Das fragile Bündnis
Driften Europa und die USA auseinander?
Im März dieses Jahres wuchs die NATO von 19 auf 26 Mitglieder, und im Mai öffnete die EU für
zehn neue Staaten die Tür zum „europäischen Haus“. Beide Erweiterungen wurden, gewiss zu
Recht, als historisch bezeichnet. Dirk Nabers stellt drei Neuerscheinungen vor, die ungeachtet
dieser Erfolgsgeschichte die Zukunft beider Organisationen mit wenig Optimismus betrachten
und vor einer wachsenden Entfremdung zwischen Europa und den Vereinigten Staaten warnen.
Fast 15 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer erreichte die Verwirklichung der paneuropäischen Idee in diesem Frühjahr ihren vorläufigen Höhepunkt. Am 29. März wuchs die NATO von 19 auf 26 Mitglieder, und am 1. Mai öffnete die EU gar für zehn neue Staaten die Tür zum „europäischen Haus“. Beide Erweiterungen können wahrlich als historisch bezeichnet werden.
Wer diesen einzigartigen Prozess der Erweiterung zweier der weltweit bedeutendsten internationalen Organisationen verstehen will, wird an der jüngst vom deutschen Politikwissenschaftler Frank Schimmelfennig vorgelegten Monographie nicht vorbeikommen. In empirischer wie theoretischer Hinsicht haben wir es hier mit einer bemerkenswerten Publikation zu tun. Die ursprünglich in Darmstadt als Habilitationsschrift vorgelegte Arbeit ist in mehrfacher Hinsicht innovativ. Erstens erweitert sie die seit den neunziger Jahren geführte Debatte um die Nützlichkeit soziologischer und linguistischer Ansätze für die Theoriebildung in den Internationalen Beziehungen (IB), die in Deutschland stark auf die Theorie kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas zugeschnitten war. Zweitens wird durch den Hinweis auf die strategische Nutzbarmachung von Gemeinschaftsregeln bei den Erweiterungsprozessen von NATO und EU ein Mittelweg zwischen Rationalismus und Konstruktivismus beschritten. Über diese Vorgehensweise wird dem Leser drittens eine neue empirische Perspektive auf die Vergrößerung von europäischer und transatlantischer Gemeinschaft ermöglicht. Denn auch hier besitzt die Arbeit ihre Stärken: Sie besticht durch fundierte Quellenarbeit und bietet damit ein Beispiel exzellent recherchierter Zeitgeschichte.
Das grundlegende Ziel des Buches ist die Analyse der 1997 erfolgten Entscheidungen über die Erweiterung von NATO und EU. Vier Fragen stehen dabei im Mittelpunkt: Warum strebten die späteren Beitrittsländer schon früh eine Mitgliedschaft in der NATO respektive der EU an? Warum erfolgte letztlich so rasch die Entscheidung zur Erweiterung der Organisationen? Wie kamen diese Entscheidungen zustande, und wie ist die Auswahl der Beitrittsländer durch die alten Mitglieder der NATO und EU zu erklären?
Schimmelfennig entwickelt seine Argumente entlang der in den IB seit Ende der achtziger Jahre dominierenden metatheoretischen Debatte zwischen Rationalismus und Konstruktivismus. Die zentrale Frage rationalistisch inspirierter IB-Theoretiker lautet dabei, wie Staaten und andere internationale Akteure zu kooperativen Ergebnissen kommen können, die ihren eigenen, individuellen Nutzen mehren. Welches Kooperationsergebnis sollten internationale Akteure anstreben? Wie sollten die Kooperationsgewinne verteilt werden?
Der Konstruktivismus tut sich schwerer mit der Formulierung eindeutiger Fragestellungen und der Entwicklung von Hypothesen. Er ist zunächst nichts anderes als eine Sozialtheorie über die Rolle von Wissen und die Erfahrbarkeit sozialer Realität. Konstruktivisten fordern das Studium von Intersubjektivität und sozialem Kontext; sie verweisen auf die regelgeleitete Natur der Gesellschaft. Es ist für konstruktivistische Vertreter der Disziplin längst nicht klar, worum es in der Debatte mit dem Rationalismus hauptsächlich geht: Wird hier die Rolle von Ideen oder kulturellen Faktoren in Abgrenzung zu materiellen Interessen diskutiert? Oder sind es Normen und Identitäten („Logik der Angemessenheit“), die hier instrumentellen Interessen von Akteuren („Logik der Konsequentialität“) gegenüberstehen?
