischen Öffentlichkeit. Endlich befreie sich das europäische Volk von amerikanischer Vormundschaft, war in einem seltsam ideologisch regressiven Ton zu vernehmen. In diesem Emanzipationsakt sollte sich laut Habermas und Derrida ein Kerneuropa konsolidieren, das sich als Gegenmacht zu Amerika begreift – ohne die beigetretenen Ostmitteleuropäer.
Die Teilung Europas als „Strafe für Auschwitz“
Offensichtlich haben sich viele Intellektuelle immer noch nicht davon verabschiedet, die Teilung Europas als Strafe für Auschwitz zu rechtfertigen. Dieser Logik entspricht die immer noch herrschende Asymmetrie in der Erinnerung an den braunen und den roten Terror und das Tabu, Nationalsozialismus, Faschismus und Kommunismus vergleichend in den Blick zu nehmen. Neben dem beschwörenden Satz „Nie wieder Auschwitz“ hört man bis heute kein ebenso emphatisches „Nie wieder Gulag“. Schon Mitte der neunziger Jahre sorgte das „Schwarzbuch des Kommunismus“ des französischen Historikers Stéphane Courtois für Aufruhr beim westlichen Publikum: ein umfassendes Kompendium der Verbrechen, die in diesem Jahrhundert im Namen des Kommunismus begangen wurden. Die weltweite Opferbilanz beläuft sich auf 80 bis 100 Millionen Menschen, die mit dem Leben bezahlt haben: durch Genickschuss oder Kampfgas, Zwangsarbeit oder Deportation, politisch geplante Hungersnöte oder weil sie Opfer des „politicide“ wurden: Nach nationalen und sozialen Kriterien gab Moskau festgelegte Quotierungen für „Klassenfeinde“ vor und besorgte so die Auslöschung oder Vertreibung bestimmter Teile der Gesellschaft. Stéphane Courtois wurde daraufhin eine Relativierung des Holocausts vorgeworfen.
Ähnlich erging es zuvor seinem Kollegen François Furet, der in seinem Buch über „Das Ende der Illusion“ der erstaunlich lange anhaltenden Faszination und Weichzeichnung des Kommunismus nachging. Nationalsozialismus und Kommunismus waren für ihn totalitäre Ideologien, die in einer konfliktuellen Komplizenschaft zueinander standen. Mit dem Sieg der Sowjetunion über Hitler triumphierte dann ideologisch ein Antifaschismus, der die Wahrnehmung der kommunistischen Verbrechen systematisch ausblendete.
Gegenseitige Relativismusvorwürfe
Als Sandra Kalniete 2004 auf der Leipziger Buchmesse die totalitären Regime des Nazismus und des Kommunismus als „gleichermaßen verbrecherisch“ bezeichnete, brach erneut ein Sturm der Entrüstung los. Das Tabu des Vergleichs hat seine Wirkkraft immer noch nicht verloren. Just zum Zeitpunkt der EU-Osterweiterung wies die lettische Ex-Ministerin in ihrer Rede darauf hin, über 50 Jahre habe man die Geschichte Europas geschrieben, ohne dabei die osteuropäischen Erfahrungen zur Kenntnis zu nehmen. „Nur wenige Menschen hatten die Kraft, der bitteren Wahrheit ins Auge zu blicken, insbesondere der Tatsache, dass der Terror (nach der Befreiung vom Nationalsozialismus) in der einen Hälfte Europas weiterging, wo hinter dem Eisernen Vorhang das Sowjetregime weiter Genozide an den Völkern Osteuropas verübte und in der Tat auch am eigenen Volk.“ Obwohl sie keineswegs behauptete, die totalitären Regime des letzten Jahrhunderts seien identisch, wurde ihr prompt vorgeworfen, den Holocaust zu relativieren. Salomon Korn, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, verließ unter Protest den Saal. Die Juden hätten – so Korn –, wäre es ihnen freigestellt gewesen, allemal lieber den „roten Knüppel“ erlitten, als im Gas zu ersticken. Sandra Kalniete unterschlage zudem die baltische Kollaboration mit den Nationalsozialisten.