So überrascht es nicht, dass Schimmelfennig bei der Erklärung von Erweiterungsprozess und -ergebnis auf der Grundlage traditioneller rationalistischer und konstruktivistischer Ansätze ein doppeltes Puzzle aufdeckt: Die in der NATO und der EU festgeschriebenen Gemeinschaftsregeln waren in der Lage, die Aufnahme neuer Mitglieder voranzutreiben, obwohl individuelle nationalstaatliche Interessen dem entgegenstanden. Nach Ansicht des Verfassers widerspricht dieser Befund klassischen konstruktivistischen Ansätzen, die von einer Konstituierung nationalstaatlicher Interessen durch bestimmte kollektive Identitäten und Regeln ausgehen. Die am Verhandlungsprozess über die Erweiterung der beiden Organisationen beteiligten Staaten wären eben nicht einer „Logik der Angemessenheit“ oder „Logik des Argumentierens“ gefolgt, vielmehr hätte sich der Erfolg des Erweiterungsprozesses über „rhetorisches Handeln“ ergeben.
Rhetorisches Handeln – verstanden als die strategische Nutzung regelbasierter Argumente im Diskurs – überbrückt den Gegensatz zwischen rein interessenorientiertem Handeln der Nationalstaaten und dem institutionalisierten Gemeinschaftsgedanken von EU und NATO. Denjenigen Mitgliedern der EU, die sich gegen die Vollendung der europäischen Idee aussprechen, kann von Befürwortern einer Erweiterung das Gemeinschaftsideal vorgehalten werden.
In vier logisch aufeinander abgestimmten Kapiteln entwickelt Schimmelfennig diesen Gedanken. Die ersten beiden Teile stellen die rationalistische der konstruktivistischen Perspektive der Erweiterungen gegenüber. So ist der Autor in der Lage, seinem Puzzle ein erstes empirisches Standbein zu verschaffen. Da es ihm um die Generalisierbarkeit der Ergebnisse geht, weitet er seine empirische Grundlage im nächsten Schritt einerseits auf frühere Erweiterungsrunden, andererseits auf eine dritte Institution – den Europarat – aus. Die statistische Auswertung seiner Fallstudien belegt die Vermutung, dass insbesondere rationalistische Theorien nicht geeignet sind, die vollzogenen Erwei- terungsschritte adäquat zu erklären. Trotz anders gerichteter Interessen wichtiger Akteure wurde die Gemeinschaftsidee letztlich verwirklicht; daraus könne jedoch noch nicht die Stichhaltigkeit konstruktivistischer Hypothesen abgeleitet werden.
So stellt sich in dieser Darstellung schließlich das rhetorische Handeln quasi als dritter Weg dar. Einmal angenommen, dass sich die Nationalstaaten des „alten Europas“ und der „alten NATO“ nicht wie im kommunikativen Handlungsmodus durch die Kraft des besseren Arguments überzeugen ließen, sondern sozialer Druck zu den Erweiterungen im Frühjahr 2004 geführt habe, dann ist die Legitimität des gefundenen Konsenses äußerst brüchig. Schenkt man dem Hauptargument Schimmelfennigs Glauben, so steht die Zukunft beider Organisationen, insbesondere diejenige der NATO, auf tönernen Füßen.
Kaum optimistischer blicken zwei andere jüngst erschienene Bücher in die Zukunft des Bündnisses. Lawrence S. Kaplans kompaktes Werk „NATO United, NATO Divided: The Evolution of an Alliance“ hat wie bereits frühere Arbeiten des angesehenen Autors die wachsende Entzweiung zwischen Europa und den Vereinigten Staaten zum Gegenstand. Diese sei immer ein Kennzeichen der transatlantischen Zusammenarbeit gewesen, habe sich aber nach dem 11. September 2001 noch verschärft. Zu einem ähnlichen, jedoch vielseitigeren Ergebnis kommt das von Jolyon Howorth und John T.S. Keeler herausgegebene Buch über das sicherheitspolitische Zusammenspiel zwischen Europäischer Union und Nordatlantikpakt sowie die Zukunft der europäischen Autonomie in der Verteidigungspolitik. Sehr informative Kapitel über die Entwicklung der europäischen Krisenreaktionskraft, die wachsende militärische Kluft zwischen den Vereinigten Staaten und ihren Verbündeten, den Konflikt in Kosovo und die Erweiterung der NATO im vergangenen Jahrzehnt geben dem Band einen kohärenten und gut lesbaren Charakter.
Frank Schimmelfennig, The EU, NATO and the Integration of Europe. Rules and Rhetoric. Cambridge: Cambridge University Press 2004, 323 S., 29,80 EUR.
Lawrence S. Kaplan, NATO United, NATO Divided: The Evolution of an Alliance. Westport: Greenwood Publishing Group 2004, 176 S., 24,95 $.
Jolyon Howorth und John T. S. Keeler (Hrsg.), Defending Europe: The EU, NATO, and the Quest for European Autonomy. New York: Palgrave Macmillan 2003, 256 S., 24,96 EUR.
Internationale Politik 6, Juni 2004, S. 101-103
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