Unter der Hand findet hier eine kuriose Hierarchisierung der Opfer statt, verbunden damit, den Osteuropäern vorzuschreiben, wie sie gefälligst zu erinnern haben. In den Reaktionen auf Sandra Kalnietes Rede manifestiert sich sehr prägnant die Spaltung der Erinnerungen an die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Für den Westen ist der Holocaust spätestens seit der Stockholmer Konferenz der Staats- und Regierungschefs im Januar 2000 in den Rang eines negativen Gründungsmythos Europas erhoben worden. Hier im Westen fürchtet man offensichtlich, dass dieser Grundkonsens im Osten nicht geteilt wird. Dieser wiederum sieht in dem Primat der Erinnerung an den Nationalsozialismus eine Relativierung der Verbrechen des Kommunismus. Westeuropa bezieht immer noch sein Selbstverständnis aus dem negativen Bezug auf Hitler, und Osteuropa darüber hinaus aus seinem negativen Bezug auf Stalin. Eine halbierte Geschichte der Opfer der totalitären Regime in Europa sei allerdings – so Sandra Kalniete – selbst ein letztes Unrecht, das die Gewaltherrschaft hervorgebracht habe.
Freiheit ist unteilbar
Dass die Erinnerung an Holocaust und Gulag Europa nach wie vor in Ost und West spaltet, zeigte erneut der Streit um den 60. Jahrestag des Kriegsendes. Als sich am 9. Mai letzten Jahres auf Einladung von Wladimir Putin die Regierungschefs in Moskau versammelten, blieben einige Stühle aus Protest leer. Denn im Unterschied zu Westeuropa war der 8. März 1945 für die baltischen und ostmitteleuropäischen Länder keineswegs ein Feiertag und der Beginn des Wegs in die Freiheit und die Demokratie. Nach dem Ende des nationalsozialistischen, völkermordenden Terrorregimes erwartete sie für die nächsten 45 Jahre der Terror des sowjetischen Okkupationsregimes. Den Jahrestag nahm denn auch der russische Präsident zum Anlass, die Auflösung der Sowjetunion als die größte geopolitische Katastrophe des vergangenen Jahrhunderts zu bezeichnen. Der amerikanische Präsident George W. Bush reiste nicht auf direktem Wege zu den Feierlichkeiten nach Moskau. Er machte sehr pointiert erst Station im lettischen Riga, um dort über die Mitschuld und Verantwortung der Siegermächte für die Teilung Europas zu sprechen. Das hatte man zuvor noch von keinem amerikanischen Präsidenten gehört.
Den 60. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald am 10. April 2005 nahm der ehemalige Häftling und Schriftsteller Jorge Semprún ebenfalls zum Anlass, wieder einmal auf diesen wunden Punkt hinzuweisen: „Hoffen wir, dass bei der nächsten Gedenkfeier in zehn Jahren, 2015, die Erfahrung des Gulag in unser kollektives Gedächtnis eingegliedert worden ist. Hoffen wir, dass neben die Bücher von Primo Levi, Imre Kertész oder David Rousset auch die Erzählungen von Warlam Schalamow gerückt werden. Das würde zum einen bedeuten, dass wir nicht länger halbseitig gelähmt wären, zum anderen aber, dass Russland einen entscheidenden Schritt auf dem Weg in die Demokratisierung getan hätte.“
Mit dem Beitritt der Ostmitteleuropäer und der baltischen Länder ist Bewegung und Unruhe in die bis dato westlich dominierte europäische Erinnerungskultur gekommen. Der Weg zu einem gemeinsamen Gedächtnis wird indes noch von vielen Turbulenzen und Streitigkeiten begleitet sein. Aber vielleicht sind wir in zehn Jahren tatsächlich so weit, endlich zu begreifen, dass die Freiheit schon immer unteilbar gewesen ist.
Dr. ULRIKE ACKERMANN, geb. 1957, ist Sozialwissenschaftlerin und freie Publizistin. Letzte Buchveröffentlichungen: „Sündenfall der Intellektuellen – Ein deutsch-französischer Streit von 1945 bis heute“ (2000) und (als Herausgeberin) „Versuchung Europa. Stimmen aus dem Europäischen Forum“ (2003).
- 1 Vgl. Ulrike Ackermann: Sündenfall der Intellektuellen. Ein deutsch-französischer Streit von 1945 bis heute, Stuttgart 2000.
Internationale Politik 5, Mai 2005, S. 44 - 48